Einen Nachruf auf Prof. Dr. phil. Peter FürstenauFootnote 1 kann ich nicht ausgewogen, vernünftig oder abgeklärt schreiben. Ich kann ihn nur sehr persönlich schreiben. Herbst 1988. Seit etwa einem Jahr bin ich Oberarzt des Funktionsbereiches Psychotherapie am Niedersächsischen Landeskrankenhaus Göttingen. Ich habe mir eine Sitzung Einzelberatung bei Fürstenau geleistet, nicht gerade billig, aber sehr preiswert. Eine Viertelstunde lang lamentiere ich, dass mein Engagement als innovativer Oberarzt zu wenig Resonanz erfährt, häufig geradezu verpufft. Ich unterstelle vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern passiven Protest, Desinteresse, Unengagiertheit: Halt Bremser im Öffentlichen Dienst. Als Fürstenau mir antwortet, überschüttet er mich zunächst mit Lob und Bestätigung. Validierung in voller Dröhnung, würden das Verhaltenstherapeuten heute nennen. „Jaah, lieber Herr Sachsse, das ist ja alles ganz, ganz priiima. Und dass Sie Oberarzt geworden sind, das haben Sie wirklich verdient. Das war eine sehr kluge Entscheidung Ihrer Klinik. Offenkundig arbeiten Sie da an einer richtig guten Klinik. Und dass Sie jetzt alles neu machen wollen, das finde ich auch ganz priiima. Wenn es keine innovativen Oberärzte gibt, dann tut sich ja nichts. Dann ist ja Stillstand. Dann entwickelt sich gar nichts, und gerade ein Landeskrankenhaus kann Entwicklung richtig gut gebrauchen. Wenn sich da was entwickeln würde, wäre das wirklich richtig priiima.“ Recht hat er! Da sitzt einer, der mich versteht und richtig sieht. Mir ist warm ums Herz. Ich bin seelisch weit offen, ein mildes Strahlen auf dem Gesicht. Fürstenau fährt fort, lächelnd und immer noch sehr freundlich zugewandt: „Und dann machen Sie die schwierige, ja richtig ungerechte Erfahrung, dass Ihre Mitarbeiter, wir können auch sagen Untergebenen, das gar nicht honorieren. Die ziehen nicht mit. Die bleiben stehen, die wollen sich gar nicht entwickeln. Die wollen offenkundig so einen traditionellen, altertümlichen Oberarzt, der nicht immer sagt ‚Das bringen wir jetzt erst mal ins Team, in die Gruppe‘, sondern der selbst entscheidet und bestimmt, wo es lang geht, an dem man sich orientieren kann.“ Jetzt, wo ich seelisch so weit offen bin, trifft mich das doch etwas schmerzlich. Ich höre sehr genau zu, meine Mentalisierung (Gab es den Begriff damals eigentlich schon? Hat der da schon wieder was gemacht, was es noch gar nicht gab?) der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wuchs und wuchs, ich bin insgesamt aber mit mir immer noch sehr zufrieden. Einige Minuten später stehe ich vor der Tür, gehe eine schöne Düsseldorfer Allee entlang und frage mich: Ulrich, was machst du da eigentlich für einen Stuss? Was ich wirklich gedacht habe, veröffentliche ich nicht. Was entnehme ich seiner website?

Peter Fürstenau ist 1930 in Berlin geboren, hat Philosophie, Soziologie und Gräzistik in Berlin und Frankfurt studiert und 1956 promoviert. Zunächst war er wissenschaftlicher Assistent und Dozent für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Berlin, 1962–1973 Mitarbeiter am Zentrum für psychosomatische Medizin des Fachbereiches Humanmedizin der Universität Gießen. Habilitation für Psychoanalyse und Soziologie 1969, Professur als Abteilungsvorsteher, ab 1973 nebenamtlich Honorarprofessor der Universität Gießen. 1977–2016 arbeitete Fürstenau in seinem privaten Institut in Düsseldorf mit seinem lösungsorientiert psychoanalytisch-systemischen Konzept als Lehranalytiker, Supervisor, Coach und Unternehmensberater. Fürstenau war umfassend gebildet und ausgebildet. Er war Philosoph, Hochschullehrer, Professor, Psychoanalytiker. Seine historische Bedeutung hat Fürstenau aber eindeutig als Lehrer, Berater, Coach und Innovator. Nach 1992 erschienen in rascher Folge seine Bücher „Zur Theorie psychoanalytischer Praxis“, „Entwicklungsförderung durch Therapie. Grundlagen psychoanalytisch-systemischer Psychotherapie“ und „Psychoanalytisch Verstehen, systemisch Denken, suggestiv Intervenieren“, die bei Klett-Cotta und dem Psychosozial Verlag sämtlich noch als Klassiker erhältlich sind – völlig zu Recht. Diese Bücher haben die damalige Psychotherapie-Landschaft nachhaltig verändert, die damals noch von der traditionellen Psychoanalyse dominiert war. Sehr viele Professuren für Psychotherapie, Psychosomatik, Psychologie, Psychowasauchimmer waren von Psychoanalytikerinnen oder Psychoanalytikern besetzt. Das ist Geschichte, die Zeiten ändern sich. Sicherlich gibt es nur wenige damals psychoanalytische, heute psychodynamische Forscherinnen und Forscher, Therapeutinnen und Therapeuten in den Feldern Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, Behandlung von Trauma-Folgestörungen, angewandte Psychoanalyse, Gruppentherapie und Paartherapie, Psychodynamische Psychotherapie allgemein, die nicht wenigstens einige Seminare und Kurse bei Fürstenau besucht haben. Eine Standardintervention von ihm ist mir noch klar im Gedächtnis: Eine Psychoanalytikerin stellt eine Psychoanalyse in seiner Gruppen-Supervision vor und beklagt, dass diese Psychoanalyse seit Monaten einen Stillstand mit gemeinsamen Ohnmachtsgefühlen hätte, vermutlich wegen der tiefen, negativen Mutter-Übertragung auf die Psychoanalytikerin. Fürstenau: „Jaah, ich bin da ja ganz Ihrer Meinung: Es ist unverzichtbar, dass negative Übertragung und Ohnmacht gemeinsam in der Psychoanalyse gehalten, ertragen, containt werden – aber doch höchstens für 5 Minuten, bitte schön! Ich weiß auch wirklich nicht, ob diese Studentin im letzten Semester ihres Studiums eher eine Arbeit an den frühen Mutter-Erfahrungen benötigt, oder ob es doch besser um ihre letzten Klausuren gehen sollte.“ In der Psychoanalyse der damaligen Zeit galt die Förderung einer möglichst „tiefen“ negativen Mutter-Übertragung mit langem Schweigen und gemeinsam erlittener Ohnmacht als Premium-Psychoanalyse, weil der Wirksamkeits-Mythos bestand, dass Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker in konkordanter Gegenübertragung ihre „frühgestörten“ Patientinnen und Patienten gesund leiden sollten. Dass dies heute nicht mehr diskutabel, sondern Geschichte ist, ist wesentlich auch Fürstenau zu verdanken. Bei traditionellen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern war Fürstenau damals extrem unbeliebt. In einem psychoanalytischen Artikel wurde Fürstenau als „Psychopädagoge“ etikettiert – damals eine vernichtende Abwertung. Auch das ist Geschichte. Die Zeiten ändern sich, und wir uns in ihnen? Nein. Fürstenau hat viele von uns geändert. Dadurch hat er die Zeiten geändert. Ich bin glücklich über diese Änderungen. Für alle psychodynamischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die psychoanalytische Theorie nicht mehr anketten wollten an eine höher frequentierte Psychoanalyse im Liegen hat Fürstenau die Theorie zur Verfügung gestellt, damit quasi die theoretisch fundierte Erlaubnis für ihr therapeutisch sinnvolles Handeln gegeben und eine alternative therapeutische Identität zur traditionellen psychoanalytischen Identität ermöglicht.

Ich weiß, dass sehr viele Menschen ihm dafür dankbar sind. Nach langer, schwerer Krankheit ist Peter Fürstenau im März 2021 zu Hause im Kreise seiner Familie verstorben. Ich werde ihm nicht nur ein ehrendes Gedenken bewahren. Fürstenau ist mir ein inneres Objekt und wird es bleiben.

Ulrich Sachsse, April 2021