Zusammenfassung
Seit Erstbeschreibung der Ultraschalluntersuchung der Säuglingshüfte durch Graf 1980 konnte diese Technik eindrücklich zeigen, dass sie hält, was man sich von ihr versprochen hat. Bei der Implementierung der Hüftsonographie in die deutsche Kinder-Richtlinie hoffte man, dass diese die Sensitivität und Spezifität hinsichtlich der Früherkennung luxierter und dysplastischer Gelenke verglichen mit einem generellen klinischen Screening verbessert. Darüber hinaus konnte wiederholt belegt werden, dass bei Durchführung eines generellen Neugeborenenhüftultraschallscreenings nach Graf nicht nur die Therapierate, sondern auch die Therapieinvasivität und somit die Therapiekosten, aber auch die Rate an verspätet diagnostizierten Hüftreifungsstörungen signifikant gesenkt werden können. Dennoch wird insbesondere im angloamerikanischen Raum bis heute die Sinnhaftigkeit eines generellen Hüftultraschallscreenings im Säuglingsalter infrage gestellt. Im nachfolgenden Beitrag soll aufgearbeitet werden, wie es zu dieser Fehleinschätzung kommt.
Abstract
Since the first description of the ultrasound examination of the infant hip by Graf in 1980 this technique has impressively demonstrated that it lives up to its promise very well. In the implementation of hip ultrasound in the German pediatric guidelines it was hoped that it would improve the sensitivity and specificity of the early detection of dislocated and dysplastic joints in comparison to a general clinical hip screening. Furthermore, it has been repeatedly shown that general newborn hip ultrasound screening according to Graf can significantly reduce not only the treatment rate but also the invasiveness. Consequentially, the cost of treatment as well as the rate of late presenting developmental dysplasia of the hip (DDH) can also be significantly reduced. Despite those proven merits the meaningfulness of general hip ultrasound screening in infancy is still questioned, especially in the Anglo-American world. This article reviews how this misconception came about.
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Welchen Faktor kann ein generelles Neugeborenenhüftultraschallscreening nach Graf nicht positiv beeinflussen?
Therapierate
Therapieinvasivität
Therapiekosten
Steigerung der Operationszahlen
Rate an verspätet diagnostizierten Hüftreifungsstörungen
Warum wurde in Deutschland ein generelles Hüftultraschallscreening nach Graf 1996 in die Kinder-Richtlinie aufgenommen?
In der U2-Untersuchung fehlte noch eine Untersuchung.
Die klinischen Untersuchungstechniken der Säuglingshüfte als alleinige Früherkennungsverfahren wurden als nicht ausreichend zuverlässig angesehen.
Die Evidenzlage pro Hüftultraschall war überwältigend.
Man hat sich die Schweiz als Vorbild genommen.
Aus Österreich war bekannt, dass ein generelles Hüftultraschallscreening keine Kosten verursacht.
Welcher Beweggrund steckt hinter der Entscheidung, dass in England seit 2021 bei Neugeborenen mit klinischen Auffälligkeiten eine Hüftultraschalluntersuchung erst in der 4. bis 6. Lebenswoche empfohlen wird?
Die klinische Untersuchung ist der Hüftultraschalluntersuchung in den ersten 4 Lebenswochen zur Früherkennung von Hüftreifungsstörungen signifikant überlegen.
Klinische Auffälligkeiten in den ersten 4 Lebenswochen werden generell nicht durch Hüftreifungsstörungen verursacht.
Man hofft, dass sich luxierte und instabile Gelenke in den ersten Lebenswochen spontan reponieren und sich ohne Therapie zu stabilen Hüftgelenken entwickeln.
Klinische Auffälligkeiten sind in den ersten 4 Lebenswochen eine absolute Rarität.
Hüftultraschalluntersuchungen nach Graf werden bei Neugeborenen ausschließlich zu Ausbildungszwecken durchgeführt.
Was ist eine mögliche Erklärung, dass die American Academy of Orthopaedic Surgeons kein generelles Hüftultraschallscreening empfiehlt?
Ultraschalluntersuchungen der Säuglingshüfte, die die prozentuale Überdachung des Hüftkopfs untersuchen, sind der Untersuchungstechnik nach Graf nicht unterlegen, da der Hüftkopf geometrisch eine Kugel ist.
Die Untersuchung der Evidenzlage eines generellen Hüftultraschallscreenings basiert auf einer Zusammenfassung diverser Techniken zur Ultraschalluntersuchung der Säuglingshüfte zu „dem“ Hüftultraschall.
Veröffentlichungen zur Technik der Hüftultraschalluntersuchung nach Graf wurden bis dato ausschließlich in deutscher Sprache publiziert.
Bis heute gibt es keinerlei Daten, dass durch ein generelles Neugeborenenhüftultraschallscreening operative Eingriffe im Kindes- und Jugendalter vermieden werden können.
Ein selektives Neugeborenenhüftultraschallscreening ist ausreichend, um verspätet diagnostizierte Hüftluxationen sicher vermeiden zu können.
Warum ist die Hüftultraschalltechnik nach Graf den Untersuchungstechniken nach Harcke oder Terjesen überlegen?
Alle Untersuchungstechniken sind heute als gleichwertig zu betrachten.
Ausschließlich bei der Technik nach Graf erfolgt eine Messung.
Bei der Technik nach Graf erfolgt eine subjektive Beschreibung des Gelenks, die jeglichen Messtechniken überlegen ist.
Bei der Technik nach Graf wird im Gegensatz zu den Techniken nach Harcke und Terjesen unabhängig vom Hüftkopf die Ausbildung des knorpeligen und knöchernen Anteils der Hüftgelenkspfanne beurteilt.
Normwerte, ab wann ein Hüftgelenk als pathologisch zu betrachten ist, gibt es ausschließlich bei der von Graf beschriebenen Technik.
Welche anatomische Struktur ist Bestandteil der anatomischen Identifizierung (Checkliste I) nach Graf?
Proximales Perichondrium
Trochanter major
Subkutanes Fettgewebe
M. gluteus medius
Labrum acetabulare
Welche der folgenden Strukturen ist Bestandteil der Checkliste II nach Graf?
Gelenkknorpel
Hüftkopf
Unterrand des Os ilium
Septum intermusculare
Y‑Fuge
Warum soll bei Vorliegen einer Hüftreifungsstörung eine adäquate Therapie so früh wie möglich eingeleitet werden?
Bei Neugeborenen treten im Rahmen von offenen Hüfteinstellungen nie Komplikationen auf.
Die Hüftreifungskurve zeigt im ersten Lebensjahr nur in den ersten 12 Lebenswochen einen exponentiellen Verlauf.
Bei Neugeborenen können die Hüftgelenke über Wochen gefahrenlos in 90°-Hüftabduktion eingegipst werden.
Hüftbeugeschienen stehen ausschließlich bei Neugeborenen zur Behandlung von Hüftreifungsstörungen zur Verfügung.
Bei frühzeitigem Therapiebeginn können Druckkräfte in Scherkräfte umgewandelt werden.
Bei welchem Hüfttyp nach Graf kann zunächst mit einer sofortigen Therapie abgewartet werden?
Hüfttyp IV
Hüfttyp IIc stabil
Hüfttyp D
Hüfttyp IIa−
Hüfttyp IIa+
Welcher Leitsatz gilt für die Sonographie-gesteuerte Therapie?
Luxierte Gelenke müssen durch adäquate Therapiemaßnahmen so früh wie möglich reponiert, retiniert und zur Nachreifung gebracht werden.
Die Pavlik-Bandage wird heutzutage als Goldstandard zur Reposition und Retention gesehen.
Dank der Sonographie ist der Zeitpunkt des Beginns einer adäquaten Therapie bei Typ-III-Gelenken egal.
Die Verwendung der Tübinger Hüftbeugeschiene zur Reposition und Retention luxierter Gelenke ist insbesondere bei älteren Säuglingen dringend zu empfehlen.
Spreizhosen, die das Hüftgelenk in maximal 80° Hüftbeugung und 90° Abduktion halten, sind für die Nachreifung ideal.
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Seidl, T., Chiari, C. Status quo Hüftdysplasiescreening. Orthopädie 51, 853–862 (2022). https://doi.org/10.1007/s00132-022-04298-7
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00132-022-04298-7