In der deutschen Richtlinienpsychotherapie besteht nach wie vor, im Kontrast zu vielen anderen Gesundheitssystemen, die Möglichkeit, kassenfinanzierte Langzeitpsychotherapien (LZT) durchzuführen. Dabei sind die Definitionen sehr divers, wie lang eine LZT eigentlich ist. Gabbard (2010) definiert aus US-amerikanischer Perspektive, dass eine Therapie, die länger als 24 Sitzungen oder 6 Monate andauert, als LZT bezeichnet werden kann. Dies steht nicht wirklich im Einklang mit der deutschen Richtlinienpsychotherapie, bei der 25 Stunden als Kurzzeittherapie (KZT) gelten. Für die psychodynamische LZT liegen Definitionen zwischen 3 Monaten und 20 Jahren vor (Lamb 2005). Psychotherapieforscher haben zur Vereinheitlichung vorgeschlagen, als LZT diejenigen Therapien zu bezeichnen, die 50 Sitzungen umfassen und mindestens ein Jahr andauern (Crits-Christoph und Barber 2000). Die Psychotherapierichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) schließlich definiert eine LZT über eine Sitzungsdauer von mindestens 45 Sitzungen.

Kurzzeit- vs. Langzeittherapie

Die deutsche Richtlinienpsychotherapie hält aktuell noch gegen den Trend der internationalen Gesundheitssysteme, Psychotherapien immer stärker als KZT anzubieten, wie es z. B. in Großbritannien der Fall ist, unter Maßgabe der Leitlinien des National Institute for Health and Care Excellence (NICE). Allerdings zeigt die Praxis der Umsetzung der deutschen Richtlinienpsychotherapie ebenfalls einen deutlichen Überhang der KZT: Eine Auswertung der Daten von 385.885 Patienten der 17 kassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland, die zwischen 2009 und 2012 eine Psychotherapie erhielten, zeigte, dass 70 % der Patienten eine reine KZT erhalten, wobei die Mehrzahl das Kontingent von 25 Stunden nicht voll ausnutzte (Multmeier und Tenckhoff 2014). Die Autoren schlussfolgern, dass die Nichtausnutzung der Kontingente auf einen verantwortungsvollen Umgang mit gesundheitsbezogenen Ressourcen und die Durchführung sehr erfolgreicher KZT verweisen könnte. Nicht zuletzt könnte der Trend zur KZT jedoch auch mit dem Gutachterverfahren in Verbindung gebracht werden, da der Psychotherapeut von der Gutachterpflicht befreit wird, nachdem er 30 KZT ausgeführt hat, und das aufwendige Antragsverfahren sich vereinfacht.

Es stellt sich die Frage nach der Wirkung längerer Therapien auf das Therapieergebnis. Hier stehen sich 2 Wirkmodelle gegenüber. Im Dosis-Wirkung-Model (z. B. Orlinsky et al. 2013) wird davon ausgegangen, dass die Wirkung durch die Dosis bestimmt wird, d. h., eine höhere Dosis führt zu einem höheren Effekt. Hierbei „flacht“ die Veränderungskurve üblicherweise „ab“, also höhere Veränderungen werden in den frühen Sitzungen erreicht, und in späteren Sitzungen erfolgen nur mehr geringere zusätzliche Veränderungen. Dazu im Kontrast stehen die „Good-enough-level“-Modelle (Baldwin et al. 2009), die umgekehrt die Dosis aus der gewünschten Wirkung bestimmen, d. h., Patienten und Therapeuten einigen sich auf das Ende, sobald hinreichende Veränderungen erzielt wurden. Allerdings scheint sehr unklar, welche Veränderungen als hinreichend zu betrachten sind, und auch, ab wann oder wodurch eine erreichte Veränderung, z. B. in der Symptomatik, nachhaltig wird. Ebenso unklar scheint die Frage der differenziellen Indikation für LZT: Welche Patienten brauchen eine LZT und für welche reicht eine KZT aus, um nachhaltige Verbesserungen zu erreichen? Und anhand welcher Merkmale ließe sich eine solche differenzielle Indikation stellen? Ziemlich sicher wird dies nicht anhand der Hauptsymptomatik möglich sein.

Bedeutsamkeit der Langzeittherapie

Das vorliegende Psychotherapeut-Heft zu LZT soll daher etwas Licht in das Dunkel der Bedeutsamkeit der LZT bringen. Dazu haben wir deutsche Psychotherapieforscher versammelt, die einerseits den Forschungsstand aus psychodynamischer und verhaltenstherapeutischer Sicht darstellen sowie andererseits aus psychoanalytischer und neurobiologischer Sicht etwas Konzeptionelles zur Bedeutung der Länge und der Zeit in einer Therapie darstellen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt überdies auf 5 deutschen Psychotherapiestudien, die sich der Untersuchung der LZT zentral widmen.

Forschungsstand aus psychodynamischer, verhaltenstherapeutischer und psychoanalytischer Sicht

Im Beitrag von Johannes Mander et al. wird deutlich, dass die internationale Therapieforschung der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) im Bereich der KZT bei verschiedenen Störungen große Therapieeffekte und auch Nachhaltigkeit nachweist. Allerdings wurden hier vorrangig Patienten mit Einfachdiagnosen untersucht, sodass die Wirksamkeit sich nicht auf Praxisbedingungen mit den häufigen Mehrfachdiagnosen übertragen lässt. Des Weiteren arbeiten die Autoren heraus, dass die Befundlage für die Wirksamkeit der LZT in der KVT unzureichend ist. Besonders bei der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, die eine längere Behandlungsdauer brauchen, können daher keine Empfehlungen für die optimale Dauer bzw. Sitzungszahl einer KVT ausgesprochen werden. Selbiges gelte für die achtsamkeitsbasierten Ansätze in der KVT, für die ebenfalls aufgrund der geringen empirischen Evidenz keine Dosisempfehlungen vorliegen. Daher empfehlen sie für die KVT die Durchführung von Studien mit hoher externer Validität (z. B. durch Aufnahme von Patienten mit Mehrfachdiagnosen), um das Verhältnis der optimalen Dosis und Wirkung unter Praxisbedingungen besser zu verstehen.

Sven Rabung und Falk Leichsenring geben erstmals einen deutschsprachigen Überblick über die Evidenz zur psychodynamischen LZT. Dafür werten sie die Überblicksarbeiten systematisch aus und kommen zu dem Schluss, dass die psychodynamische LZT den weniger intensiven oder kürzeren Therapieformen in den meisten untersuchten Ergebnisvariablen überlegen ist und sich in diesem Zusammenhang auch als kosteneffizient erweist. Trotz der Evidenz wird die Effektivität der psychodynamischen LZT immer wieder im öffentlichen und im wissenschaftlichen Diskurs infrage gestellt. Im letzten Teil ihrer Zusammenstellung wird daher die Kritik dargestellt, diskutiert und entkräftet.

Einen konzeptuellen Beitrag leistet Timo Storck, der das psychoanalytische Konstrukt des „Durcharbeitens“ zentral behandelt. In diesem Beitrag wird die Länge einer Therapie dahingehend betrachtet, wie psychische Veränderungen aus Sicht der Psychoanalyse im Sinne des Annehmens von Deutungen und einer gelingenden Trauerarbeit verstanden werden kann. Der Autor plädiert dafür, die optimale Dosis einer LZT nicht nur aus rein ökonomischen Sichtweisen heraus zu betrachten, sondern auch die Perspektive der Logik, der Dynamik der Erkrankung und der Veränderungsprozesse anzulegen. Gleichwohl wird hier auch auf die Gefahren der Abhängigkeit hingewiesen, die sich nicht mit dem Konzept des Durcharbeitens vereinbaren lassen, da die Abhängigkeit gerade eine Vermeidung der Bearbeitung von Trennung und Abschied darstellen könnte.

Neurobiologische Perspektive

Die Sicht, dass nachhaltige Veränderungen Zeit brauchen, vertritt auch Gerhard Roth in seinem Aufsatz aus neurobiologischer Perspektive. In diesem Beitrag werden psychische Störungen mit Problemen der Stressverarbeitung und Selbstberuhigung in Zusammenhang gebracht, die sowohl genetisch als auch epigenetisch beeinflusst sind, Letztere vermutlich besonders durch Erfahrungen von Fürsorge oder fehlender Fürsorge. Veränderungsmodelle der KVT und der Psychoanalyse werden mit Ergebnissen der bildgebenden Verfahren kritisch diskutiert. Aus neurobiologischer Sicht scheinen nachhaltige Veränderungen damit zusammenzuhängen, dass in einem bindungsbezogenen Lernklima neue Erfahrungen alte dysfunktionale Erfahrungen ergänzen, im Sinne von „Ersatzschaltungen“ und sogar neuen Neuronen in therapierelevanten Hirnzentren. Besonders im Hinblick auf frühe Traumatisierungen müssten Veränderung in der unteren limbischen Ebene erzielt werden, für die eine LZT unverzichtbar erscheine.

Fünf bedeutende deutsche Psychotherapiestudien

Aufgrund der bereits geschilderten sehr guten gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen für LZT bietet es sich an, diese in Deutschland im Rahmen von Psychotherapiestudien zu untersuchen. Hier sollen Studien vorgestellt werden, von denen 2 bereits abgeschlossen sind, während 3 weitere aktuell noch durchgeführt werden.

Die Münchner Psychotherapiestudie (MPS; Huber und Klug) ist eine quasiexperimentelle Studie, die die Wirksamkeit von KVT, tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und Psychoanalyse vergleichend bei 100 Patienten mit schweren depressiven Erkrankungen untersuchte. Die Therapien wurden nichtmanualisiert im Sinne der deutschen Richtlinienpsychotherapie durchgeführt. Es zeigte sich, dass die Therapien deutliche Dosisunterschiede aufwiesen: Die psychoanalytischen Therapien dauerten durchschnittlich 234 Sitzungen, die tiefenpsychologischen 88 Sitzungen, und die KVT hatten durchschnittlich 44 Sitzungen. Somit sind alle 3 Verfahren als LZT durchgeführt worden. Die stärksten Effekte fanden sich für die psychoanalytischen Therapien besonders im Sinne der Nachhaltigkeit in der Katamnese 3 Jahre nach Therapieende. Dabei konnte eine Auswertung der Effekte von Dosis und Technik zeigen, dass nur der Einsatz psychoanalytischer therapeutischer Technik signifikant zur Aufklärung der Unterschiede beitrug, während die Dosis allein (statistisch „bereinigt“ um den Effekt der psychoanalytischen Technik) hier keine zusätzliche Varianz aufklärte.

Auch die LAC-Depressionsstudie („Langzeittherapie bei chronischen Depressionen“; Beutel et al.) beschäftigt sich mit der vergleichenden Wirksamkeit der Verfahren, hier KVT und psychoanalytische Psychotherapie. Eine Besonderheit dieser Studie ist, dass sowohl eine randomisierte Zuweisung zu den Verfahren erfolgt als auch, in einem gesonderten Teil, eine Zuordnung entsprechend der Präferenz der Patienten. Hier wird man also erstmals den Effekt der Randomisierung gegenüber einer eigenständigen Wahl des Verfahrens bei LZT untersuchen können. Ein Novum ist auch, dass die psychoanalytischen LZT manualorientiert durchgeführt wurden. Alle Behandlungen werden intensiv, auch bezüglich der therapeutischen Prozesse, untersucht.

Die wissenschaftlich-methodischen Probleme, die sich bei der Erfassung der Unterschiede verschieden langer LZT ergeben, werden ausführlich zum Gegenstand des Beitrags von Cord Benecke et al. gemacht. Zunächst wird auf die Dilemmata hingewiesen, die sich aus der Forderung nach evidenzbasierten Therapien im Hinblick auf Forschungsdesigns und LZT ergeben. Anschließend werden allgemeine Grundzüge für Studiendesigns für Vergleiche zwischen KZT und LZT vorgeschlagen, die es ermöglichen, auch die LZT sinnvoll zu untersuchen. Als Beispiel für die Umsetzung dieser Designgrundzüge wird die noch laufende APS-Studie skizziert, die die Wirksamkeit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit der Behandlung von Angst- und Persönlichkeitsstörungen im Rahmen einer randomisierten, kontrollierten Vergleichsstudie zwischen analytischer Psychotherapie und KVT untersucht.

Die „DPG-Praxisstudie“ hat die Langzeiteffekte psychoanalytisch begründeter Psychotherapien zum Gegenstand und ist eine ebenfalls noch laufende prospektive, naturalistische Langzeitstudie, die in Kooperation mit psychoanalytischen Ausbildungsinstituten durchgeführt wird und die ebenfalls die besonderen Designanforderungen für die Untersuchung von LZT umsetzt. Im Kontrast zu den bisher vorgestellten Studien findet hier keine Beschränkung auf eine bestimmte Störungsgruppe statt, und die Studie wird ohne Randomisierung durchgeführt. Aufgrund der großen Stichprobe wird es möglich sein, parallelisierte Subgruppen in unterschiedlichen Behandlungsformen zu untersuchen (ausführlich: Benecke et al. 2011). Im Beitrag für dieses Heft (Henkel et al.) werden schwerpunktmäßig schriftliche „Rückblicke“ von Patienten auf ihre psychoanalytische LZT qualitativ ausgewertet, um zu beleuchten, wie Patienten diese erlebt haben.

Im Beitrag von Wiegand-Grefe et al. wird die „Hamburger Studie zur Evaluation psychoanalytischer Behandlungen von Kindern und Jugendlichen“ vorgestellt, in der die Wirksamkeit psychoanalytischer Behandlungen von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 4 und 21 Jahren mit diagnostizierter Angsterkrankung, Depression oder externalisierender Störung untersucht wurde. Der Beitrag enthält außerdem einen ausführlichen Überblick über die Befundlage zu Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, einschließlich der KVT für Kinder und Jugendliche. Die psychoanalytischen Kinder- und Jugendlichenbehandlungen der Hamburger Studie umfassten durchschnittlich knapp 100 Sitzungen, und es liegen für eine (allerdings kleine) Teilstichprobe Daten zu einer Dreijahreskatamnese vor, die hier erstmals berichtet werden und Argumente für die Durchführung von LZT im Kindes- und Jugendbereich stützen.

Wir hoffen, mit diesem Heft der Zeitschrift Psychotherapeut einen klärenden Blick auf die komplexe Thematik sowohl der „Berechtigung“ als auch der Beforschung von LZT zu ermöglichen, und bedanken uns herzlich bei allen Mitwirkenden dieses Themenhefts.