Die „Urogynäkologie“ oder „Urologie der Frau“ beschreibt die dem Fachgebiet Urologie zuzurechnenden Aspekte gynäkologischer Erkrankungen. „Gynäkologische Urologie“ ist das Gegenstück auf gynäkologischer Seite und beschreibt die dem Fachgebiet Gynäkologie zuzurechnenden Aspekte urologischer Erkrankungen. Schon aus der teils missverständlich gebrauchten Semantik lassen sich allfällige Überschneidungen der Themen zwischen beiden Fachgebieten ableiten, die gleichermaßen Chancen und Risiken beinhalten.

Chancen dieser interdisziplinären Überschneidungen sind die Nutzung der bestmöglichen Expertisen aus beiden Fachgebieten zur interdisziplinären Therapie von Patientinnen mit problematischen Krankheitsbildern. Risiken bestehen dann, wenn eine Konkurrenz zwischen den Disziplinen im Vordergrund steht und die interdisziplinäre Kooperation und Nutzung der jeweiligen Fachexpertise verhindert.

Themen und Autoren des vorliegenden Heftes „Urogynäkologie“ entsprechen dem Konzept der „Kooperation statt Konfrontation“, auch wenn naturgegeben in einer wissenschaftlichen urologischen Zeitschrift urologische Autoren im Vordergrund stehen.

In der Chirurgie von Harninkontinenz und Prolaps hat in der Gynäkologie seit der Einführung von synthetischen Schlingen und Netzen durch Ulf Ulmsten vor nahezu 20 Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Vielerorts ist für die Weiterbildung bereits die Expertise der klassischen Inkontinenzoperationen verloren gegangen. Auch die Notwendigkeit und der Stellenwert einer eingehenden präoperativen urodynamischen Diagnostik wurden in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend relativiert. Desto wichtiger ist es, die notwendigen und korrekten Indikationen einer präoperativen urodynamischen Diagnostik zu rekapitulieren (S. Bross, Bruchsal).

Es steht dem akademischen Diskurs wohl an, sich auch mit den Komplikationen der eigenen Verfahren auseinander zu setzen; hier für die Gynäkologie die Komplikationen von Kunststoffnetzen und -bändern (E. Petri, Greifswald) und für die Urologie die Komplikationen der Sakrokolpopexie (J. Steffens, Eschweiler). In diesem Zusammenhang scheint es an der Zeit, sich des Stellenwertes klassischer Inkontinenzoperationen zu besinnen und diese Expertise nicht aus dem operativen Repertoire gänzlich zu verlieren (R. Hofmann, Marburg).

Urogenitalfisteln sind in unseren Breitengraden gottlob mittlerweile selten geworden; wenn sie allerdings auftreten, sind es häufiger komplizierte Fisteln nach großer Tumorchirurgie oder Bestrahlung, die dementsprechend eine chirurgische Herausforderung an Konzepte und Operationstechniken darstellen (C. Hampel, Mainz).

Inkurable Strahlenfisteln oder gynäkologische Tumorrezidive mit Einbruch in die Blase sind Indikationen zu einer vorderen Exenteration. Für die erforderliche Harnableitung sollte das gesamte Armamentarium der Harnableitungskonzepte und -operationstechniken zur Verfügung stehen, von der inkontinenten kutanen Harnableitung (Conduit) bis zu den verschiedenen Verfahren der kontinenten Harnableitung wie kontinente anale Harnableitung mittels Sigma-Rektum-Pouch, kontinenter kutaner Pouch oder kontinenter orthotoper Pouch/Neoblase (R. Stein, Mainz).

Last but not least bleibt die zur „overactive bladder“ (OAB) gewandelte Reizblase in komplizierten Fällen ein therapeutisches Dilemma. Insbesondere die Dranginkontinenz („OAB wet“) ist für Patientinnen in den Folgeerscheinungen der Symptomatik manchmal derart gravierend, dass nicht nur bei neurogener Ätiologie, sondern auch in idiopathischen Fällen nach erfolgloser pharmakologischer Behandlung eine invasivere Therapie akzeptiert, ja verlangt wird. Detrusorinjektionen mit Botulinumtoxin A stehen mittlerweile hier ganz im Vordergrund (R. Bauer, München), aber auch implantierbare Neuromodulatoren haben einen neu definierten Stellenwert (A. van Ophoven, Herne).

Aus den Beiträgen des vorliegenden Heftes möge ersichtlich werden, wie komplex die Zusammenhänge zwischen Veränderungen der topographischen Anatomie des Beckenbodens der Frau und Prolaps der Urogenitalorgane einerseits und Funktionsstörungen des unteren Harntraktes andererseits sein können. Die Intention, die jeweilige Expertise von Urologie und Gynäkologie für die interdisziplinäre Behandlung schwieriger Problemfälle zusammenzuführen, wird durch das Spektrum der ausgewählten Themen dieses Heftes reflektiert. Sowohl betreffend der Anzahl von Patientinnen als auch der Bedeutung für die Lebensqualität der betroffenen Patientinnen bleibt die Urogynäkologie ein wichtiger und zentraler Bestandteil unseres Faches!

J.W. Thüroff