Sehr geehrte Frau Kollegin,

sehr geehrter Herr Kollege,

dieses Themenheft zur Urogynäkologie nimmt sich des neben der Onkologie wichtigsten Themas der Gynäkologie an. Die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft wird die Bedeutung dieser beiden Themenkomplexe weiter verstärken. Der Grad der Aktivität und die Bedürfnisse dieser größer werdenden Patientenpopulation stellen uns die wichtige Aufgabe einer intensiven Fürsorge und tabulosen Versorgung. Gleiches gilt im Übrigen auch für junge Patientinnen, die eine nicht minder ausgeprägte Symptomatik aufweisen können. Lebensqualität und Mobilität werden durch Inkontinenz und Beckenbodeninsuffizienz derart eingeschränkt, dass eine Isolation fast zwangsläufige Folge ist. Aufgrund der Repräsentanz unseres Fachs können wir Gynäkologen durch fundierte und sorgfältige Betreuung diesen Patientinnen kompetent zu einer Reintegration verhelfen.

Aufgegeben ist uns eine intensive Fürsorge und eine tabulose Versorgung

Im ersten Beitrag, von Baumann et al., werden zunächst alle klassischen und modernen, statischen und dynamischen, explorativen und invasiven diagnostischen Mittel dargestellt und Zusammenhänge zu daraus resultierenden Maßnahmen aufgezeigt. Die Exploration des Umfelds der Betroffenen sollte alle Lebensbereiche erfassen. Die Medikamenten-, Sozial- und Sexualanamnese müssen dabei einen hohen Aufmerksamkeitsgrad erhalten. Hilfreich ist außerdem die Erstellung einer „Morbiditätskarte“, die der Erfassung aller Begleiterscheinungen und -erkrankungen und damit der Übersichtlichkeit dient.

Im Mittelpunkt des Beitrags von Keim et al. steht die Behandlung der jungen Patientin. Diese stellt eine besondere Herausforderung dar, da insbesondere die prospektive Lebenserwartung und die Familienplanung in das therapeutische Konzept einbezogen werden müssen. Im Hinblick auf die Lebensqualität sollte, wenn es opportun erscheint, ein Stufenschema mit zunächst konservativem und wenn erforderlich dann operativem Vorgehen gewählt werden. Die Wahl des operativen Verfahrens sollte altersangepasst unter Berücksichtigung möglicher Komplikationen und Einschränkungen erfolgen.

Im Fokus des Beitrags von Dimpfl et al. steht die ältere Patientin. Es werden für dieses Kollektiv konservative und geeignete operative Verfahren ausgewählt, dargestellt und verglichen. Dieses Patientengut bringt zur Problematik der Inkontinenz bzw. Beckenbodeninsuffizienz weitere Morbiditäten mit. Daher werden zur Minimierung des operativen Risikos grundsätzliche Gedanken zur präoperativen Diagnostik und dem perioperativen Management thematisiert.

Der Beitrag von Finas et al. wendet sich dem Kollektiv der onkologischen Patientinnen zu, einer wenig beachteten Gruppe von Patientinnen, die unter den Folgen der onkologischen Therapie oder z. T. aggravierten präexistenten Problemen leiden. Spezifische Aspekte der Prävention, der konservativen und operativen Therapie sowie der Interaktion mit der onkologischen Therapie der Patientinnen mit hohem Leidensdruck werden dargestellt und diskutiert.

Pharmakologische Interaktionen werden in dem Beitrag von Szych et al. beleuchtet. Es werden Hinweise zu vorteilhaftem Wechsel von Substanzgruppen gegeben und Wirkmechanismen erläutert.

Einen kurzen Überblick über die interdisziplinäre Zusammenarbeit und mögliche Diagnose- und Behandlungspfade gibt der Beitrag von Tunn. Hier werden Denkanstöße zur kooperativen Medizin im Grenzbereich der Disziplinen gegeben.

In einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Einfluss von Eingriffen am Beckenboden auf die Sexualität geben Peschers et al. in ihrem Beitrag einen profunden Einblick in die Folgen unseres operativen Handelns und die Auswirkungen auf die Sexualität unserer Patientinnen und ihrer Partner.

Beckenbodeninsuffizienz und Inkontinenz müssen interdisziplinär bearbeitet werden

Diagnostik und Therapie von Beckenbodeninsuffizienz und Inkontinenz müssen in einem interdisziplinären Zusammenhang erfolgen. Dabei ist darauf zu achten, dass prophylaktische operative Eingriffe nicht erfolgen sollten, sondern ausschließlich symptom-, befund- und erforderniskorrelierte nach offener, intensiver und gut dokumentierter Aufklärung. Es sind nicht nur anatomische und funktionelle, sondern auch forensische Erwägungen anzustellen. Eine weitere Verbesserung stellt die Dokumentation der Behandlungsverläufe und -ergebnisse in Registern sowie die Intensivierung der Forschung dar. Die Bildung von Kontinenz- oder Beckenbodenzentren dient auch mit Qualitätssicherung/-erhalt und Qualitätssteigerung diesen Zielen. Alle aktuell praktizierten Zertifizierungsverfahren der Fachgesellschaften von Gynäkologen, Urologen, Koloproktologen u. a. werden in Zukunft durch eine interdisziplinäre Zertifizierung mit einem gemeinsamen Zertifizierungsverfahren der drei großen wissenschaftlichen Fachgesellschaften von Gynäkologen, Urologen und Koloproktologen ersetzt.

Mit diesem Themenheft von Der Gynäkologe wollen wir die ärztliche Vigilanz erhöhen und einen relevanten Beitrag zu einem bedeutenden gesellschaftlichen Komplex leisten. In der Fokussierung auf Grenzsituationen zeigt sich, dass diese Grenzen zum Wohle unserer Patientinnen – auch gegen ökonomische Zwänge – dringend überschritten werden müssen.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Prof. Dr. K. Diedrich

Prof. Dr. C. Anthuber

Prof. Dr. T. Dimpfl

PD Dr. D. Finas