Die „Neuroorthopädie“ ist kein eigenständiges Fachgebiet. Sie umfasst die orthopädische Diagnostik, Funktionsanalyse, Behandlung, Prävention und Rehabilitation von Störungen des Bewegungsapparats bei neuromotorischen Erkrankungen. Es existiert jedoch keine international geläufige Definition. Im weiteren Sinn umfasst ihre Definition in den Lehrzielkatalogen zu den deutschsprachigen Facharztprüfungen alle orthopädisch relevanten Erkrankungen und Schädigungen des zentralen und peripheren Nervensystems. So gibt es Neuroorthopäden, die sich besonders mit Wirbelsäulenschmerzsyndromen oder Diskuschirurgie oder peripheren Engpasssyndromen interdisziplinär beschäftigen.

Eine Gruppe international gut vernetzter Neuroorthopäden arbeitet auf dem Gebiet komplexer orthopädischer Krankheitsbilder bei zerebralen Bewegungsstörungen und neuromuskulären Erkrankungen. Ihr Behandlungsziel ist die Verbesserung der Lebensqualität bei Haltungs-, Gang-, Greif- und Bewegungsstörungen aufgrund beispielsweise zerebraler und spinaler Entwicklungsstörungen, nach Insulten, Infektionen und Traumen des Zentralnervensystems.

Die „Neuroorthopädie“ kann somit in der Erfüllung dieser Kernaufgabe durch eine sehr spezifische Behandlungsphilosophie und -strategie definiert werden. Es handelt sich um ein Spezialgebiet, in dem ein gemeinsames Verständnis von Wert und Qualität des Lebens mit Behinderung sowie interdisziplinäres Denken und multiprofessionelle Zusammenarbeit in einem gut funktionierenden Netzwerk Voraussetzung sind für eine menschlich und fachlich hochwertige medizinische Arbeit. Der Pionier der Körperbehindertenfürsorge Konrad Biesalski erkannte dies bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Neuroorthopädische Probleme bedürfen einer systemischen Diagnostik und Therapie

Das Zusammenspiel des aktiven und passiven Bewegungsapparats ist ein hervorragendes Beispiel für ein komplexes biologisches System. Neuroorthopädische Probleme bedürfen daher einer systemischen Diagnostik und Therapie. Durch den Einfluss und die Synthese funktionell anatomischer, biomechanischer, neurophysiologischer, entwicklungsbiologischer, psychischer und sozialer Grundprinzipien stellt sie bei jedem einzelnen Patienten eine interessante neue Herausforderung dar.

Neuroorthopädische Diagnostik und Therapie müssen im kulturellen, regionalen und historischen Kontext sehr heterogen betrachtet werden. Sie sind abhängig von Epidemiologie und Wandel der neurologischen Krankheitsbilder. In den Staaten der Europäischen Union sind Infektionen des Nervensystems wie Poliomyelitis heute von Erkrankungen durch degenerative Veränderungen des Nervensystems und nach erfolgreichen intensivmedizinischen Interventionen rund um die Geburt und bei Unfällen verdrängt worden.

Je nach Kultur, Philosophie und Religion reichen Reaktionen der Gesellschaft auf Menschen mit Bewegungsbehinderung von Integration, besonderer Betreuung und wundertätiger Heilung bis zur Ausgrenzung als Inbegriff alles Bösen, Vernichtung und der heute im Zuge ökonomischer und biotechnologischer Diskussionen wieder gewagten Definition sog. „unwerten Lebens“. Neuroorthopäden sind aufgefordert im gesellschaftspolitischen Diskurs ethisch klare Positionen zu vertreten und fehlende Ressourcen einzufordern.

Im deutschen Sprachraum leben heute rund 70.000 Kinder mit einer schweren Form einer Zerebralparese und etwa 150.000 Menschen mit einer Hemiparese nach einem zerebralen Insult. Je nach der Lokalisation und dem Schweregrad der Schädigung des Gehirns liegen verschieden ausgeprägte Formen von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Lernstörungen vor.

Die primäre neurogene Schädigung ist nicht heilbar, aber sowohl von der Förderung und Rehabilitation der neurobiologisch formbaren Sensomotorik als auch von der Vorbeugung und Behandlung zusätzlich auftretender Probleme, wie Bewegungseinschränkung, -mangel und einseitiger Belastung, hängen das Erreichen einer ausreichenden Mobilität und Selbständigkeit und das Selbstbewusstsein des Patienten ab. Entsprechend leben Patienten entweder nur mit leichten Gang-, Haltungs-, Sprach oder Greifstörungen oder bedürfen einer intensiven pflegerischen Betreuung.

Die Therapieansätze der Neuroorthopädie müssen die individuellen Ziele und Wünsche des Patienten und seiner Familie und Betreuer berücksichtigen

Ob Menschen mit Bewegungsbehinderungen glücklich leben, hängt von ihrer Schmerz- und Bewegungsfreiheit, ihren selbständigen Aktivitäten in ihrer sozialen Umgebung ab. Aber auch von ihrem Recht auf Unvollkommenheit. Alle Therapieansätze der Neuroorthopädie müssen die individuellen Ziele und Wünsche des Patienten und seiner Familie und Betreuer berücksichtigen.

In der Zeit der frühen Rehabilitation nach akuten neurologischen Erkrankungen und in der Zeit des Wachstums entwicklungsgestörter Kinder liegt der Schlüssel zur späteren verbesserten Lebensqualität bewegungsbehinderter Menschen, hier beginnt der Arbeitsbereich der Neuroorthopädie.

Aus- und Weiterbildung haben für kleine Spezialgebiete große Bedeutung. Damit eine gemeinsame Sprache des Behandlungsteams gesprochen wird, muss sie interdisziplinär erfolgen. Der große Erfolg des 1. Kongresses „Focus Cerebralparese“ im Juni 2009 in Freiburg weist den richtigen Weg, in Österreich wurde im Oktober 2009 das 9. interdisziplinäre Neuroorthopädiesymposium veranstaltet und im November 2009 startete an der Donau-Universität Krems der erste berufsbegleitende Universitätslehrgang für „Neuroorthopädie – Disabilty Management“ mit Master-of-science-Abschluss.

Das vorliegende Sonderheft des Orthopäden zum Thema „Neuroorthopädie“ soll Ihnen in Überblicksbeiträgen international bekannter Autoren aus dem deutschen Sprachraum den „state of the art“ der Behandlung komplexer orthopädischer Krankheitsbilder bei zerebralen und neuromusklären Erkrankungen darlegen. Das Spektrum umfasst moderne Ansätze der orthopädisch-chirurgischen, orthopädietechnischen und medikamentösen Behandlung des reifenden und erwachsenen Bewegungsapparats bei neurogen und muskulär bedingten orthopädischen Veränderungen.

Im ersten Beitrag werden Grundlagen zur Pathophysiologie des Bewegungsapparats bei neuromotorischen Erkrankungen vermittelt. Neue Erkenntnisse zur Bedeutung der Muskulatur für die Entwicklung von neuromuskulären Deformitäten haben zu neuen diagnostischen und therapeutischen Ansätzen geführt.

Neue Entwicklungen der Bewegungsanalyse und aktuelle konservative und operative Behandlungsprinzipien werden in einem Beitrag zu gangverbessernden Maßnahmen bei Patienten mit Zerebralparese dargestellt. In der Behandlung der Spastik mit dem Neurotoxin Botulinumtoxin A interessieren aktuelle Indikationen und Anwendungsstrategien sowie Dosisfindung und Medikamentensicherheit.

Ein Beitrag beschäftigt sich mit der Pathophysiologie, „state of the art“ konservativer und operativer Behandlungsverfahren bei neurogenen Fußdeformitäten. Zur Neuroorthopädie der oberen Extremitäten erhalten Sie einen Überblick über die Pathophysiologie und den „state of the art“ der konservativen und operativen Behandlungsverfahren.

In einer kurzen Zusammenfassung bietet Ihnen der Beitrag zur Orthesenversorgung bei neuromotorischen Erkrankungen eine aktuelle Darstellung der Wirkungsweise neuer Hilfsmittel für Lagerung, Sitzen, Stehen und Fortbewegung bei neurologischen Erkrankungen.

Zu den häufigsten Muskelerkrankungen werden aktuelle Strategien der konservativen und operativen Therapie zusammengefasst. Welche Art der Qualitätssicherung in der Neuroorthopädie heute durch Outcomemessung, Fehleranalyse, Qualitätsstandards der ambulanten, stationären, orthopädietechnischen und Reha-Versorgung und der Aus- und Weiterbildung möglich ist, wird im letzten Beitrag des Heftes umrissen.

Neuroorthopädische Krankheitsbilder werden auch in Zukunft einem steten Wandel unterliegen. Möglichkeiten und Grenzen der Neurologie, Intensivmedizin, molekulargenetischen Diagnostik und Therapie werden diesen Wandel mitbestimmen.

Motorik und Bewegungsapparat des Patienten werden als komplexes Bewegungssystem, beeinflusst von Krankheit und Gesundheit, Armut und Wohlstand, in Zukunft einer noch exakteren Diagnostik und Analyse zugänglich werden. Die Hoffnungen in die Vorbeugung und Behandlung von Erkrankungen, die Mobilität und Selbständigkeit jedes Menschen bis ins hohe Erwachsenenalter nicht beeinträchtigen dürfen, werden daher weiter steigen. Verbesserungen im Zusammenspiel des multiprofessionellen Behandlungsteams werden Motor einer Weiterentwicklung sein. Körpereigenes Gewebe und neuartige Materialien der Werkstoffwissenschaften werden Trans- und Implantationen in der chirurgischen Neuroorthopädie und die neuroorthopädische Orthetik und Prothetik verändern, wenn dadurch ein neuer Standard der Biokompatibilität und des Komforts und eine nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität des wachsenden und erwachsenen Menschen erreicht werden können.

Wir hoffen Ihnen mit dem vorliegenden Querschnitt durch die „Neuroorthopädie“ eine fundierte und praxisnahe Information zu diesen wichtigen orthopädischen Themen geben zu können.

W.M. Strobl