Liebe Leserin, lieber Leser,

„krumme Beine“ sind ein häufiger Anlass, Kinder beim Kinderarzt oder Orthopäden vorzustellen. Die Beurteilung, ob eine Beinachse noch normal oder pathologisch ist, setzt die genaue Kenntnis der physiologischen Beinachsenentwicklung voraus, da es während des Wachstums zu charakteristischen Veränderungen der Beinachse kommt. Die Beurteilung der Beinachse erfolgt üblicherweise zunächst klinisch im Stand sowie bei Erfordernis der genauen Klassifizierung radiologisch anhand einer Ganzbein-Röntgenaufnahme. Die Aufnahme dient der Bestimmung von Winkeln und Achsen, anhand derer das Ausmaß der Fehlstellung beurteilt wird. Eine weitere Möglichkeit für die radiologische Bestimmung der Beinachse ist das EOS Imaging System (EOSTM Imaging, Paris, Frankreich). Diese Technologie ermöglicht die Anfertigung einer simultan ablaufenden biplanaren Ganzbeinstandaufnahme in einem einzigen Scanvorgang ohne Stitching-Phänomene oder vertikale Verzerrungen bei geringerer Strahlendosis. Neben der 2‑D-Darstellung der EOS-Aufnahme besteht zusätzlich die Möglichkeit einer digitalen Rekonstruktion eines knöchernen 3‑D-Oberflächenmodells der unteren Extremität. Mit der 3‑D-Rekonstruktion können Beinlängendifferenzen, Malrotationen oder kombinierte Fehlstellungen abseits der Achsabweichung in der Frontalebene abgebildet werden. Allerdings bestehen auch mit dieser noch relativ neuen Messmethodik gerade bei Grenzfällen häufig Unsicherheiten über die Behandlungsbedürftigkeit dieser Beinachsendeformitäten. Was muss wann therapiert werden? Zudem lässt die rein statische Beurteilung nur begrenzt Rückschlüsse auf eine mögliche mechanische Überlastung des Kniegelenks bzw. eine spätere Arthroseentwicklung zu.

Die nichtinvasive Berechnung der dynamischen Belastungen im Kniegelenk ist mittels instrumenteller Ganganalyse möglich. Hierbei hat sich das externe Knieadduktionsmoment (Varusmoment) während des Gehens als Prädiktor für das Fortschreiten der Knorpeldegeneration im medialen Gelenkkompartiment bzw. die Entstehung von Arthrose im Kniegelenk etabliert. Somit kann die instrumentelle Ganganalyse wertvolle Zusatzinformationen zur konventionellen Röntgendiagnostik liefern und insbesondere bei Grenzfällen zur Behandlungsentscheidung und zum Operationserfolg beitragen. Bei einer Diskrepanz zwischen statischer Beinachse und dynamischer Kniegelenkbelastung kann die instrumentelle Ganganalyse darüber hinaus potenzielle Kompensationsmechanismen beim Gehen aufdecken. Ein eigener Beitrag dieses Themenheftes stellt die Messmethoden der instrumentellen Ganganalyse dar und zeigt deren Nutzen bei der Behandlung von Achsfehlstellungen des Knies in der Frontalebene. Es wird ein neuer Behandlungsalgorithmus für die kniegelenknahe Wachstumslenkung im Kindesalter mittels temporärer Hemiepiphysiodese vorgestellt. Dabei ist die instrumentelle Ganganalyse als wertvolles Zusatzinstrument zu betrachten, das die Indikationsstellung für operative oder therapeutische Maßnahmen erleichtert und eine dynamische Beurteilung des Behandlungserfolges gestattet.

Bei einer statischen Achsfehlstellung in Verbindung mit einer pathologischen dynamischen Kniegelenkbelastung sollte man im Kindes- und Jugendalter bestrebt sein, die Fehlstellung operativ zu behandeln. Zur Wachstumslenkung bei noch offenen Wachstumsfugen und ausreichendem Wachstumspotenzial ist die temporäre Hemiepiphysiodese die Behandlungsmethode der ersten Wahl. Hier macht man sich das Wachstumspotenzial der Epiphysenfugen zunutze und es kommt zu einer vorübergehenden, einseitigen Blockierung der Epiphysenfuge. Im Gegensatz zu einer aufwändigen und risikobehafteten Umstellungsosteotomie im Erwachsenenalter besteht die Therapie der Wachstumslenkung in der Regel aus zwei minimalinvasiven, komplikationsarmen Eingriffen ohne die Notwendigkeit einer speziellen Nachbehandlung oder Entlastung. Die Herausforderung besteht darin, dass der Zeitpunkt der Operation unter Berücksichtigung des noch zu erwartenden gesamten Längenwachstums der betroffenen Skelettabschnitte bestimmt werden muss. Eine sorgfältige präoperative Indikationsstellung und Planung, präzise Operationstechniken sowie achtsame postoperative Kontrolluntersuchungen sind zwingende Voraussetzungen für den gewünschten Therapieerfolg.

Bei Kindern und Jugendlichen mit komplexen, mehrdimensionalen Fehlstellungen kommen weitere Operationsverfahren zur Anwendung, die der Beitrag aus Aschau darstellt. Dabei können wachstumslenkende Verfahren mit Osteotomien kombiniert werden, was in ausgewählten Fällen sehr nützlich sein kann. Im Erwachsenenalter ist die kniegelenknahe Osteotomie bei Achsfehlstellungen als operatives Verfahren zum Gelenkerhalt aus dem orthopädisch-chirurgischen Spektrum nicht mehr wegzudenken. Dabei sind die genaue Lokalisation und Analyse der Deformität entscheidend, um durch eine geeignete Osteotomie wieder physiologische Belastungsverhältnisse des gesamten Beines zu erzeugen. So hat sich vor allem die mediale „Open-wedge“-Osteotomie als Standardverfahren zur Therapie der durch ein Varusmalalignment verursachten Gonarthrose etabliert. Des Weiteren zeigt auch die varisierende „Closed-wedge“-Osteotomie am distalen Femur sehr gute Langzeitergebnisse auf.

Noch relativ wenige Erkenntnisse hat man über das sogenannte Reboundphänomen. Darunter versteht man das Wiederauftreten der Fehlstellung nach zunächst erfolgreicher Korrektur der Beinachse und Entfernung des Implantats. Angaben zur Häufigkeit des Rebounds variieren sehr stark. In neueren Studien ist die Reboundquote sehr hoch und liegt im Mittel bei knapp 50 %. Dies zeigt die klinische Relevanz dieses unerwünschten Problems. Auch über mögliche Ursachen ist bisher wenig bekannt. Vor allem ein junges Alter bei Behandlungsbeginn mit hohem Restwachstumspotenzial nach Metallentfernung stellt ein erhöhtes Risiko für einen Rebound dar, welches durch eine entsprechende Überkorrektur der Beinachse minimiert werden kann.

Weitere Prädiktoren für das Reboundphänomen werden gerade in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Multicenterprojekt erforscht. Die Verbundpartner an der Klinik für Orthopädie (Friedrichsheim) des Universitätsklinikums Frankfurt am Main, an der Orthopädischen Kinderklinik in Aschau im Chiemgau, an der Orthopädischen Klinik der Medizinischen Hochschule in Hannover (MHH) und am Deutschen Zentrum für Orthopädie der Waldkliniken Eisenberg/des Universitätsklinikums Jena beteiligen sich am „Forschungsnetzwerk Muskuloskelettale Biomechanik (MSB-NET)“ der Sektion Grundlagenforschung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) und haben an diesem Themenheft mitgewirkt. Das vorliegende Themenheft hat die Aufgabe, zum einen den aktuellen Stand bei der Behandlung von Achsfehlstellungen des Knies darzustellen. Zum anderen sollen erstmals Möglichkeiten der Methode der instrumentellen Ganganalyse aufgezeigt werden, die vielleicht zu einer Optimierung der Behandlung von Achsfehlstellungen führen und das Risiko für eine wiederkehrende Achsfehlstellung minimieren kann.

Viel Spaß beim Lesen wünschen

Prof. Dr. Andrea Meurer

PD Dr. habil. Felix Stief

Dr. Chakravarthy U. Dussa