Die Verbannung der Kunststoffnetze aus dem angloamerikanischen Sprachraum – in den USA nur der vaginalen Prolapsnetze, in Großbritannien, Australien und Neuseeland auch der spannungsfreien Suburethralschlingen – stieß und stößt in Deutschland auf Unverständnis und konsequente Abwehrreaktionen. Das nationale Dorf trotzigen Widerstands grenzt sich mit seinen im letzten Jahr aktualisierten AWMF-Leitlinien (Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften) zur Therapie der weiblichen Harninkontinenz deutlich von dem stark britisch indoktrinierten EAU-Pendant (European Association of Urology) ab und verharrt standhaft in therapeutischer Eindimensionalität („Jede Frau mit unkomplizierter Belastungsinkontinenz soll ein spannungsfreies Suburethralband angeboten bekommen“). Die Ingredienzien des germanischen Zaubertranks sind in ihrer Gesamtheit noch unergründet, sicher gehören aber die nach wie vor gute Datenlage der Suburethralschlingen und ein unübersehbares und kurzfristig auch unüberbrückbares Ausbildungs- und Expertisedefizit in den Alternativtechniken dazu.

Die Verbannung der Kunststoffnetze aus dem angloamerikanischen Raum stößt in Deutschland auf Unverständnis

Diese Ausbildungsdefizite sind natürlich keine nationalen Besonderheiten der Deutschen, sondern nach dem über 25-jährigen Siegeszug der Kunststoffnetze international zu beobachten. Dabei verhält man sich in Deutschland realitätsnäher und damit ehrlicher als der Rest Europas gegenüber der normativen Macht des Faktischen: Die am häufigsten praktizierte Technik wurde während des letzten Vierteljahrhunderts ohne Überlegenheitsnachweis praktisch alternativlos. Während dessen ging die Expertise für technisch anspruchsvollere Alternativtechniken ohne Unterlegenheitsnachweis verloren. Im noch vereinigten Königreich wird die Heuchelei der EAU-Empfehlungen offenkundig, da man sich dort mitnichten der aktuell primär empfohlenen altehrwürdigen Kolposuspension als äquieffektiver Alternativmethode zuwendet, sondern die nachweislich signifikant schlechter wirksame, aber eben einfacher zu erlernende und anzuwendende urethrale Injektion von Unterpolsterungssubstanzen präferiert.

Hierzulande sieht man diese Einschränkung des Therapiespektrums zum Nachteil der Patientinnen als wahrscheinlich übervorsichtig, in jedem Fall aber als ungerechtfertigt an. Infolgedessen halten wir in Treue fest zur alloplastischen Schlinge und fragen uns, warum die um kumulative Milliardenbeträge geführten Schmerzensgeldprozesse in den USA verloren gehen konnten – schließlich waren die Patientinnen über die Komplikationsrisiken doch aufgeklärt worden und hatten in Kenntnis dessen in die Operation eingewilligt. Die Antwort ist so einfach wie für die meisten heimischen Band‑/Netzimplanteure bedrohlich. Die Klägerinnen konnten nachweisen, nicht über das gesamte mögliche Therapiespektrum informiert und dadurch um ihre freie Therapiewahl betrogen worden zu sein. Ob einem in einem vergleichbaren Klagefall vor deutschen Gerichten die eindimensionale AWMF-Leitlinie hilft, bleibt abzuwarten – schaden kann sie jedenfalls nicht.

Viel Freude an den exzellenten Beiträgen ausgewiesener Experten aus Urologie und Urogynäkologie zu diesem Thema wünschen Ihnen

Prof. Dr. Ricarda M. Bauer

Prof. Dr. Christian Hampel