Einleitung

Als wohnungslos gilt, wer über keinen vertraglich gesicherten Wohnraum verfügt und entweder auf der Straße schläft (obdachlos) oder auf anderweitige Unterkünfte angewiesen ist [2].

Laut bundesweiten Zählungen wohnungsloser Menschen, die sich in sozialen Unterkünften aufhielten, weist die Freie und Hansestadt Hamburg mit 10,2 Wohnungslosen auf 1000 Einwohnern die höchste Anzahl in Deutschland auf. An zweiter Stelle steht Berlin mit 7,1 Wohnungslosen auf 1000 Einwohnern [28].

In Hamburg lebten 2018 allein 1910 der Wohnungslosen ausschließlich auf der Straße. Zum Vergleich: 2009 waren es noch 1029 (Anstieg von 85,6 %). Der Grund dafür ist am ehesten die große Zuwanderung in Hamburg [22].

Das Institut für Rechtsmedizin in Hamburg untersucht seit über 30 Jahren fortlaufend die Sterbefälle wohnungsloser Menschen in der Hansestadt unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten [1, 10, 14, 19].

Eine jüngst eigens durchgeführte nationale Querschnittstudie zur Gesundheit wohnungslos lebender Menschen legte u. a. die hohe Prävalenz psychischer und somatischer Erkrankungen in der Gruppe dar. Außerdem zeigte sich ein erschwerter Zugang zum medizinischen Regelsystem, insbesondere bei MigrantenFootnote 1, die häufiger nicht krankenversichert waren [4]. Auch zu psychischer und physischer Gesundheit, insbesondere seit Beginn der Coronavirus-Krankheit-19-Pandemie (COVID-19-Pandemie) wurden mono- und multizentrische Studien aufgelegt [5, 13, 17].

Die COVID-19-Pandemie veränderte ab März 2020 abrupt den gesellschaftlichen Alltag weltweit. Schulen, Restaurants und der Einzelhandel schlossen innerhalb weniger Tage. Arbeitnehmer wurden (sofern möglich) ins Homeoffice geschickt. Die Straßen der Innenstädte leerten sich schlagartig; nur die wohnungslosen Menschen blieben zurück. Die Bundearbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) kritisiert, dass Wohnungslose von Politik und Verwaltung vergessen worden seien, und führte Abfragen bei sozialen Einrichtungen durch, benannte Herausforderungen in der Wohnungslosenhilfe und formulierte Bedarfe [25].

Der Betrieb von sozialen Einrichtungen und Anlaufstellen für wohnungslose Menschen kam zu Beginn der Pandemie vorerst vollständig zum Erliegen. Die Einrichtungen passten ihre Angebote schnellstmöglich den Sicherheitsbestimmungen an und konnten eine Grundversorgung für ihre Besucher so wieder ermöglichen. Notunterkünfte öffneten wieder, sahen sich aber mit der Schwierigkeit des Infektionsschutzes konfrontiert [25].

In Hamburg wurden mithilfe von Spendengeldern Hotels, die für den Tourismus geschlossen waren, für wohnungslose Menschen geöffnet [6].

Träger boten Unterkünfte zur Quarantäne infizierter Wohnungsloser an. Dies stellte Infizierte und Betreiber vor große Herausforderungen. Menschen, die sonst ihre Freiheit gewohnt waren und teils Suchtstoffe beziehen mussten, konnte man nur schwer für 14 Tage in Quarantäne halten. Zudem wurde bereits zu Beginn der Pandemie eine besonders schnelle Ausbreitung des schweren-akuten-Atemwegssyndrom-Coronavirus Typ 2 (SARS-CoV‑2) unter wohnungslosen Menschen vorhergesagt [23]. Außerdem wurden sie im Rahmen der Pandemie als besonders vulnerable Gruppe eingestuft. [31].

Das Ziel dieser Studie ist es, mögliche Veränderungen durch die COVID-19-Pandemie innerhalb der Kohorte der verstorbenen Wohnungslosen in Hamburg aufzuzeigen.

Material und Methoden

Kohorte

Im Landeskriminalamt Hamburg (LKA 41 für Todesermittlungen) werden sämtliche Sterbefälle erfasst, in denen die Todesart als „ungeklärt“ oder „nicht natürlich“ angegeben wurde. In die Studie wurden alle Fälle dort verzeichneter, verstorbener Wohnungsloser aus den Jahren 2019 (als letztes Jahr ohne SARS-CoV-2) und 2021 (als erstes vollständiges Kalenderjahr während der Pandemie) eingeschlossen. In Hamburg starben im Jahr 2019 insgesamt 17.474 Menschen [29]. 6075 (34,7 %) dieser Sterbefälle wurden dem LKA 41 zur Prüfung vorgelegt. Im Jahr 2021 verstarben insgesamt 18.846 Menschen in Hamburg [29], von diesen Sterbefällen wurden 6801 (36,1 %) im LKA 41 geprüft. Die fallbezogenen Handakten wurden händisch zur ersten Orientierung gesichtet. Insgesamt ergaben sich 114 Sterbefälle (42 in 2019 und 72 in 2021), in denen als Anschrift „ohne festen Wohnsitz“ vermerkt war.

Zur detaillierten Akteneinsicht wurde ein entsprechender Antrag bei der Staatsanwaltschaft Hamburg gestellt. Dieser wurde – bis auf 2 Fälle aus dem Jahr 2021, in denen die polizeilichen Ermittlungen noch andauerten – bewilligt.

Die Vorstellung der retrospektiven Studie bei der Ethikkommission der Hamburger Ärztekammer (Datum der Sitzung: 06.12.2022) ergab keinen weiteren Beratungsbedarf.

Variablen

Folgende Daten wurden erhoben: Alter, Geschlecht, Nationalität, Ort des Versterbens, Hinweise auf Substanzabusus (differenziert in Alkohol- und Betäubungsmittelabusus anhand anamnestischer und kriminalistischer Angaben), Ergebnisse der Leichenschauen und Obduktionen sowie festgestellte Todesursachen.

Statistische Analyse

Die Kohorte wurde zunächst deskriptiv charakterisiert. Mittels Gruppenvergleichen wurden die jeweiligen Variablen zur Gegenüberstellung der Jahre 2019 und 2021 getestet. Das Signifikanzlevel wurde auf p < 0,05 gesetzt. Die statistische Analyse wurde in SPSS durchgeführt.

Ergebnisse

Stichprobenbeschreibung

Die detaillierte Charakteristik der Kohorte ist Tab. 1 zu entnehmen.

Tab. 1 Stichprobenbeschreibung (Mean (±SD)/n (%))

2019 verstarben in Hamburg 42 Wohnungslose im durchschnittlichen Alter von 51 Jahren (SD: ±9,4; Altersspanne 32–75 Jahre), davon 95,2 % männlich. Im Jahr 2021 verstarben 70 Wohnungslose, 88,6 % davon männlich. Das Durchschnittsalter lag bei 49 Jahren (SD: ±9,9; Altersspanne 23–68 Jahre).

Bezüglich des Geschlechts, Alters, der Nationalität und des Ortes des Versterbens ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden exemplarisch untersuchten Jahren. 2021 wurde häufiger ein Hinweis auf einen Substanzmittelabusus (Alkohol und/oder Betäubungsmittel) dokumentiert (p = 0,009).

2019 kamen die meisten Verstorbenen aus Deutschland. 2021 dominierten polnische Staatsbürger. Für eine genaue Auflistung der Herkunftsländer der Verstorbenen beider Jahre: Tab. 2.

Tab. 2 Herkunftsländer; alphabetisch sortiert. n (%)

Gerichtliche Obduktionen und Todesursachen

Im Jahr 2019 sind 22 (52,4 %) und im Jahr 2021 36 (51,4 %) gerichtliche Obduktionen aus der Gruppe der Personen ohne festen Wohnsitz erfolgt.

Neben den Obduktionsergebnissen sind weitere Todesursachen bzw. zum Tode führende Kausalketten erfasst, die sich aus Fällen mit hospitalem Sterbeort ergeben haben.

In beiden Jahren dominieren letale Infektionen, insbesondere der Atemwege als Todesursache.

Im Jahr 2019 stehen Intoxikationen und tödliche Unfälle an zweiter Stelle.

2021 folgen auf die Infektionen Todesfälle durch suizidale Handlungen. Eine genaue Auflistung zeigt Tab. 3.

Tab. 3 Todesursachen/Todesarten/n

COVID-19

In routinemäßig im Institut für Rechtsmedizin durchgeführten quantitativen Polymerase-Kettenreaktion-Tests (qPCR-Tests) eines Rachenabstrichs ließ sich in 3 (6,4 %) von 47 Abstrichen SARS-CoV‑2 nachweisen. In einem dieser Fälle wurde eine COVID-19-Pneumonie als Todesursache diagnostiziert. Bei den beiden anderen Fällen war eine SARS-CoV-2-Infektion zu Lebzeiten nicht bekannt, und der Rachenabstrich zeigte erstmalig postmortal eine Infektion mit dem Virus; relevante entzündliche Veränderungen der Atemwege und Lungen wurden in beiden Fällen nicht nachgewiesen.

In 44 Fällen wurde ein negativer PCR-Test zum Ausschluss einer Infektion in der Leichenhalle des Instituts durchgeführt; in den verbleibenden 23 Fällen war kein Abstrich erfolgt.

2019 hatte SARS-CoV‑2 Hamburg noch nicht erreicht.

Diskussion

Diese Arbeit untersuchte mögliche pandemiebedingte Veränderungen bei Todesfällen wohnungsloser Menschen in Hamburg durch Vergleichen der speziellen Todesfallkohorten 2019 und 2021.

In der hier betrachteten Kohorte betrug das durchschnittliche Alter beim Versterben etwa 50 Jahre. Dieses Sterbealter lag damit ca. 30 Jahre unter der durchschnittlichen Lebenserwartung der deutschen Allgemeinbevölkerung [27]. In einer vergleichbaren Arbeit aus 2001 lag das Durchschnittsalter bei 44,5 Jahren [14], 2018 bei 49 Jahren [1]. Im hier exemplarisch untersuchten Jahresvergleich zeigte sich kein signifikanter Unterschied im Lebensalter.

Die Zunahme der Sterbefälle unter den Wohnungslosen lässt sich auf die weiter gestiegene Gesamtzahl der Wohnungslosen zurückführen.

In einer 2001 publizierten Arbeit lag der Anteil der verstorbenen Wohnungslosen mit deutscher Staatsangehörigkeit noch bei 91,1 % [14]. In der vorliegenden Arbeit waren es nur noch 38,1 % bzw. 22,9 %. Diese Beobachtung deckt sich mit Erkenntnissen von Befragungen aus dem Jahr 2018, die auf behördlichen Auftrag hin durchgeführt wurden [22].

Die Zuwanderung sei in etwa 70 % der Fälle nichtdeutscher Staatsangehöriger für die Arbeitssuche erfolgt. Die 2011 bzw. 2014 eingeführte Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Länder der Europäischen Union habe hierfür eine besondere Rolle gespielt. Weiterhin sei die Fluchtbewegung 2015 gravierend gewesen [22].

Inwiefern die COVID-19-Pandemie Einfluss auf die Zuwanderung innerhalb des ausgewerteten Zeitraums genommen hat, oder aus welchen Gründen die Wohnungslosen sich in Deutschland/Hamburg aufgehalten haben, ist aus den vorliegenden Daten nicht ableitbar. Jüngste eigene Daten zeigen, dass die Migration nach Deutschland in erster Linie ökonomisch begründet wird [4]. Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Instabilität einiger osteuropäischer Länder, die bereits vor der Pandemie bestand und durch die Pandemie weitergewachsen ist, ist davon auszugehen, dass die Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland in einem relevanten Teil der Fälle Antrieb der Zuwanderung gewesen war.

Unterbringungen, die für externe Arbeitskräfte aus teils illegalen Arbeitsverhältnissen zur Verfügung gestellt wurden, weisen hoch prekäre Zustände auf, in denen z. B. Dutzende Menschen in Stockbetten in kleinen Wohnungen untergebracht waren. Regularien während der Pandemie erlaubten diese Wohnsituation nicht. Aus Sorge vor hohen Bußgeldern wurden als Konsequenz zahlreiche Menschen, überwiegend nichtdeutsche Staatsangehörige, auf die Straße gesetzt. Gleiches galt für Wohnungslose, die vor der Pandemie bei Freunden o. Ä. untergekommen waren [26].

Die Transmissionsrate von SARS-CoV‑2 unter Wohnungslosen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wurde bereits zu Beginn der Pandemie als erhöht eingeschätzt. Dies lag u. a. an der gesundheitlichen Vulnerabilität der Gruppe, niedrigen hygienischen Standards und den teils räumlich beengten Situationen in Notunterkünften [23].

In einer Berliner Notunterkunft für Wohnungslose zeigten sich zwar keine ausgeprägten Infektionsausbrüche [16], dort, wo es zu positiven Testergebnissen auf SARS-CoV‑2 bei Wohnungslosen kam, waren jedoch 86 % in Gemeinschaftsunterkünften untergekommen [24]. Nachdem ein Unterkunftsbewohner positiv auf das Virus getestet wurde, ergaben sich innerhalb der 7 darauffolgende Tage positive Testergebnisse bei 18 % der Bewohner und 21 % der Mitarbeiter derselben Unterkunft [30]. Unter asymptomatischen wohnungslosen Menschen, die auf der Straße schliefen, ergab sich kein Anhalt für vermehrte Infektionsraten [20]. Ein Zusammenhang von erhöhten Transmissionsraten zwischen Menschen in Notunterkünften im Vergleich zu denen, die auf der Straße räumliche Distanz zu anderen Menschen haben, liegt also nahe.

In der vorliegenden Studie lag bei 47 Sterbefällen ein SARS-CoV-2-PCR-Testergebnis vor. In 23 Fällen war dies nicht der Fall. Ursächlich hierfür waren überwiegend Schwierigkeiten in der retrospektiven Datenerfassung. Weiterhin hatte es Sterbefälle gegeben, in denen aus Kapazitätsgründen keine Rachenabstriche angefertigt werden konnten, und Sterbefälle, welche nicht in das Institut für Rechtsmedizin des UKE verbracht worden waren, nachdem sie in anderen Hamburger Krankenhäusern verstorben waren.

Gesichert lag in 3 (4,3 %) von 70 Sterbefällen aus dem Jahr 2021 ein positiver SARS-CoV-2-Nachweis vor. Von ihnen verstarben 2 in Unterkünften und eine Person auf der Straße.

In Summe handelt es sich bei der Anzahl der mit SARS-CoV-2 Verstorbenen unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sowohl eine Transmission des Virus als auch die allgemeine Morbidität in der Kohorte als besonders hoch eingeschätzt wurden [23], um eine überraschend geringe Anzahl.

Zu Beginn der Pandemie (März bis Juli 2020) lagen die Infektionszahlen unter Wohnungslosen laut internationalen Studien zwischen 4 und 14 % [15, 21, 30]. Im Jahr 2021 hatten sich Schutzmaßnahmen bereits weitgehend etabliert und sich die Ansteckungsfahr in der Kohorte damit auch relativiert. Über 50 % der Anlaufstellen für Wohnungslose konnten ihren Besuchern im Laufe des Jahres 2020 Mund-Nasen-Schutze zur Verfügung stellen; in über 90 % der Einrichtungen konnten Besucher ihre Hände waschen [11].

Der vermehrte Substanzmittelabusus in der Gruppe der Wohnungslosen ist eine bekannte Beobachtung und zeigte sich auch in einer multizentrischen Querschnittstudie mit 651 Teilnehmern. Bei 42,3 % zeigte sich eine Alkoholabhängigkeit und bei 29,4 % der Konsum illegaler Drogen [4].

Auch in der hier untersuchten Gruppe von 112 verstorbenen Wohnungslosen zeigte sich eine hohe Anzahl von Substanzmittelanamnesen. Inwiefern diese bis zum Tod selbst vorgelegen haben, ist nicht in allen Einzelfällen bekannt. Der Anstieg in 2021 ist statistisch höher als 2019 gewesen, aufgrund der retrospektiven Auswertung von anamnestischen Hinweisen aus Aktenmaterial in der Bedeutung aber vorsichtig zu bewerten. Eine französische Querschnittstudie mit 535 Teilnehmern offenbarte höhere Raten von Substanzmittelabusus unter den Wohnungslosen während der Pandemie. In späteren Phasen der Pandemie wurde ein Anstieg des Alkoholmissbrauchs beobachtet [26].

In der vorliegenden Studie ließen das Studiendesign und die Tatsache, dass nur wenige medizinische Details über die Verstorbenen und deren Krankengeschichte bekannt waren, keine Aussage über mögliche psychiatrische Diagnosen zu.

Dennoch zeigt die Gruppe Wohnungsloser grundsätzlich eine hohe Prävalenz psychiatrischer Erkrankungen [3, 4].

Setzt man psychisches Leid als Treiber des Substanzmittelabusus voraus, findet sich hierin eine Teilerklärung für dessen statistische Zunahme unter der Pandemie. In der Allgemeinbevölkerung zeigte sich weltweit ein pandemiebedingter Anstieg von psychischen Erkrankungen [9].

Wohnungslose, die schon vor der Pandemie unter Depressionen und Angststörungen litten, zeigten eine größere Angst vor SARS-CoV‑2 [13].

48,5 % von 130 befragten Wohnungslosen in Hamburg fühlten sich während der Pandemie einsam [5]. Auch hierin kann sich ein Grund für einen gesteigerten Substanzmittelabusus während der Pandemie finden.

Im Jahr 2019 starben 3 (7 %) der Wohnungslosen in Unterkünften, 2021 waren es 12 (17 %). Dies könnte Ausdruck davon sein, dass es während der Pandemie mehr Angebote gab, in denen Wohnungslose einen temporären Schlafplatz oder eine Aufenthaltsmöglichkeit erhielten. Auch unter den Todesursachen ergaben sich Hinweise für diese Annahme. Statistisch gesehen verstarben weniger Menschen im Jahr 2021 aufgrund einer Hypothermie auf den Straßen Hamburgs als im Jahr 2019.

Die verbesserten Unterkunftsangebote führten zu näheren Kontakten mit Sozialarbeitern und erhöhten die Chance einer gezielteren medizinischen Versorgung (einschließlich Aufklärung zu Infektionsschutz, Test- und Impfangeboten [32]). Spanische Wissenschaftler sehen die Pandemie sogar als Chance, um Wohnungslose in Unterkünften, die aufgrund der Pandemie neu geschaffen wurden, zu erreichen und Therapien psychischer Erkrankungen zu implementieren [18].

In beiden Jahren dominieren die Infektionen die Todesursachen, im Jahr 2021 mit 23 % in einem noch frequenteren Anteil. 2006 waren es 14,5 %; in einer Arbeit aus dem Jahr 2018 waren es 13 % [1, 10]. Wenn rechtzeitig detektiert, sprich ärztlich vorgestellt, sind insbesondere Infektionen der Atemwege zunächst prinzipiell gut therapierbar. Entsprechende Todesfälle ohne ärztliche Interventionen werfen die kritische Diskussion einer potenziellen Vermeidbarkeit bei rechtzeitiger(er) ärztlicher Therapie auf. Zwar hält Hamburg das Angebot einer „Krankenstube“ bereit, jedoch ist die Anzahl der Betten auch hier beschränkt, und Suchterkrankungen und Pflegebedürftigkeit erschweren die Zugangsmöglichkeiten [8].

Ärztlichen Hilfsangeboten in der Stadt für Menschen ohne Krankenversicherung fiel ein Normalbetrieb unter den Pandemieregularien schwer.

Ängste vor Ansteckung mit SARS-CoV‑2 in Arztpraxen bestanden auch in der Gesamtbevölkerung. Anzunehmen ist, dass auch Wohnungslose diese Angst hatten und deswegen die ihnen zugänglichen Anlaufstellen mieden.

Die Suizidanzahl war 2021 numerisch höher als 2019; prozentual lag der Anteil 2021 damit bei 10 %. In früheren Arbeiten betrug dieser zwischen 4 und 13 % [1, 10, 14]. Einen konkreten Bezug zur Coronapandemie zeigten die 7 gezählten Suizidfälle dabei nicht auf. Aus Berlin war zu Beginn der Pandemie der Begriff der Coronasuizide geprägt worden, um Selbsttötungen im direkten Zusammenhang zur Pandemie (Abschiedsbriefe mit Sorge um eigene Infektion, gesellschaftliche Folgen, Lockdown-Konsequenzen) [7] zu beschreiben, die hier nicht vorlagen.

Dennoch wurde während der Pandemie ein signifikanter Anstieg in Suizidalität unter Wohnungslosen registriert [12].

Während sich in der Mehrzahl der verglichenen Parameter in dieser Arbeit keine Veränderung durch die COVID-19-Pandemie ergaben, zeigt sich doch eine hohe Belastung der Gruppe. Diese kann hier nur durch prozentuale Vergleiche und weniger durch Signifikanzen belegt werden. Dennoch haben wir in diesem Zusammenhang gelernt, dass die Pandemie neben den Herausforderungen für die Kohorte auch Chancen bieten kann.

Limitationen

Es handelt sich um ein retrospektives Aktenstudium, und nichtdokumentierte sowie weitere potenziell relevante Faktoren konnten damit nicht mehr kollektiviert werden. Dokumentationsfehler sind ferner nicht auszuschließen.

Die zu den verstorbenen Wohnungslosen gewonnenen Informationen, insbesondere bezüglich des Substanzmittelabusus, ergeben sich aus der Momentaufnahme der Auffindesituation/des Versterbens.

Weiterhin konnten Wohnungslose, denen bereits bei der ersten Leichenschau eine natürliche Todesart bescheinigt wurde, nicht berücksichtigt werden. Diese blieben der Hamburger Prozesskette der Sterbefallbearbeitung zwischen Landeskriminalamt und Rechtsmedizin verborgen.

Fazit für die Praxis

  • Eine Reduktion der Todesfälle unter den Wohnungslosen im Sinne einer Abnahme während der COVID-19-Pandemie lag nicht vor.

  • Die Auswertung zweier Jahrgänge zeigte noch keine relevanten Veränderungen in den Charakteristika von Sterbefällen Wohnungsloser. Es bedarf weiterer Untersuchungen und konsequenter Dokumentationen engagierter Ärzte und Wissenschaftler, die sich der Aufklärung und Beleuchtung der Todesursachen Wohnungsloser widmen. Nur so können adäquate und zielorientierte Hilfsangebote für die betroffenen Personen herausgearbeitet werden.

  • Unterkünfte und damit Rückzugsorte für Wohnungslose bieten einen relevanten Grundstein für die Gesundheitserhaltung der betroffenen Personen. Die Verfügbarkeit von Ärzten und medizinischen Maßnahmen sollte auch für wohnungslose Menschen im Erkrankungsfall hinderungsfrei möglich sein und bleiben. Die mit einer Unterkunft einhergehende „Ruhe“ und „Sicherheit“ bessern nicht nur die Gesundheit, sondern bieten auch die Perspektive für einen Neustart im Leben.