Der Schwerpunkt des vorliegenden Heftes der Zeitschrift Psychotherapeut entspricht einem Leitthema der Lindauer Psychotherapiewochen 2015.

Der Beschleunigungsdruck in der Arbeitswelt hat längst schon den privaten Bereich erreicht. Eltern und Kinder spüren den erhöhten Leistungsdruck, Partnerschaften die erhöhten Anpassungsleistungen. „Keine Zeit“ ist eine häufig gehörte Antwort. Wie weit kann ein Mensch, eine Partnerschaft, eine Familie optimiert werden? Und wenn sie optimiert werden könnten, wäre das ein Beitrag zum guten Leben, das Menschen anstreben?

Der Vorstellung eines guten Lebens liegt eine Auffassung von Glück zugrunde, die zeigt, welche Werte anzustreben, welche zu vermeiden sind. Prominent ist heute die ökonomische Lebensform, da werden das gute Leben und das Glück als von einem berechenbaren Nutzen abhängig gesehen. Was aber wird aus dem Menschlichen, wenn nur noch zähl- und berechenbare Größen eine Rolle spielen? Menschliche Beziehungen könnten zunehmend v. a. unter dem Aspekt des „Nutzens“, des Vorteils und der Kosten gesehen werden. Die beunruhigende Fragestellung nach dem Sinn der Optimierung, deren Wünschbarkeit und Grenzen, betrifft uns alle.

Als Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten spüren wir den Druck, die Therapien zu optimieren, sie zu kürzen, zu manualisieren, die Qualität zu sichern. Der Kostendruck der Versicherungen führt zu kostendämpfenden Maßnahmen, die eine immer unerträglichere Dokumentationspflicht nach sich ziehen. Auch die Patientinnen und Patienten kommen mit Vorstellungen der Optimierung: Es soll schnell gehen, die optimale Therapie wird gewünscht. Dabei wäre doch eigentlich das Ziel jeder Therapie, das für jeden einzelnen Patienten „gute Leben“ zu finden, und das ist eine Folge der Entwicklung, kognitiv, emotional, sozial. Es ist eine Anstrengung des Einzelnen, nicht zu planen, nicht herzustellen, nicht zu beherrschen, und sie braucht ihre Zeit.

Wo aber haben die Optimierungsstrategien ihren Sinn? Wo kann das damit angestrebte Wachstum zum Wohl des Menschen, zum Wohl aller Menschen eingesetzt werden, als ein verbesserter Rahmen für die Suche nach dem guten Leben?

Dankenswerterweise haben sich einige Vortragende bereit erklärt, ihre Vorträge zu wissenschaftlichen Manuskripten zu überarbeiten.

Diana Pflichthofer sieht Psychotherapie als ein unzeitgemäßes Phänomen, insofern als Therapeut und Patient sich Zeit nehmen müssen. Eine Psychotherapie ist ein begrenzter und begrenzender Ort der Zeit und des Sozialen.

Ulrich Streeck sieht in vielen Psychotherapien die Grenzen zwischen Krankenbehandlung und Seelen-Enhancement aufgeweicht. Er warnt vor impliziten Versprechungen, zu einem „glücklicheren und produktiveren Leben“ verhelfen zu können, zu „geistigem Wohlbefinden“ oder „größerer Lebenszufriedenheit“. Psychotherapie könnte sonst Gefahr laufen, in den Selbstoptimierungschor einzustimmen.

Wolfgang Wöller versucht, den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten den Optimierungsdruck zu nehmen. Ein „ausreichend guter“ Therapeut nimmt sich den Druck, wenn er seine eigenen Begrenzungen anerkennt.

Jochen Schweitzer, Ulrike Bossmann, Julika Zwack und Christina Hunger-Schoppe beschreiben nützliche Beratungspraktiken im Einzelcoaching für typische innerbetriebliche Konfliktsituationen. Wichtig für ein erfolgreiches Coaching ist eine hinreichende Bereitschaft des Betriebs zu einer Balancierung seiner Erfolgsvariablen (z. B. Unternehmensgewinn gegenüber Mitarbeitergesundheit).

Gerhard Roth behandelt in seinem Beitrag die Entstehung von psychischen Störungen im Zusammenhang mit der Wirkung vorgeburtlicher und früh-nachgeburtlicher Umwelteinflüsse auf Gehirn und Psyche. Psychische Störungen sind durchweg gekennzeichnet von Störungen im Stressverarbeitungs- und Selbstberuhigungssystem, vorrangig in Form eines stark erhöhten Cortisol- und eines stark erniedrigten Serotoninspiegels. Bereits pränatale Stresseinwirkungen können zu erheblichen Störungen in den beiden Systemen führen. Einige Konsequenzen für den psychotherapeutischen Prozess werden dargestellt.

Dieses Heft der Zeitschrift Psychotherapeut erscheint rechtzeitig zu den Lindauer Psychotherapiewochen 2016 als Nachlese. Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern, auch wenn sie nicht bei den Lindauer Psychotherapiewochen 2015 dabei sein konnten, eine interessante Lektüre.

Manfred Cierpka, Verena Kast, Peter Henningsen im April 2016