In einer mehr als 28 Jahre währenden Tradition findet zum Ende jedes Jahres das Bochumer Wissenschaftliche Symposium für Psychotherapie der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum statt. Pandemiebedingt musste das Symposium 2020 erstmalig ausfallen, konnte jedoch glücklicherweise im November letzten Jahres stattfinden.

Wie in den letzten Jahren verfolgte auch das Symposium 2021 das Ziel, aktuelle intra- und auch interpsychische Themen nicht nur aus der Perspektive der Psychotherapie zu diskutieren, sondern unterschiedliche Fachrichtungen zu dem Leitthema zu Wort kommen zu lassen, wie die Soziologie, die Philosophie und die Literaturwissenschaften. Nur selten begegnen sich diese Fächer, einschließlich ihrer Vertreterinnen und Vertreter. Umso interessanter und spannender ist nicht nur für die einzelnen Referentinnen und Referenten, sondern insbesondere für die Symposiumsteilnehmer die Möglichkeit, „über den Tellerrand zu schauen“ und jenseits des eigenen Arbeitsfeldes Forschungsergebnissen, Meinungen und Hinweisen nachgehen zu können.

Mit dem Leitthema „Beschleunigung und Entschleunigung“ befasste sich das 28. Symposium, welches am 05. und 06.11.2021 von fast 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Hörsaalzentrum des St. Josef Hospitals der Ruhr-Universität Bochum besucht wurde. Mit insgesamt 8 Vorträgen knüpfte es an Themen der zurückliegenden Symposien an wie „Scham und Schuld“ (2019), „Liebe und Partnerschaft“ (2018), „Veränderbarkeit – Ändern – Verändern – Anders“ (2017), „Individuum und Individuation“ (2016), „Bindung und Bindungsforschung“ (2015) und „Gedächtnis“ (2014).

Unter dem Titel Beschleunigung – die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne reichte der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa 2004 seine Habilitationsschrift an der Universität Jena ein; diese entwickelte sich zu einem wichtigen Werk der Zeitsoziologie und erreichte eine beachtliche Leserschaft. Im Vordergrund steht die Hypothese, dass die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in den Industriegesellschaften eine Eigendynamik entwickelt hat, die unter der universell geltenden Maßgabe der Effektivität Unstetigkeit und Hektik (schneller, höher, weiter) nach sich zieht. Der Beschleunigung wird die Entschleunigung entgegengesetzt. Dabei ist nicht an Langsamkeit als Selbstzweck gedacht, sondern als „angemessene Geschwindigkeit“, nicht nur bezogen auf sich selbst, sondern auch auf den Mitmenschen und die Natur.

Die Antipoden „Beschleunigung“ und „Entschleunigung“ haben in den letzten Jahren zu einer größeren gesellschaftlichen Diskussion geführt, nicht nur das Individuum betreffend, sondern ganze Gesellschaften bzw. Gesellschaftssysteme. Entschleunigung als Ausdruck des Mehr an Zeit für sich, die Familie und die Freunde geht mit Achtsamkeit einher, ein mittlerweile geläufiger Begriff in der Psychotherapie und in der Ratgeberliteratur. Demgegenüber stehen kompetitive Gesellschaftssysteme und eine umfassende Digitalisierung als Garant für die Erschließung neuer Märkte.

Das Symposium fand viel Interesse nicht nur bei Ärzten, Psychologen und Pädagogen, sondern auch in den Medien. So widmet der Deutschlandfunk dem Symposium erneut mehrere Podcasts (www.deutschlandfunknova.de). Ich würde mich freuen, wenn die hier nunmehr als Artikel verfassten Vorträge auch bei den Leserinnen und Lesern der Zeitschrift Die Psychotherapie Interesse fänden. Auch möchte ich an dieser Stelle den Herausgebern für ihr großzügiges Angebot danken, dem Symposium ein ganzes Sonderheft zu widmen.

Bochum, den 15.03.2022

Stephan Herpertz