Zusammenfassung
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Instrumentalisierung des Opferstatus, dem ein materieller, psychosozialer und narzisstischer Gewinn zukommt. Talkshows kultivieren Opfer, idealisieren sie als Helden und produzieren auf diese Weise Ersatzidentitäten. Auf „unschuldige“ Weise aus der Masse herausgehoben zu sein und von anderen anteilnehmend bemitleidet, bewundert und um die Aufmerksamkeit beneidet zu werden, dürfte eine Quelle narzisstischer Befriedigung darstellen. So verwandelt die Opferidentität zwar Ohnmacht und Schwäche in ein Mittel der Anerkennung, fixiert aber auch die Dichotomie zwischen Täter und Opfer.
Abstract
The article deals with the instrumentalization of victim status, which achieves a definite material psychosocial and narcissistic advantage. Talk shows cultivate victims and idealize them as heroes thus producing ersatz identities. To be singled out from society as „innocent“ and to be pitied, admired and perhaps envied by others for the attention they attract, might prove to be a source of narcissistic gratification. So whilst victim identity may transform impotence and weakness into a medium for approval, it also fixes the dichotomy between offender and victim.
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Lamott, F. Zur Instrumentalisierung des Opferstatus. Psychotherapeut 54, 257–261 (2009). https://doi.org/10.1007/s00278-009-0678-2
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