Leitlinien der Fachgesellschaften sollten im besten Fall den gegenwärtigen Standard beschreiben und – soweit möglich und erforderlich – Ansätze für künftige Standards aufzeigen. Rechtlich sind Leitlinien grundsätzlich nicht geeignet, den Standard zu setzen, jedoch können sie auch bei der rechtlichen Anerkennung der Standardentwicklung eine erhebliche Rolle spielen. Im Rahmen der Weiterentwicklung der Fernbehandlung gilt es besonders, Augenmaß hinsichtlich der zusätzlichen Gefahren zu haben, die mit dem erforderlichen Technikeinsatz und den fehlenden Vor-Ort-Möglichkeiten von Diagnostik und Therapie einhergehen. Zudem müssen Strukturen und Prozesse nicht nur beschrieben und adäquat angepasst werden, sondern es bedarf auch entsprechender Ausbildung von Ärzteschaft und Personal sowie einer fachgerechten Anbindung an erforderlichen informationstechnischen Support.

Einleitung

Der Fachbereich Gynäkologie steht zunehmend vor der Frage, ob telemedizinische Versorgung bis hin zur reinen Fernbehandlung für bestimmte Ansätze von Diagnostik, Aufklärung und Therapie sinnvoll und verfolgenswert erscheinen. Mit fortschreitenden Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik bieten sich in der Frauenheilkunde zunehmend Erwägungen, die in diese Richtung deuten.Footnote 1 Unmittelbar einleuchtend sind entsprechende Ansätze in allen Bereichen der sprechenden Medizin. Frauen können schnelle und wertvolle Beratung in der Videosprechstunde zu Verhaltensweisen bei bestimmten Beschwerdebildern, etwa im Rahmen erheblicher Periodenkrämpfe oder bei Sorgen und gesundheitlichen Schwierigkeiten in den Wechseljahren, Unterstützung nach Fehlgeburten und psychologische Betreuung im Rahmen der Schwangerschaft erhalten. Aber auch andere Bereiche sind auf dem Vormarsch.

Für sorgfältige Diagnostik auch über Distanz gibt es bereits belastbare Ansätze

Es existieren belastbare Ansätze für sorgfältige Diagnostik auch über Distanz, etwa in Fällen des Verdachts auf Scheidenpilz (Kandidose) in Abgrenzung zur bakteriellen Vaginose (wobei ggf. Probenübersendung erforderlich werden kann), aber auch schon Möglichkeiten der Fernüberwachung einer Schwangerschaft unter Einbindung von Gerätschaften, die der Schwangeren mit nach Hause gegeben werden können und Gesundheitsdaten in Echtzeit übermitteln (in besonderen Fällen etwa ein kardiales Monitoring von Mutter wie Fetus und dergleichen). Therapeutisch kommen bislang nur Verschreibungen von Medikationen unter Nutzung des E‑Rezepts in Betracht, wobei die gebotene Diagnostik vielfach nach fachärztlichem Standard verlangen wird, dass reine Fernbehandlung a priori ausscheidet und ein Einsatz nur für Folgemedikationen zu erwägen ist (etwa die dauerhafte Verschreibung von Verhütungsmitteln, wobei auch hier insbesondere die Beratung und nachfolgende Umstellung auf einen anderen Ansatz ggf. im Wege telemedizinischer Versorgung möglich sein kann).

Die Vor- und Nachteile dieser Entwicklung liegen vor dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten Jahre bereits recht deutlich zutage.

Auch im Umgang mit knappen Ressourcen erscheint manch telemedizinische Versorgung effizienter

Überfüllte Praxen, Ansteckungsgefahren und weite Wege können vermieden, das Problem der schwächeren Landarztversorgung kann abgemildert werden. Auch im Umgang mit knappen Ressourcen erscheint manch telemedizinische Versorgung effizienter als der klassische Gang zum Arzt. Das gilt schon deshalb, weil eine deutlich erhöhte Flexibilität mit Blick auf Sprechstundenzeiten und Erreichbarkeit mit der Fernversorgung einhergeht. Dem stehen berechtigte Sorgen der Sicherung des fachmedizinischen Standards respektive aller Parameter der Behandlungsqualität gegenüber. Krankheitsbilder können über die Ferne verkannt werden, Auskünfte der Patientinnen werden nicht oder deutlich weniger durch das ärztliche Auge gegengeprüft, und es steht auch die Frage im Raum, wie missbrauchsanfällig telemedizinische Systeme sein können (das gilt sowohl im Bereich ärztlicher Abrechnung als auch mit Blick auf Patientinnen, die in Wahrheit nicht bestehende Probleme gezielt vorschieben, um etwa Krankschreibungen zu erreichen, hierzu etwa die heutige Vorgabe sorgfältiger Prüfung in § 25 S. 1 der jeweils anwendbaren Berufsordnung Ärzte). Zudem gibt es immer wieder gesundheitsdatenschutzrechtlichen Kummer hinsichtlich der Übertragung und der Sicherheit gegen unzulässige Einblicke Dritter. Die Pro- und Kontra-Liste ließe sich noch um ein Vielfaches erweitern.

Wenn die telemedizinische Versorgung aber Teil der Gegenwart ist und ggf. ein erheblicher Teil der gynäkologischen Zukunft sein kann/soll, ist ihre sachgerechte Begleitung und sinnvolle Einhegung unumgänglich. Ein bedeutsamer Schritt aus der Ärzteschaft heraus bildete die Schaffung einer Leitlinie, etwa seitens der hier zuständigen Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG).Footnote 2 Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, aus medizinrechtlicher Perspektive aufzuzeigen, welchen Sinn und Einfluss eine solche Leitlinie haben könnte.

Eine rechtliche Bewertung kann jedoch nur gelingen, wenn zunächst ein Blick darauf geworfen wird, was Leitlinien nach herrschender Rechtsprechung und Literatur innerhalb juristischer Bewertung und Nutzung zu leisten imstande sind.

Der zivilrechtliche Ansatz des Behandlungsstandards

Ausgangspunkt ist für den Rechtsanwender die zivilrechtliche Standardbestimmung gemäß § 630a Abs. 2 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch). Trotz mancher Kritik hat sich die folgende Definition seit Jahrzehnten gehalten: „Standard in der Medizin repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat.“Footnote 3 Da Gerichte mangels fachmedizinischer Expertise nicht in der Lage sind, selbst die Ordnungsgemäßheit des ärztlichen Vorgehens in der singulär streitigen Situation zu bestimmen, bedarf es einer eingehenden Aufarbeitung von dritter Seite, die üblicherweise im Wege der Sachverständigenbegutachtung gemäß §§ 402 ff. ZPOFootnote 4 (Zivilprozessordnung) stattfindet.Footnote 5 Diese Begutachtung greift nebst Parteidarstellungen, ärztlicher Dokumentation und vielfach auch eigenständiger Untersuchung des Betroffenen auf das Wissen aus Leitlinien der Fachgesellschaften zurück. Zugleich nutzen die Parteivertreter Vorgaben der Leitlinien zur Untermauerung ihrer Standpunkte.

In der Rechtsprechung und in der rechtswissenschaftlichen Literatur ist bis heute lebhaft umstritten, welchen Stellenwert Leitlinien letztlich bei der Urteilsfindung einnehmen.Footnote 6 Generell anerkannt ist im Wesentlichen, dass eine für den Einzelfall einschlägige Leitlinie nicht mit der erforderlichen ärztlichen Sorgfalt i.S.d. § 630a Abs. 2 BGB gleichgesetzt werden kann. Leitlinien weisen unterschiedliche Belastbarkeits- und Evidenzgrade auf (S1, S2k, S2e, S3)Footnote 7, können noch sehr frisch zusammengetragen oder auch überaltert sein, sind nicht stets vollauf situationsadäquat, weil Sonderumstände des jeweiligen Patienten keine Berücksichtigung fanden u.V.m. Daher wirken Leitlinien auch nicht wie antizipierte Sachverständigengutachten.Footnote 8

Leitlinien wirken nicht wie antizipierte Sachverständigengutachten

Zudem sei beachtet, dass medizinische Fachgesellschaften weder demokratische noch rechtsstaatliche Legitimation aufweisen und dementsprechend nicht zur Normsetzung berufen sind. Die heutige Rechtsprechung behilft sich daher mit einem Verständnis einer indiziellen Wirkung und einer hiermit einhergehenden Verschiebung der Begründungslast. Weicht die situativ in Streit stehende ärztliche Versorgung von den Vorgaben einer nachvollziehbar in diesem Fall einschlägigen Leitlinie ab und ist eine Fehlerhaftigkeit oder Überalterung der Leitlinie nicht ersichtlich, so ist es an der Behandlungsseite, diese Abweichung nachvollziehbar zu erklären. Der berufene gerichtliche Sachverständige ist sodann gehalten, Chancen und Risiken erkannter Abweichungen gerade auch mit Blick auf die Leitlinienvorgaben zu bewerten und dem Gericht alle Informationen zu verschaffen, um eine tragfähige Entscheidung für oder gegen einen Behandlungsfehler zu treffen. Je stärker der Evidenzgrad der Leitlinie ist (dies gilt laut Rechtsprechung ganz besonders für S3-Leitlinien), desto höher solle dies für die richterliche Überzeugungsbildung i.S.d. § 286 ZPO wirken.Footnote 9

Das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)

Außerhalb des Haftungsrechts sind Leitlinien der Fachgesellschaften rechtlich von untergeordneter Bedeutung. Das Finanzierungsrecht der GKV beinhaltet mit den dort von Gesetzes wegen bindenden Richtlinienvorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) ein eigenständiges System, wonach der Sozialgesetzgeber in den §§ 2, 12 Abs. 1 SGB V (Sozialgesetzbuch) Grundsatzvorgaben für das gesamte Gefüge gemacht hat (ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung, die das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf), diese Vorgaben dann für die Bereiche der Versorgung der Versicherungsnehmer in den §§ 27 ff. SGB V aufgegliedert und letztlich für die ambulante Versorgung durch Richtlinien des G‑BA spezifiziert werden (§§ 91 Abs. 6, 92, 135 SGB V), während im stationären Sektor bei zugelassenen Krankenhäusern nach den §§ 107 ff., 137c SGB V gilt, dass diese jede Maßnahme i.S.d. §§ 2, 12, 27 ff., 39 SGB V zulasten der GKV vornehmen dürfen, solange der G‑BA eine solche etwa aus Kostengründen nicht durch Richtlinie unterbunden hat (allerdings gilt auch hier der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz).Footnote 10 Leitlinien dienen in diesem Bereich insbesondere für den G‑BA als Stütze, um den Stand von Wissenschaft und Technik in der Medizin bei der Richtlinienerschaffung nachvollziehen zu können oder ggf. auf die Überholung einer Richtlinie aufmerksam zu werden. Auf die damit einhergehende Diskrepanz zwischen dem, was GKV-rechtlich bezahlt (hier unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots) und dem, was haftungsrechtlich geboten ist (hier laut bisheriger höchstrichterlicher Rechtsprechung unter völliger Missachtung jeglicher Wirtschaftlichkeitsgedanken), wird in der bisherigen Rechtsprechung nahezu keine Rücksicht genommen.Footnote 11

Die private Krankenversicherung (PKV)

Das Recht der PKV basiert gemäß § 192 Abs. 1, 2 VVG auf dem Prinzip der vertraglichen Einigung zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer, sodass der Leistungsumfang detailliert vertraglich festgelegt wird (regelmäßig durch ausführliche Allgemeine Versicherungsbedingungen [AVB]). Diesen Detailbeschreibungen von Einschlüssen und Ausschlüssen liegen im Übrigen aber gesetzlich vorgegebene allgemeine Parameter zugrunde (medizinische NotwendigkeitFootnote 12, § 192 Abs. 1 VVG [Versicherungsvertragsgesetz]), die letztlich eine Anbindung an den medizinischen Standard begründen, sodass auch dort die Einbeziehung von Leitlinien zur Erhärtung oder Widerlegung der Standardwahrung einbezogen werden können.

Berufs- und strafrechtlicher Annex – überschießendes Berufsrecht

Berufs- und Strafrecht folgen in ihren Bewertungen weithin der Standardidee und den Qualitätsvorgaben bei der ärztlichen Versorgung, die im zivilrechtlichen Haftungsrecht begründet werden, sodass hier ein sinnvoller Gleichlauf entsteht (es wäre nicht nachvollziehbar, wenn berufs- oder strafrechtlich generell gegeißelt würde, was zivilrechtlich erlaubt oder gar geboten erscheint). Speziell für den Bereich der Telemedizin und reiner Fernbehandlung finden sich in § 7 Abs. 4 der Berufsordnungen aller Kammern Sondervorgaben. Diese sind überwiegend vereinheitlicht; die wesentlichste Abweichung findet sich in § 7 Abs. 4 BO (Berufsordnung) Brandenburg, wo der von der BÄK (Bundesärztekammer) vorgeschlagene und vom 121. Deutschen Ärztetag für die MBO‑Ä ([Muster-]Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte) abgesegnete § 7 Abs. 4 S. 3 mit einer Öffnung für die reine Fernbehandlung nicht aufgenommen worden ist.

Leitlinien haben mithin im Berufs- und Strafrecht entsprechenden Einfluss auf den ärztlichen Standard und die damit erforderliche Behandlungsqualität, jedoch können mit Blick auf erwähnte Sondervorgaben speziell im Bereich von Telemedizin und reiner Fernbehandlung der Freiheit besondere Grenzen gesetzt sein, über die sich eine Leitlinie ebenso wenig hinwegsetzen dürfte, wie es dem einzelnen Leistungserbringer in der Situation erlaubt wäre.

Inhaltlicher Ansatz und Nutzen einer Fernbehandlungsleitlinie in der Gynäkologie

Leitlinien zur Fernbehandlung werden zunehmend entstehen, wie dies eingangs begründet worden ist. Eine Vorlage hat die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) für den Bereich der Intensivmedizin mit einer S1-Leitlinie gestaltet.Footnote 13 Zentrale Anliegen, die gleichermaßen in einer Leitlinie für die Gynäkologie zu beachten wären, sind die Erfassung relevanter Indikationsfelder für den Einsatz von Telemedizin, die Herausarbeitung erforderlicher Strukturen und Prozesse und deren Standardisierung, um qualitative und quantitative Evaluationen zu ermöglichen, Fragen der Effizienz hinsichtlich Strukturen, Verfahrensweisen und Ergebnissen bei der Versorgung, Chancen und Risiken hinsichtlich der Patientinnen und Aspekte der Finanzierung. All dies wird letztlich auf den Versuch hinauslaufen, mittels einer Leitlinie die bisherigen gelungenen Ansätze in der medizinischen und technischen Forschung und Praxis aufzugreifen, bereits erkannte Misserfolge als ungewollte Risikospektren auszuschließen und die Versorgungsqualität mit dem Vorschlag für einen echten Fernbehandlungsstandard fortzuentwickeln.

Rezipierung und Bewertung durch das Recht sowie Hinweise an die Autorinnen und Autoren einer solchen Leitlinie

Soll eine solche Leitlinie Einfluss im geltenden Recht erhalten, so muss sie den Versuch unternehmen, einen Konsens der Medizin als Wissenschaft und Praxismaterie abzubilden, bei welchem auch ein gerichtlich berufener Sachverständiger in einem hypothetisch gedachten Haftungsprozess die dort zu findenden Inhalte als Stand von Wissenschaft und Technik beschreiben würde, die ärztlicher Erfahrung entsprechen und einer hinreichenden Erprobung unterliegen. Soweit das (noch) nicht möglich ist, sollten zentral solche Inhalte aufgenommen werden, die nach ausführlicher Erörterung und Gewissensanstrengung Standardpotenzial aufweisen.

Zentral sollte aufgenommen werden, was nach Erörterung und Gewissensanstrengung Standardpotenzial hat

Speziell für den Bereich der Fernbehandlung sind jedoch einige Punkte besonders zu berücksichtigen, welche die Flexibilität von Rechts wegen gezielt einschränken und daher a priori dringend zu beachten sind.

Begrenzendes Privat- und Berufsrecht

§ 7 Abs. 4 MBO‑Ä, dem die meisten der 17 ärztlichen Berufsordnungen in Deutschland nachgebildet sind, lautet: „Ärztinnen und Ärzte beraten und behandeln Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt. Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.“ Aus diesen Vorgaben folgt, dass die Leitlinie im Rahmen frauenärztlicher Versorgung nur solche Erwägungen anstellen dürfte, bei denen in jedem Einzelfall sorgsam vorab erwogen wurde, ob dies fachgynäkologisch vertretbar ist.Footnote 14 Die (noch) herrschende Meinung in Rechtsprechung und juristischer Literatur liest dies dahingehend – ebenso übrigens auch das bisherige Verständnis in § 630a Abs. 2 BGB –, dass die fachärztliche Versorgung qualitativ nicht gegenüber jener zurückbleiben dürfe, die im Rahmen frauenärztlicher Versorgung in der Praxis angeboten werden könnte.Footnote 15 Der Fernbehandler müsste nach dieser Ansicht also stets zu 100 Prozent sicherstellen, dass Qualität und Sicherheit von Diagnostik und Therapie das Niveau der Vor-Ort-Behandlung nicht unterschreiten. Es soll bislang zugleich auch nicht erlaubt sein, ökonomische Vorteile, die der Patientin konkret erklärt und angeboten werden, einer Absenkung des Standards durch Einzelfallvereinbarung entgegenzustellen. Dies überrascht, da § 630a Abs. 2 2. HS. BGB ausdrücklich eine abweichende Parteivereinbarung zulässt. Diese soll jedoch nur standardmodifizierend oder standardüberschreitend, nicht jedoch standardabsenkend getroffen werden können, was erstaunlich paternalistisch anmutet. Daher vertritt der Verfasser auch die Gegenthese und möchte dafür werben, es künftig verstärkt den Parteien des Behandlungsvertrags zu überlassen, ob sinnvolle Gründe für eine Fernbehandlung gesehen werden.Footnote 16 Beispielhaft sei darauf hingewiesen, dass Frauen mit körperlichen Beeinträchtigungen trotz erheblicher damit zusammenhängender Beschwerden den Gang zum Frauenarzt antreten können, im Rahmen des noch Vertretbaren aber vielfach sicherlich lieber davon absehen würden, wenn es telemedizinische Versorgungsvarianten gäbe. Solche Erwägungen müssten selbstverständlich stets mit einer gesonderten fernmündlichen und sehr deutlichen Belehrung der Ärzteschaft einhergehen, dass über die Ferne Diagnostik erschwert sein kann und viele Möglichkeiten von Erkenntnisgewinnung und Therapie nicht zur Verfügung stehen. Entscheidet sich aber eine in dieser klaren Form informierte Patientin für den Einsatz eines telemedizinischen Verfahrens, ist nicht einzusehen, weshalb das Recht den Parteien weitergehende begrenzende Vorgaben machen dürfte. Dies gilt auch für ökonomische Belange, etwa weil die Patientin ländlich lebt und einen sehr weiten Anfahrtsweg hat oder weil es in der konkreten Situation an einer hinreichenden Krankenversicherung mangelt und eine bestimmte Diagnostik oder Therapie, die fachgynäkologisch vielleicht erforderlich sein könnte, auf Patientinnenwunsch letztlich nicht durchgeführt werden soll, während das telemedizinische Verfahren im Übrigen alles bereithält.

Neben den Risiken für die Patientin stellt technisches Versagen auch erhebliche Haftungsrisiken dar

Noch ein Sonderpunkt ist die Frage funktionaler Technik, die dringend in eine Leitlinie aufzunehmen sein wird. Übertragungsfehler, schlechte Bildqualität, Unterbrechungen, Datenverlust und viele weitere die Versorgung der Patientinnen belastende Momente sind spezielle Gefahren der Fernbehandlung. Eine Leitlinie für einen Fernbehandlungsstandard sollte in jedem Fall strukturell, mit Blick auf die Prozesse und das Können der Mitarbeiter/innen sowie hinsichtlich der Aufklärung der Patientinnen zielgerichtete Vorgaben machen, wie mit diesen Facetten umzugehen ist und dass die Patientinnen stets deutlich vor Augen geführt bekommen, ab welchem Moment Unsicherheiten und sonstige Umstände zwingend durch eine zusätzliche Untersuchung oder Behandlung vor Ort ausgeräumt werden müssen. Jedes technische und letztlich auf die Medizin wirkende Versagen birgt massive Gefahren für die Patientinnen und stellt rechtlich erhebliche Haftungsrisiken dar, die sich berufs-, zivil-, sozial- und sogar strafrechtlich auswirken können.

Fazit für die Praxis

  • Diese ersten Ansätze und Hintergründe sollten verdeutlicht haben, was eine ärztliche Leitlinie im Rahmen der Schaffung eines Fernbehandlungsstandards bewirken kann. Ist diese sorgsam zusammengetragen und mit Augenmaß so erstellt, dass fachgynäkologisch und auch unter Berücksichtigung erforderlicher Technik und Schulungen letztlich ein gynäkologischer Sachverständiger in einem hypothetischen Zivilprozess im Zweifel die Aussage treffen würde, dass das dort beschriebene Vorgehen adäquaten Anforderungen gynäkologischer Patientinnenversorgung entspricht, so bildete diese Beschreibung eine wunderbare Vorlage für die Praxis.

  • Zudem könnten sich die Autorinnen und Autoren mutig, aber maßvoll daran begeben, Fortentwicklungen mit Standardpotenzial zu beschreiben. Die Leitlinie könnte dann zunehmend zur Grundlage für einen noch kommenden Standard avancieren.

  • Um das Problem der Finanzierung und generell etwaiger ökonomischer Erwägungen ein Stück weit für Patientinnen und Ärzteschaft abzumildern und möglichst wenig in den umstrittenen Bereich standardunterschreitender Parteivereinbarungen zu verschieben, ist anzuraten, die Leitlinie auch sinnvoll kostensensibelFootnote 17 zu gestalten, ohne freilich unzumutbare Gefahren für Patientinnen zu riskieren.