Zunehmend werden neben klassischen IVF(In-vitro Fertilisation)-Therapien nichtklassische IVF-Therapien ganz ohne Stimulation (Natural-Cycle-IVF, NC-IVF) oder mit einer nur sehr geringen Gonadotropinstimulation (Minimal-Stimulation-IVF) durchgeführt. Trotz der offensichtlichen Vorteile der nichtklassischen IVF-Therapien bei definierten Zielgruppen und Indikationen werden diese Therapien kontrovers diskutiert. Einer der Gründe ist sicherlich das nicht mehr zeitgemäße deutsche IVF-Kostenerstattungssystem, welches nichtklassische IVF-Therapien benachteiligt.

Prinzipien der verschiedenen Therapien

Als eine Form der nichtklassischen IVF basiert die NC-IVF, auf einer natürlichen Follikelrekrutierung und -selektion. Die Follikel- und die Lutealphase sind entsprechend nicht hormonell substituiert. Es wird angenommen, dass das Implantationspotenzial pro gewonnener Oozyte höher ist als bei einer klassischen IVF [1, 2], allerdings kann dies nicht in allen Studien bestätigt werden. Zur Reduktion des Risikos einer vorzeitigen Ovulation können nichtsteroidale Antirheumatika, Einzeldosen von GnRH(Gonadotropin-releasing Hormon)-Antagonisten und niedrige Dosen von Clomifencitrat oder Letrozol eingesetzt werden [3, 4]. In diesem Fall wird von modifizierten NC-IVF-Therapien gesprochen. Die Therapien können monatlich durchgeführt werden, pro Zyklus sind 1–2 Follikelkontrollen erforderlich. Die Follikelpunktion erfolgt ohne Narkose. Diese Therapien sind besonders effektiv bei einem niedrigen Alter der Frauen und Paaren mit einer kurzen Dauer der Sterilität (Tab. 1).

Tab. 1 Positive prognostische Faktoren für den Erfolg einer NC-IVF und einer klassischen IVF [2, 14, 15]

Bei einer weiteren Form der nichtklassischen IVF, der Minimal-Stimulation-IVF werden, soweit möglich, die Vorteile der NC-IVF und der klassischen IVF (Tab. 2) genutzt. Durch eine leichte Hormonstimulation werden meist mehrere Oozyten gewonnen, sodass die Erfolgschance höher als bei der NC-IVF ist (Tab. 3). Auch diese Therapien können monatlich durchgeführt werden, und eine Narkose zur Follikelpunktion ist nicht erforderlich.

Tab. 2 Vor- und Nachteile einer NC-IVF im Vergleich zu einer klassischen IVF. Minimal-Stimulation-IVF-Therapien liegen hinsichtlich der Vor- und Nachteile zwischen NC-IVF- und klassischen IVF-Therapien
Tab. 3 Ergebnisse verschiedener IVF-Therapieprotokolle. Dargestellt sind die Parameter, die einen Vergleich der Therapien ermöglichen. Bei Berücksichtigung der kursiv gesetzten Parameter kann die Schwangerschaftsrate pro initiierter Therapie berechnet und verglichen werden (Abb. 4). Ein statistischer Vergleich mit Adjustierung von Einflussfaktoren wurden nicht durchgeführt

Bei der klassischen IVF wird die ovarielle Funktion mit Hilfe von GnRH-Analoga und Gonadotropinen kontrolliert. Entsprechend sind sowohl die Follikel- als auch die Lutealphase hormonell substituiert. Das Ziel ist, möglichst viele Oozyten zu gewinnen, 1–2 Embryonen zu transferieren und die überzähligen Zygoten/Embryonen für einen Auftauzyklus oder, falls eine Schwangerschaft eintritt, für einen späteren Kinderwunsch zu konservieren.

Als IVF-Naturelle bezeichnen die Mitglieder des IVF-Naturelle®-Netzwerks (Infobox 1, Abb. 1) NC-IVF- und Minimal-Stimulation-Therapien mit einer maximalen Gonadotropindosis von 75 E humanes Menopausen-Gonadotropin (HMG)/FSH (Abb. 23 und 4; Tab. 3). Es gelten die Prinzipien der NC-IVF, wie Follikelpunktionen ohne Narkose, keine Kryokonservierung von Zygoten/Embryonen und die Vermeidung von Mehrlingsgraviditäten.

Abb. 1
figure 1

Zentren in den deutschsprachigen Ländern, die schwerpunktmäßig nichtklassische IVF(In-vitro-Fertilisation)‐Therapien durchführen. (Mit freundl. Genehmigung, ©SoftconsuLt [Marburg, Deutschland], alle Rechte vorbehalten)

Abb. 2
figure 2

Patientenorientierte Vorgehensweise bei einer Indikation für eine IVF(In-vitro-Fertilisation)-Therapie

Abb. 3
figure 3

Algorithmus für die Durchführung von nichtklassischen vs. klassischen IVF(In‐vitro‐Fertilisation)‐Therapien. Beide Therapien sind nicht als streng getrennte therapeutische Pfade zu verstehen, sondern ein Wechsel unter den Therapiepfaden ist möglich (weißer Schatten). (aIVF‐Naturelle = Natural‐Cycle‐IVF ohne Gonadotropinstimulation (NC-IVF) und IVF mit minimaler Gonadotropinstimulation (Min. Stim.-IVF). Ziel: monatliche Zyklen, keine Narkose, keine Kryokonservierung)

Abb. 4
figure 4

Kumulative Schwangerschaftsrate nach der Durchführung der dargestellten Zyklenzahl sowie die damit einhergehende Anzahl an Konsultationen und Kosten, basierend auf den Daten der Tab. 3. aGemäß Tab. 3, bGemäß [17]. IVF In-vitro-Fertilisation, NC-IVF Natural-Cycle-In-vitro-Fertilisation, Cc Clomifencitrat

Infobox 1 Mehr Informationen zum Thema

www.IVF-Naturelle.com

Merksatz.

Bei der NC-IVF ist bis auf die eisprungauslösende Spritze keine Hormonsubstitution erforderlich.

Indikationen für und gegen nichtklassische und klassische IVF-Therapien

Die Indikationen für oder gegen eine der IVF-Therapien leiten sich sowohl von den individuellen Wünschen des Paares (Abb. 2) als auch von den individuellen Erfolgschancen und damit von objektiven Prognosefaktoren (Tab. 1) ab.

Die Wünsche des Paares, insbesondere der Frau, sind oft individuell, aber auch kulturell sehr unterschiedlich und können sowohl von vorherigen Erfahrungen bei IVF-Therapien als auch religiös geprägt sein. Manche Frauen entwickeln bei einer klassischen IVF Nebenwirkungen, sodass sie eine Gonadotropinstimulation bei weiteren Therapieversuchen ablehnen. Aus religiösen Gründen wünschen manche Paare keine Embryoselektion und/oder keine Kryokonservierung von Embryonen und bevorzugen damit eine nichtklassische IVF.

Andererseits wünschen manche Paare diejenige Therapie mit der kürzesten „time to pregnancy“, und damit eine klassische IVF mit dem Transfer mehrerer Embryonen, und sind auch bereit, das Risiko von Mehrlingen in Kauf zu nehmen.

Unabhängig von den individuellen Wünschen steht meistens der Erfolg der Behandlung im Zentrum des Entscheidungsprozesses. Aufgrund dessen kann es sinnvoll sein, die individuellen Wünsche nachgeordnet zu betrachten und die medizinischen Voraussetzungen in den Vordergrund zu stellen. So ist eine klassische IVF bei Low Respondern, bei denen sich unter einer hochdosierten Gonadotropinstimulation nur 1–2 Follikel bilden würden, wenig sinnvoll. Bei einer Frau um die 40 Jahre mit einer noch gut erhaltenen Ovarreserve ist hingegen die Behandlung mit der kürzesten „time to pregnancy“ und damit eine hochdosierte klassische IVF zu bevorzugen. Ein Algorithmus, der die individuellen Wünsche, aber auch die medizinischen Voraussetzungen bei der Indikationsstellung berücksichtigt, ist in Abb. 2 wiedergegeben.

Im Gegensatz zu den individuellen Wünschen lassen sich Prognosefaktoren für den Eintritt einer Schwangerschaft objektivieren. In Tab. 1 sind die Prognosefaktoren dargestellt, die bereits bei der Beratung der Paare bekannt sind und somit für die Indikationsstellung einbezogen werden können.

Merksatz.

Die Indikation für bzw. gegen eine der Therapien wird nicht nur von den medizinischen Voraussetzungen, sondern auch von dem Wunsch des Paares beeinflusst.

Wie wirksam sind die Therapien?

Die Erfolgsraten der NC-IVF können nur bedingt mit der klassischen IVF verglichen werden, da es sich um gänzlich verschiedene Therapien handelt. Entsprechend wurde auch noch keine Studie mit einem Head-to-head-Vergleich beider Therapien durchgeführt.

Um die Erfolgsraten zu vergleichen, führen wir derzeit eine große Studie durch, bei der erstmals die Zyklen der klassischen IVF mit verschiedenen Protokollen der NC- und der Minimal-Stimulation-IVF verglichen werden (Tab. 3). Wesentlich ist, dass alle Therapien im selben Zentrum durchgeführt wurden, um eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Der Vergleich basiert auf Zyklen mit einem intendierten Frischtransfer und den Parametern „Anzahl Zygoten“, „Entwicklungsrate Zygote zum Tag-2-Embryo“ und „Implantationsrate pro Transfer von Tag-2-Embryonen“ (Tab. 3, kursiv gesetzter Text). Eine Vergleichbarkeit erfordert auch, dass bei einer Kryokonservierung nur Zygoten konserviert werden (wie in der Schweiz bis 08/2017 erfolgt) und dass eine 100 %ige Überlebensrate beim Auftau und die gleichen Entwicklungs- und Schwangerschaftsraten wie beim Frischtransfer angenommen werden.

In Tab. 3 sind die Daten einiger Therapieprotokolle des ersten analysierten Jahrgangs dargestellt. Geplant ist die Auswertung mehrerer Jahrgänge und ein statistischer Vergleich unter Berücksichtigung von Einflussfaktoren wie Alter, Anzahl bisheriger Therapien etc.

Die Ergebnisse nach Auswertung eines Jahrgangs:

  • eine gleiche Implantationsrate pro entnommener Eizelle für alle Protokolle,

  • eine deutliche Abhängigkeit der Erfolgsrate der NC-IVF von der Transferrate, die individuell stark variieren kann, und

  • eine deutliche Abhängigkeit der Erfolgsrate der Minimal-Stimulation-IVF, nicht aber der anderen Therapien, von der AMH(Anti-Müller-Hormon)-Konzentration (gemäß Anzahl Zygoten).

Werden die Daten graphisch aufgetragen und die kumulativen Schwangerschaftsraten, die Therapiedauer sowie der Aufwand und die Kosten miteinander verglichen (Abb. 4), so zeigen sich

  • bei der klassischen IVF eine kumulative Schwangerschaftsrate von 48 % und eine Therapiedauer von 4 Monate nach dem Transfer alle gewonnen Embryonen,

  • bei den nichtklassischen IVF-Therapien im Vergleich zur klassischen IVF eine ähnliche lange Therapiedauer, ein ähnlich großer Aufwand sowie ähnlich hohe Kosten pro erzielter Schwangerschaft und

  • bei der NC-IVF ein erhöhter Konsultationsaufwand pro erzielter Schwangerschaft.

Diese Daten entsprechen auch in etwa denen anderer Studien [5, 6]. Sunkara et al. [5] berechneten anhand britischer Registerdaten, dass 2,9–3,5 NC-IVF-Zyklen erforderlich sind, um eine klassische IVF-Therapie zu ersetzen.

Merksatz.

Drei bis 4 Zyklen einer NC-IVF oder einer Minimal-Stimulation-IVF sind etwa so effektiv wie ein kompletter Therapiezyklus einer klassischen IVF bei ähnlich großem Zeit- und Kostenaufwand.

Klassische und nichtklassische IVF-Therapien als komplementäre Therapiekonzepte

Was bedeuten oben genannte Daten und Darstellungen für die IVF-Therapie? Sie zeigen, dass die verschiedenen Therapien in Abhängigkeit von den Wünschen der Paare und den biologischen Voraussetzungen gewählt (Abb. 2) und miteinander kombiniert werden können (Abb. 3).

Die verschiedenen Therapien sind nicht als dogmatisch getrennt, sondern als komplementär anzusehen

Die verschiedenen Therapien sollten deswegen nicht als dogmatisch getrennte Therapiepfade angesehen werden. Das Paar muss mit dem Arzt entscheiden, mit welchem Therapiepfad gestartet werden kann und sollte. Je nach Therapieerfolg, d. h. Transferrate, Embryoqualität und Belastung durch die Therapie, wird entschieden, ob der eingeschlagene Therapiepfad weiter verfolgt wird oder ob die Therapie umgestellt werden sollte (Abb. 3).

Ein solches Vorgehen verhindert eine Indikation für eine IVF-Therapie nach dem Gießkannenprinzip und ermöglicht eine individualisierte Therapie mit hohen Erfolgschancen unter Berücksichtigung der Wünsche des Paares.

Merksatz.

Die verschiedenen IVF-Therapien folgen nicht streng getrennten Pfaden. Die Therapiepfade können sich während einer Behandlung kreuzen.

Sind die Kinder nach NC-IVF gesünder?

Schwangerschaften nach einer IVF gehen grundsätzlich mit einem höheren Fehlbildungsrisiko im Vergleich zu einer Spontanschwangerschaft einher. Das relative Risiko (RR) für eine kongenitale Fehlbildung beträgt bei IVF-Kindern 1,33 (95 %-KI [Konfidenzintervall] 1,24–1,43; [11]). Das bedeutet, dass das RR für eine Fehlbildung bei IVF-Kindern relativ um 33 % und absolut um ca. 1 % höher als bei Spontanschwangerschaften liegt. Dies mag an den der Infertilität zugrunde liegenden Faktoren per se liegen, aber auch an der IVF-Therapie selber, die eine hochdosierte hormonelle Stimulation, die Embryokultivierung und die Kryokonservierung einschließen [7]. Bei der NC-IVF treffen viele dieser Faktoren zu, nicht jedoch die ovarielle Stimulation, die Kryokonservierung von Embryonen und die Embryolangzeitkultur. Auch treten fast nie Mehrlinge auf, was ebenso die Risiken reduziert.

Der erste Faktor, die ovarielle Stimulation, verursacht supraphysiologische Östrogenkonzentrationen, die zu einer Dysfunktion des Endometriums und der Plazenta führen. Im Tiermodell wurde gezeigt, dass hohe Östradiolkonzentrationen sowohl einen negativen Effekt auf die Invasion der Spiralarterien in die Plazenta haben [8] als auch zu einen ödematösen Endometrium mit der Folge einer gestörten Trophoblastinvasion und Plazentation führen [9]. Diese Effekte könnten ursächlich sowohl für die erhöhten relativen Risiken (RR) für ein niedriges kindliches Geburtsgewicht („low birth weight“, <2500 g; RR 1,95, 95 %-KI 1,03–3,67; [10]) als auch für ein kindliches Untergewicht („small for gestational age“, Gewicht <10. Perzentile; [11]) bei hohen Östrogenkonzentrationen sein.

Der zweite Faktor, die im Ausland meist und in Deutschland zeitweise praktizierte Embryolangzeitkultur zur Embryoselektion, steht im Verdacht, zu epigenetischen Modifikationen mit funktionellen Störungen wie einem erhöhten Blutdruck bei IVF-Kindern [12] zu führen, da die Embryokultur in der sensiblen Phase der Etablierung und Entfernung genomischer Imprints erfolgt [11]. Allerdings ist der Effekt der IVF auf Störungen des Imprinting [13] bisher noch nicht umfassend untersucht.

Bei der NC-IVF bestehen vermutlich weniger Risiken für die Kindergesundheit

Der dritte Faktor, die Kryokonservierung von Embryonen, führt im Vergleich zu einem Frischtransfer bei einer stimulierten IVF zu einem erhöhten Risiko für eine schwangerschaftsinduzierte Hypertonie (1,29; 95 %-KI 1,07–1,56), Übergewicht („large for gestational age“; RR 1,54; 95 %-KI 1,48–1,61) und einem hohen Geburtsgewicht (RR 1,85; 95 %-KI 1,46–2,33; [16]).

Von Wolff und Haaf [11] haben Modifikationen der IVF-Therapien diskutiert, um die Risiken zu reduzieren. Zu diesen Modifikationen gehören auch die in diesem Artikel genannte Vermeidung einer ovariellen Stimulation, die Verkürzung der Embryokultur und die Kryokonservierung. Allerdings sind zum einen solche Modifikationen nicht immer möglich, zum anderen ist unklar, ob diese auch zu einem verbesserten Outcome beitragen.

Merksatz.

Es gibt bisher keine eindeutigen Belege dafür, dass die Kinder, die nach einer NC-IVF geboren werden, gesünder sind als Kinder nach einer klassischen IVF.

Kosten der NC-IVF und das Problem der Kostenerstattung

Die Kosten eines NC-IVF-Zyklus sind deutlich geringer als die eines klassischen IVF-Zyklus aufgrund der fehlenden Gonadotropinstimulation, der nicht erforderlichen Narkose und wegen des geringeren Aufwands im IVF-Labor [17]. Somit besteht für ein Paar mit guten Prognosefaktoren für einen Therapierfolg bereits nach nur 1–2 NC-IVF-Zyklen die Chance schwanger zu werden und somit erhebliche Kosten zu sparen.

Die Kosten pro erzielter Schwangerschaft, ohne Berücksichtigung der Kostenerstattung durch die Krankenkasse, sind bei der klassischen IVF und der NC-IVF in etwa gleich hoch (Abb. 4).

Allerdings liegt hier das Problem der inadäquaten Kostenerstattung in Deutschland. In Deutschland werden meist 3 IVF-Zyklen zu 50 % oder von privaten Krankenkassen gänzlich erstattet, egal ob es sich um eine aufwendige und damit teure klassische IVF-Therapien oder um einfache und damit kostengünstigere nichtklassische IVF-Therapien handelt.

Somit fördert die deutsche Kostenerstattungspolitik Therapien, die mit höheren maternalen und möglicherweise auch höheren kindlichen Risiken einhergehen.

Es gibt zwar erste Ansätze, dass Zusatzversicherungen in Einzelfällen zusätzlich nichtklassische IVF-Therapien erstatten, dennoch ist dies bisher die große Ausnahme und für die gesetzlichen Krankenkassen gilt dies nicht.

Der Missstand, dass die Wahl der Therapien nicht medizinischen, sondern politischen Grundsätzen folgt, ist dringend korrekturbedürftig. Politiker, Krankenkassen und Reproduktionsmediziner sind hier gleichermaßen gefragt.

Merksatz.

Das deutsche IVF-Kostenerstattungssystem fördert die Durchführung der klassischen, nicht aber der nichtklassischen IVF-Therapien, ein Missstand, der dringend einer Korrektur bedarf.

Warum werden nichtklassische IVF-Therapien kontrovers diskutiert?

Die Medizin befindet sich in einem ständigen Fluss. Werden neue Therapien eingeführt, stoßen diese häufig zunächst auf Widerstand und werden kontrovers diskutiert.

Beispiele in der Gynäkologie waren die Einführung der Laparoskopie, in der Geburtshilfe die Einführung der modifizierten Misgav-Ladach-Sectio.

In der Reproduktionsmedizin führt die Einführung von IVF-Therapien ohne oder mit nur einer leichten Stimulation zu einer ähnlichen Kontroverse. Diese beruht aber weniger auf einer wissenschaftlichen Evidenz, sondern eher auf philosophischen Betrachtungen, wie „natürlich“ oder „künstlich“, und weniger darauf, wie effektiv und sinnvoll die beiden IVF-Formen wirklich sind. Dass ein solcher Vergleich, basierend auf den Kriterien „Natürlichkeit“ und „Effektivität“ wenig sinnvoll ist, ist offensichtlich.

So sind bei der NC-IVF die Follikelrekrutierung und -selektion sowie die Lutealphase tatsächlich „natürlich“, der Prozess der Fertilisierung der Eizelle ist jedoch genauso „künstlich“ wie bei der klassischen IVF.

Auch der Faktor „Effektivität“ kann aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Der Befürworter der klassischen IVF wird unter „Effektivität“ die Schwangerschaftsrate pro Zyklus und Transfer betrachten. Der Befürworter der NC-IVF oder der Minimal-Stimulation-IVF verweist hingegen darauf, dass „Effektivität“ auch auf die Kosten, den Behandlungsstress, die Risiken etc. bezogen werden kann, und betonen, dass auch andere Faktoren als die reine Schwangerschaftsrate pro Zyklus und Transfer relevant sind.

Somit beruhen die Kontroversen eher auf verschiedenen Blickwinkeln und auf verschiedenen Wertesystemen.

Eine pauschale Befürwortung oder Ablehnung der klassischen und der nichtklassischen IVF ist nicht sinnvoll. Vielmehr sollte der Entscheid für oder gegen eine der beiden Therapien auf den biologisch medizinischen Voraussetzungen und den Wünschen des Paares unter Berücksichtigung der Vor- und Nachteile der Behandlungsformen (Tab. 2) beruhen. Eine solche patientenorientierte Vorgehensweise ist in Abb. 2 dargestellt. Ob die gewählte Einstiegstherapie weitergeführt wird, muss im Verlauf der Therapie entscheiden werden. Ein Wechsel der Therapiepfade, wie oben dargestellt, ist in der Praxis häufig (Abb. 3).

Eine weitere Kontroverse dürfte auch auf unterschiedlichen Expertisen bei der nichtklassischen IVF beruhen. Da die nichtklassische IVF, insbesondere die NC-IVF, eine gänzlich andere Behandlungsform darstellt, erfordert diese spezielle Kenntnisse und Erfahrungen, um eine hohe Erfolgsrate bei einem geringen Aufwand für das Paar zu erzielen. Eine klassische IVF basiert auf Behandlungsprotokollen, die weitgehend einheitlich bei allen Frauen angewendet werden können. Eine NC-IVF hingegen erfordert ein tiefer greifendes endokrinologisches Grundverständnis und eine individualisierte Behandlung.

Schließlich ist als Ursache der kontroversen Diskussion das oben genannte Problem der Kostenerstattung in Deutschland zu nennen, das die nichtklassischen IVF-Therapien benachteiligt.

Eine Modernisierung in der Medizin erfordert somit nicht nur ein Umdenken der Reproduktionsmediziner, sondern auch eine Anpassung der Gesetzgebung.

Merksatz.

Die Kontroverse hinsichtlich klassischen und nichtklassischen IVF-Therapien beruht auf unterschiedlichen Blickwinkeln und Zielgrößen.

Wer führt nichtklassische IVF-Therapien durch?

Folgt man den Websites der IVF-Zentren, scheinen viele Zentren nichtklassische und auch NC-IVF-Therapien durchzuführen. In der Praxis sieht es jedoch anders aus, denn insbesondere die NC-IVF stellt eine gänzlich andere Behandlungsform dar und erfordert daher auch andere Kenntnisse, Erfahrungen und logistische Voraussetzungen.

Aufgrund dessen schließen sich zunehmend Zentren zusammen, welche die NC- und Minimal-Stimulation-IVF-Therapien mitsamt ihren Modifikationen schwerpunktmäßig durchführen. Ziel ist der Aufbau einer flächendeckenden Versorgung in den deutschsprachigen Ländern (Abb. 1) mit spezialisierten Zenten. Ein weiteres Ziel ist es, die Indikationen weiter zu schärfen, die Therapien weiter zu optimieren und damit die Erfolgsraten zu erhöhen.

Fazit für die Praxis

  • Klassische (IVF-Therapien mit hochdosierter Gonadotropinstimulation) und nichtklassische (NC-IVF und Minimal-Stimulation-IVF) sind grundsätzlich verschiedene Behandlungsformen mit unterschiedlichen Kosten, Belastungen und Risiken.

  • Die Therapien erfordern jeweils unterschiedliche Kenntnisse und Erfahrungen sowie verschiedene logistische Voraussetzungen seitens des IVF-Zentrums.

  • Die Therapien sollten nicht miteinander konkurrieren, sondern sind als sich ergänzende Behandlungsformen zu verstehen.

  • Die Therapien tragen zu einer individualisierten und patientenorientierten IVF-Behandlung bei.

  • Die Kostenerstattung in Deutschland fördert die Durchführung klassischer IVF-Therapien. Eine Anpassung der Kostenerstattung ist überfällig.