Zusammenfassung
Neben den örtlichen Chirurgen operierten in Ulm auch fahrende Steinschneider, also Wundärzte, die von Stadt zu Stadt zogen. Von überregionaler medizinhistorischer Bedeutung war der Ulmer Stadtphysikus Johannes Scultetus (1595-1645), der mit seinem posthum erschienenem Werk „Wundartzneyisches Zeughauß“ einen Meilenstein der chirurgischen Literatur setzte und darin auch den Steinschnitt beschrieb. Im 19. Jahrhundert galt Ulm als Endemiegebiet der Urolithiasis – und einige Ärzte aus dem Ulmer Raum zählten zu den erfahrensten Steinschneidern. Am Ende der Ulmer Steinschnittgeschichte stehen verschiedene Ärzte der Familie Palm, worunter Johannes Palm besondere Beachtung verdient. Die im 19. Jahrhundert üblichen Methoden des Steinschnittes unterscheiden sich in erster Linie durch ihren Zugang zur Blase. An die alten Steinschneider erinnert heute nur die klassische Steinschnittlagerung im Operationssaal.
Abstract
In addition to the local barber surgeons, operations in Ulm were also carried out by travelling lithotomists, or wound physicians, who moved from town to town. The Ulm public medical officer Johannes Scultetus (1595-1645) was of nationwide medical historical importance and whose work“Wundartzneyisches Zeughauß” which was published posthumously was a milestone in surgical literature and included the technique for lithotomy. In the nineteenth century Ulm was the endemic region for urolithiasis and some physicians from the Ulm region were considered to be the most experienced lithotomists. At the end of the Ulm lithotomy period there were various physicians from the Palm family and amongst these Johannes Palm was particularly outstanding. The normal methods of lithotomy used in the nineteenth century varied mainly in the access route to the bladder. The only remaining evidence of the old lithotomists is the classical lithotomy position in the operating room.
Notes
Exemplarisch sei hier Johann Andreas Eisenbarth (1663–1727) aufgeführt, der entgegen dem (Spott-) Lied „Ich bin der Doktor Eisenbart“ ein überdurchschnittlich guter – und höchst erfolgreicher – Arzt und auch Steinschneider war.
Stadtarchiv Ulm A 3531, Nr 8 folio 147 v[erso].
Stadtarchiv Ulm G1 1750 3 S. 754f.
Stadtarchiv Ulm G 1 1750 3 S. 755.
Von diesem lateralen Zugang rührt der Name Seitensteinschnitt her. Er löste ab dem 18. Jahrhundert die Methode nach Celsus mit medianen Schnitt ab (vgl. Abb. 1).
Dieser Zugang setzt heutige Urologen „nicht wenig in Erstaunen: Eine Inzision der Blasenwand, der Prostata und der Urethra membranacea (Sphinkternähe!) durch die vordere Rektumwand hindurch mit Spaltung des Sphincter ani(!); dies alles wirkt auf uns fast wie ein Alptraum“ [2].
Man beachte, dass Johannes Palm und der Großteil der Steinschneider seiner Generation sogar den transrektalen Zugang zur Blase der Lithotripsie vorzogen.
Jean Civiale (1792–1867), erste erfolgreiche Lithotripsie 1824.
Wilhelm Palm führte in den 1870iger Jahren einen 5 h (!) dauernden Steinschnitt durch. Die lange Dauer erklärt sich aus der Tatsache, dass „der Stein […] wie eingemauert war. […] Zum Glück war ein Schreiner in dem Dörfchen, dessen Werkstatt Hammer und Stechmeißel entlehnt werden konnten. Und nun ging es an ein regelmäßiges Steinmeißeln, -schlagen und –brechen. […] Die Steintrümmer wogen […] 2.700 g, einige weitere 100 g dürften während der Operation verloren gegangen sein“ [6].
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Kraus, P., Winckelmann, H. Der Ulmer Steinschneider Johannes Palm und seine Familie. Urologe 52, 79–86 (2013). https://doi.org/10.1007/s00120-012-2996-1
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