Als die Herausgeber der Zeitschrift Psychotherapeut, motiviert durch einige aktuelle Beiträge zum Thema (Jacobi 2020; Haun et al. 2020), in die Planung eines Themenschwerpunktheftes zu den psychosozialen Folgen der durch die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) ausgelösten Pandemie eintraten, waren die meisten vermutlich der Meinung, dass diese globale Pandemie mit dem Erscheinen des Heftes längst der Vergangenheit angehören dürfte. Diese Einschätzung war – wie wir nun wissen – ein großer Irrtum. Die verschiedenen Wellen der Infektion, die auch anfangs scheinbar so mustergültige Länder wie die BRD dann doch heftig trafen, haben dazu geführt, dass unser Alltagsleben nach wie vor sehr stark durch die Pandemie bestimmt wird. Mittlerweile – nach über einem Jahr Leben mit COVID-19 – können wir auch viel besser einschätzen, mit welchen Langzeitkonsequenzen auf verschiedensten Ebenen wir infolge dieser Seuche rechnen müssen. Ein Teil dieser Folgethemen wird in diesem Heft explizit diskutiert.

Den Einstieg in das Thema machen 2 Übersichtsarbeiten über die psychosozialen Aspekte der COVID-19-Pandemie.

In der ersten Arbeit von Bernhard Strauß et al. werden zunächst die psychische Gesundheit und Konsequenzen für die Psychotherapie fokussiert. In den Übersichten wird darauf hingewiesen, dass diese angesichts der Aktualität der Geschehnisse nur „vorläufig“ sein können, und dass sich möglicherweise eine ganze Reihe von jetzt diskutierten Ergebnissen verändern, relativieren, aber auch bestätigen wird. Im Kontext neuropsychiatrischer Probleme ist sicher Letzteres der Fall: Wenn man beispielsweise eine neuere Publikation von Taquet et al. (2020) betrachtet, die aus einer gigantischen Stichprobe von 70 Mio. elektronischen Krankenakten 62.354 Fälle mit COVID-19-Infektionen untersuchten, zeigt sich, dass durch diese Erkrankung das Risiko für psychische Störungen im Sinne einer Erstdiagnose im Vergleich zu anderen Krankheiten deutlich erhöht war. Hier bestätigt sich also ein Trend bezüglich der Folgen der Infektion und der damit verbundenen Veränderungen. Zu diesen gehören v. a. die Erhöhung der sozialen Distanz, Quarantäneerfahrungen, Schulschließungen etc., deren (negative) psychosozialen Konsequenzen ebenfalls bereits in einer ganzen Reihe von konsekutiven Studien der letzten Wochen und Monate repliziert wurden.

Im zweiten Teil der Übersicht stehen Themen der öffentlichen Gesundheit und gruppenpsychologische Aspekte der Pandemie im Blickpunkt: Die öffentliche und politische Diskussion um den Umgang mit der Pandemie hat immer wieder Kritik hervorgerufen. Diese besteht u.a. darin, dass nach nun so langer Zeit eine sehr viel bessere Antizipation und Planung von Problemen erfolgt sein könnten. Vor allen Dingen wurde der gesamte psychosoziale Bereich öffentlicher Gesundheitsmaßahmen viel zu wenig berücksichtigt, da die Diskussion doch sehr stark von mathematischen Modellen und virologischer Expertise bestimmt wird. Dabei – auch dies zeigt der zweite Teil der Übersicht – hätte man vieles, auch die ambivalenten Reaktionen der Bevölkerung, im Vorfeld aufgrund durchaus reichhaltig vorhandener psychologischer Literatur zu Pandemien sehr viel besser vorhersagen und begleiten können.

Die Pandemie konfrontiert uns aus gruppenpsychologischer Sicht mit einem Paradoxon: Aus der Public-Health-Perspektive wird eine möglichst große Kontaktreduktion empfohlen, die auf der anderen Seite aber dazu beiträgt, dass eigentlich heilsame soziale Erlebnisse und Begegnungen auf ein Minimum reduziert werden, obwohl sie stressreduzierend und damit sogar „immunisierend“ wirken könnten. Dieses Paradoxon wird aus gruppenpsychologischer Sicht diskutiert und wurde soeben auch von einer Literatin treffend charakterisiert. In einem Interview mit der Süddeutsche Zeitung (vom 06.02.2021) zu ihrem (ebenfalls mit Bezug zur Pandemie geschaffenen) Buch Trost sagt Thea Dorn: „Die technologischen Widerstandskräfte gegen das Schicksal sind robust wie nie, die seelischen Widerstandskräfte aber schwinden. Auch jetzt verbieten wir uns doch das meiste: Nähe, Konzerte, Feste. Und das, weil wir das Virus um jeden Preis in den Griff bekommen wollen. In gewisser Weise sind wir dabei, Selbstmord aus Angst vor dem Tod zu begehen.“ (Dorn 2021).

Eine weitere Übersicht von Christiane Eichenberg fokussiert auf die Onlinetherapie, die in Zeiten von Corona sicherlich eine Hochzeit erfährt und einen Aufschwung, der möglicherweise auch die psychotherapeutische Landschaft nach einem Abflauen der Pandemie verändern wird. Pia Lamberty und Roland Imhoff, ihres Zeichens Vertreter*innen der Sozialpsychologie, sind unserer Einladung gefolgt, einige wichtige Aspekte von Verschwörungserzählungen im Kontext der Pandemie zusammenzufassen. Pia Lamberty und Roland Imhoff geben auch Hinweise dafür, wie man diese Verschwörungserzählungen möglicherweise entkräften kann, da diese vermutlich ja auch in den Behandlungszimmern von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zunehmend auftauchen und eine Rolle spielen werden.

Die Originalarbeiten dieses Heftes beziehen sich auf Gruppierungen, die möglicherweise besonders betroffen sind, von der Pandemie als solcher und von den Maßnahmen, die dagegen unternommen wurden, nämlich Kinder und Jugendliche als potenzielle Opfer von familiärer Gewalt, Familien mit psychisch erkrankten Mitgliedern sowie Risikofamilien und deren sozialen Netzwerke. So beschäftigen sich Michael Kölch und Vera Clemens auf Basis empirischer Daten mit Partnerschaftsgewalt und deren Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche. Olaf Reis et al. gehen den Bewältigungsformen mit den Anforderungen der Pandemie in Familien mit psychisch erkrankten Mitgliedern nach. Wie sich die Pandemie auf soziale Netzwerke niederschlägt, untersuchen Andre Knabe et al. Schließlich behandelt ein Beitrag von Johanna Schröder et al. aus dem Hamburger Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie die Frage, wie sich die Sexualität während der COVID-19-Pandemie verändert hat. In der Rubrik »Behandlungsprobleme« greift eine AutorInnengruppe die vergangenes Jahr von Haun et al. (2020) diskutierte Thematik der Videokonsultationen wieder auf und zeigt, dass ein beträchtlicher Teil der Patienten durch die neue Technik (noch) nicht erreicht wird.

Wir antizipieren bzw. befürchten, dass wir möglicherweise in gar nicht allzu langer Zeit das Thema der psychosozialen Konsequenzen der COVID-19-Pandemie noch einmal aufgreifen müssen, wenn wir nämlich dann noch sehr viel besser einschätzen können, was das vergangene Jahr, die nun folgende Zeit und die Erfahrungen damit mit uns, mit unseren Patientinnen und Patienten, dem Gesundheitssystem und der Gesellschaft tatsächlich angerichtet haben.

Fürs Erste sind wir froh, dass wir sehr interessante Beiträge zusammentragen konnten, die dieses Thema aktuell, sicher aber auch punktuell, dennoch hoffentlich diskussionsanregend darstellen, wofür wir allen an diesem Schwerpunktheft Beteiligten herzlich danken möchten.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern, dass sie gesund bleiben, und hoffen auf eine baldige Rückkehr zur „Normalität“.

Bernhard Strauß und Carsten Spitzer