Zusammenfassung
Der Beitrag beleuchtet die Geschichte der Influenzapandemien unter dem Blickwinkel ihrer sich wandelnden Nosographie. Besondere Berücksichtigung findet die sog. „Spanische Grippe“ von 1918, die wegen ihrer hohen Mortalität gerade in der aktuellen Diskussion oft als ein Beispiel für die verheerende Wirkung von Influenzapandemien herangezogen wird. Auf eine Einführung in die Problematik der historischen Validität retrospektiver Diagnosen folgt eine Darstellung der Geschichte vergangener Influenzapandemien. Die Pandemie von 1918 wird dabei aus der Perspektive des öffentlichen Gesundheitswesens in seiner Rückkopplung mit der medizinisch-wissenschaftlichen Diskussion thematisiert. Gründe für ihren Status als lange vergessene Pandemie werden analysiert.
Abstract
The paper examines the history of former influenza pandemics from the perspective of changing nosographic categories. Special emphasis is put on the so-called Spanish flu of 1918. Due to its high mortality rates this pandemic is often highlighted as a warning sign for what may happen during a future pandemic. After a short introduction into the problematic status of the validity of retrospective diagnoses the history of influenza pandemics is discussed. The pandemic of 1918 is analysed from the perspective of the public health system being connected to and relying on medical and scientific debates. The reasons for this pandemic’s rank as the long forgotten pandemic are discussed.
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Für Furore sorgte unter Wissenschaftlern und Journalisten vor einigen Jahren die Sequenzierung des Grippevirus von 1918 mit Hilfe von Gewebeproben aus einem Massengrab von Grippeopfern im Permafrostboden von Alaska [8]. Aus dem Lungengewebe einer toten Inuit konnte eine Forschergruppe Genfragmente des für ihren Tod verantwortlichen Grippevirus isolieren. Schließlich gelang es den Wissenschaftlern, das komplette Genom des Erregers der Spanischen Grippe zu sequenzieren, zudem isolierte ein Team des „Armed Forces Institute of Pathology“ in Rockville Teile des Grippevirus aus unterschiedlichen konservierten Gewebeproben von 1918 verstorbenen Soldaten.
Warum war dieser Fund – abgesehen von den Schlüsselbegriffen „Leiche“ und „Exhumierung“ – so interessant für Presse, Funk, Wissenschaft und Fernsehen? Vermutlich, weil er einen direkten Blick in die Geschichte der Influenzapandemien zu eröffnen schien.
Retrospektive Diagnose
Bei der Beschäftigung mit großen Seuchen und Infektionskrankheiten wird häufig nach deren Geschichte gefragt. Woher kommen sie, wie verliefen sie früher, wie gingen Menschen mit ihnen um? Dabei ist ein aktuelles, naturwissenschaftliches, medizinisches Interesse vom historischen Interesse zu unterscheiden. Während das eine sich bemüht, aktuelle Bezeichnungssysteme auf zurückliegende Krankheiten zu übertragen, möchte das andere die Umstände der Krankheit, das jeweilige Verständnis von ihr sowie ihre gesellschaftlichen Auswirkungen rekonstruieren. Hier stoßen die moderne Kategorien anlegende retrospektive Diagnose und die historische Deutung als wissenschaftlicher Zugangsweg aufeinander. Beides hat seine Legitimität. Ein Beitrag über die Geschichte der Influenzapandemien allerdings erfordert einige Überlegungen zu diesem Komplex vorweg.
Krankheit oder Krankheitsentitäten werden oft aus einem Missverständnis heraus als definierte Größe des Naturgeschehens angesehen, die unabhängig von gesellschaftlichen oder kulturellen Umständen existierten. Dies rührt zum einen daher, dass neue Konzepte sich aus alten entwickeln und dabei immer noch alte Elemente mit sich tragen. Zum anderen basiert die Begrifflichkeit der modernen Medizin zum größten Teil auf der antiken Heilkunde.
In der Geschichte kommen allerdings zahlreiche Konzepte der Medizin ganz ohne Krankheitseinheiten aus, und die Geschichte der Medizin zeigt uns, wie kontextbezogen das Verständnis von Krankheitseinheiten ist [12]. Stehen z. B. stellare Konstellationen im Mittelpunkt der Deutung von Gesellschaften, ist klar, dass eben den Sternen eine Bedeutung bei der Definition von Krankheiten zukommt. Gerade in der Geschichte des Verständnisses von Infektionskrankheiten und Hygiene wurde vielfach gezeigt, wie sich Krankheitskonzeptionen verändern und inwiefern gesellschaftliche und soziale Umstände die Konstruktion von Krankheitsentitäten mitbestimmen (für Übersichten und Literatur vergleiche u. a. [9, 15, 17]).
Für den Historiker ist also die Influenza des Jahres 1847 die Erkrankung, die sich durch „… Erscheinungen, wie sie auch anderen acuten kosmischen Krankheitsprocessen vorhergehen …: außerordentliche Mattigkeit … Wadenkrämpfe, mehr oder weniger Kopfschmerz. Oft Erbrechen; dabei Frost und abwechselnd Hitze …“ etc. ankündigt, sich im Stadium Morbi je nach Sitz in Nasenhöhlen, Kehlkopf, Bronchien, Gastrointestinaltrakt durch Angeschlagenheit, katarrhalische Affektion, Kopfschmerz, Schleimabsonderungen, Exanthem, Erbrechen, Fieber etc. äußern kann und zuletzt eine „Depression des Nervensystems“, Delirien, Pneumonie, „bei Greisen … Gehirncongestion“ und Tod nach sich ziehen kann [1]. Für den Arzt des 21. Jahrhundert ist sie eine durch einen HxNy-Virus verursachte Erkrankung (Abb. 1).
Deshalb ist es in der Medizingeschichte notwendig, Krankheiten historisch zu deuten und nicht retrospektiv zu diagnostizieren, da man sonst dem Zirkelschluss unterliegt, neue Konzepte auf alte Schilderungen zu übertragen. Hierbei ist es möglich, Phänomene (z. B. ansteckender Krankheiten und die ihnen zugehörigen jeweiligen Theorien), Vorstellungen und Bekämpfungsstrategien im historischen Verlauf darzustellen und ihre zeitspezifische Entwicklung und Wahrnehmung zu analysieren. Die retrospektive Diagnostik, in diesem Fall die Übertragung des Erregerkonzepts auf alte Schilderungen von Epidemien, ist dabei aber nur so lange zweckmäßig, so lange die untersuchte Epoche sich im selben Denkkonzept bewegt.
Die retrospektive Diagnostik mittels molekularer oder ähnlicher Methoden ist Aufgabe der Paläopathologie. Probleme stellen sich hier bei Frage der Verunreinigung von Proben. Ein zufällig anwesendes Bakterium kann z. B. retrospektiv für die Erkrankung des toten Probanden verantwortlich gemacht werden. Ein Problem übrigens, das sich nicht nur retrospektiv stellt, sondern sich auch bei der aktuellen Konstruktion von Diagnosen einstellen kann [2]. Für die angerissenen historischen Fragestellungen ist ein solches Vorgehen jedoch irrelevant. Dem Historiker geht es gerade um die Komplexität der sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedingtheit ärztlicher Wissenschaft und Praxis in ihrer Zeit. Seine Aussagen beleuchten eher den Umgang mit der Seuche, als dass sie Rückschlüsse auf seine Biologie oder Auftretenswahrscheinlichkeit zulassen.
Geschichte der Influenzapandemien
Die Geschichte der Influenzapandemien hat eine besonders große Überlieferungstradition, da bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts davon ausgegangen wurde, dass die Rekonstruktion vergangener Pandemien einen Wert für die Erforschung der Pathologie dieser Krankheit habe. Interessanterweise taucht dieses Phänomen der genauen Überlieferung mit der Theorie der verschiedenen antigenwirksamen Subtypen des Influenzavirus in heutigen Lehrbüchern wieder auf, denn auch dort ist die Geschichte Teil des pathologischen Konzepts.
Während sich in heutigen Lehrbüchern (z. B. Harrisons Lehrbuch der Inneren Medizin [7]) Tabellen finden, in denen die Virusepidemien der letzten 100 Jahre mit Bezeichnung und HxNy-Typ aufgezählt werden, enthalten ältere Lehrbücher Tabellen mit Angaben der jeweiligen besonderen Symptome, Informationen zu den Orten des Auftretens, den Ausbreitungswegen sowie sonstigen Besonderheiten der jeweiligen Epi- bzw. Pandemie. Gezählt wurden damals etliche Pandemien, die minutiös mit ihren Beschreibern aufgezählt wurden. Dabei wurde das für Influenza genommen, was die Zeitgenossen Influenza nannten oder was innerhalb eines Denksystems zurückschauende Ärzte so zu bezeichnen sollen meinten (Abb. 2).
Die Bezeichnungen für die Krankheit gehen eben so weit auseinander wie die Krankheitsbeschreibungen. Je nach Standpunkt des Autors stehen dabei andere Symptome im Zentrum. Das plötzlich über eine Stadt oder einen Landstrich hereinbrechende „epidemische Katarrhalfieber“ hieß auch „Catarrhus epidemicus“, „Tussis epidemica“, „Cephalgia contagiosa“. Im Deutschen finden sich die Namen „Schafshusten“, „Ziep“, „Pipf“, „Hühnerweh“. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts tauchen die Bezeichnungen „Grippe“ bei den Franzosen, „Influenza“ bei den Engländern und „Blitzkatarrh“ in Deutschland auf [3].
Auch das Spektrum der betroffenen Bevölkerungsgruppen ist weit gefächert, wie eine Übersicht über vergangene Influenzapandemien aus dem Jahr 1847 belegt: „Die Krankheit achtet nicht Alter, nicht Geschlecht, nicht Individualität. In manchen Epidemien leiden besonders Kinder, Greise, Frauen, Brust- und nervenschwache Subjecte; in anderen bleibt oft diese oder jene Classe von Individuen (z. B. Kinder) von der Krankheit verschont. Das den Witterungseinflüssen vielfach ausgesetzte männliche Geschlecht scheint einen grösseren Contingent von Kranken zu liefern“ [1].
Stets war den Zeitgenossen, je nach Konzept, die Notation von Umweltzeichen von besonderer Wichtigkeit. Der Internist Carl Canstatt (1807–1850) z. B. betont in seinem seinerzeit zentralen Lehrbuch, das am 2. Januar 1782 das Thermometer „plötzlich im Verlauf einer Nacht von 35° unter Null auf 5° über Null“ Grad Fahrenheit gestiegen sei „und an demselben Tage erkrankten 40.000 Personen an der Grippe …“ Ebenso führt er aus (wieder retrospektiv auch spekulativ deutbar), dass während der Grippe von 1580 die Vögel diejenigen Orte verließen, „wo die Epidemie herrschte und die grasfressenden Tiere verschmähten die Weide“. Rivière spricht von einer „ungeheuren Menge von Insecten, welche die Luft verdunkelten und der Epidemie vorausgegangen sein sollen“ [1].
Auch die heute noch wichtige Frage nach dem Ausgangspunkt der Seuche wurde stets heftig diskutiert. Ermöglichte die Kenntnis von dieser doch zum einen die Flucht, zum anderen das Treffen von Vorkehrungen. Schon früh war den Ärzten überdies die Ausbreitungsgeschwindigkeit wichtig, gab diese doch Hinweise auf die Ausbreitungswege und die Zeit, die für Vorbereitungen blieb, wenn erst einmal die Nachricht von dem Ausbruch einer Epidemie an einem anderen Ort eingetroffen war. Die Angabe des Internisten Carl Canstatt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass man „die Schnelligkeit der Ausbreitung mit der eines Pferdes verglichen“ [1] hat, zeigt eine schöne Parallele zu heutigen Ausbreitungsszenarien, die sich an Flügen und Flugrouten orientieren.
Doch konnte und kann die Interpretation der Ausbreitung auch politisch/sozial geprägt sein: Der „Behauptung, die Influenza habe wiederholt aus Amerika kommend, den Weg nach der alten Welt eingeschlagen“ wird in den Quellen die Meinung entgegengehalten, „sie habe in Europa stets den Kurs von Ost nach West und außerdem von Norden nach dem Süden eingehalten“[3]. Europa selbst kommt selten als Ausgangspunkt in Frage.
Mit am deutlichsten zeigt sich die politische Dimension dieser Debatte an der Spanischen Grippe von 1918/1919: Spanien, Deutschland, USA und zuletzt retrospektiv Frankreich werden als Ausgangspunkte genannt.
In Deutschland (und den anderen 1918 Krieg führenden Ländern) verboten Oberzensurstelle und Kriegspresseamt die Veröffentlichung jeglicher bevölkerungsbezogener Daten, folglich auch Statistiken über die Grippeerkrankten und -toten. In der Folge tauchten Ende Mai 1918 erste Meldungen über eine mysteriöse, aus Spanien stammende Krankheit auf. Spanien befand sich nicht im Krieg und Spanische Ärzte hatten, freier von Zensur, als erste in Europa unter den Augen der Öffentlichkeit schärfere prophylaktische Maßnahmen zum Seuchenschutz eingeleitet. So wurde die Grippe – zum Leidwesen der Spanier – als Spanische Grippe popularisiert. Andere kursierende Spekulationen waren z. B. eine Einschleppung durch Hilfstruppen der Entente aus dem Fernen Osten, ein Ursprung in den Truppenlagern der Amerikaner und sogar die künstliche Erzeugung und Verbreitung der Seuche in den Laboratorien der Deutschen [13].
Spanische Grippe von 1918
Diese Debatte führt mitten in die verheerendste Epidemie der letzten 100 Jahre. Die Grippe forderte nach aktuellen Schätzungen weltweit bis zu 50 Mio. Opfer, deutlich mehr als der Erste Weltkrieg ([6]; Abb. 3). Aussagekräftiger als die absoluten Opferzahlen sind die Sterberaten im longitudinalen Vergleich. Diese sind nicht immer leicht zu ermitteln. Ein Bericht über die Grippeepidemie in Preußen gibt aber vergleichsweise an, dass die Mortalität „von vielen Berichterstattern annähernd auf 10% Proz. geschätzt“ wurde. „Sie war so hoch, daß sie auf der Höhe der Epidemie die gesamte Sterblichkeit der Bevölkerung beherrschte. Auch aus anderen Berichten geht hervor, daß die Gesamtsterblichkeit durch den überaus bösartigen Verlauf (…) ungünstig beeinflußt wurde. Statistische Angaben darüber fehlen meistens, nur die Bücher der Standesämter könnten darüber genaueren Aufschluss geben. (…) Jedoch besagte ein Bericht aus Allenstein, daß gegenüber einer Durchschnittssterblichkeit von 1100 für die drei Monate Juli, August und September 1918 eine solche von 2227 für den Monat Oktober 1918 festgestellt ist.“ [11].
Dennoch galt die Epidemie lange Zeit als vergessen, nicht zuletzt, weil sie zum einen durch den Ersten Weltkrieg mit einer Zensur, die Berichte über die Grippe verbot, überschattet wurde. Zum anderen wurde das Ausmaß der Seuche aktiv nivelliert. Erich Ludendorff erwähnt die Grippe zwar in seinen Memoiren, doch spielt er die Auswirkungen der Krankheit herunter: „Es war für mich eine ernste Beschäftigung, jeden Morgen von den Chefs die großen Zahlen von Grippeausfällen zu hören und ihre Klagen über die Schwäche der Truppe, falls der Engländer nun doch angriffe. Es war jedoch noch nicht so weit. Auch die Grippefälle vergingen …“ [10].
Zuletzt scheint die Spanische Grippe darüber hinaus lange Zeit bewusst vergessen worden zu sein, da es im Zusammenhang mit ihr weder von ärztlicher, noch von wissenschaftlicher, noch von öffentlicher Seite Rühmliches zu berichten gab. Niemand hatte ein Interesse daran, diese Epidemie lange im öffentlichen Bewusstsein zu bewahren. Ihre Geschichte ist eine Geschichte voller Vertuschungen, Fehlschlägen, Irrtümern und Erschütterungen sicher geglaubter Erkenntnisse. Diese soll im Folgenden kurz auf drei Ebenen skizziert werden, aus Perspektive einer staatlichen, regionalen und medizinischen Ebene [9, 16].
Kurz nach Aufkeimen der Seuche traf sich auf Reichsebene 2-mal, im Juli und Oktober 1918, der Reichsgesundheitsrat, um über die sich häufenden Krankheits- und Todesfälle zu beraten. Hier bestätigte Richard Pfeiffer, der Entdecker des Haemophilus influenzae, des Bakteriums, das damals für die Influenza verantwortlich gemacht wurde, dass es sich bei der aktuellen Erkrankung nach seinen Studien offensichtlich um Influenza handele. Trotz der sich zwischen Juli und Oktober zuspitzenden Situation wurde die Erkrankung auch nach dem zweiten Treffen weder meldepflichtig, noch beschloss man ein Versammlungsverbot. Den Schulen wurde anheim gestellt, falls notwendig, zu schließen. Nach Einschätzung von Zeitgenossen ist die Influenzaepidemie in Deutschland „… demnach (…) ohne wesentliche Beeinflussung durch systematische Bekämpfungsmaßnahmen verlaufen“ [11]. Der Bevölkerung wurde empfohlen, sich die Hände zu waschen, mit Salzwasserwasser zu gurgeln und im Bett zu bleiben [16].
Auf Landes- und kommunaler Ebene wurde diese Strategie des Herunterspielens fortgeführt. So stritten z. B. Ärzte und Stadtverwaltungen um die Schließung von Theatern. Während viele Ärzte die Schließung zur Seucheneindämmung forderten, bemühten sich die Kommunen, die ohnehin geschwächte Moral hinter der Front nicht noch weiter durch Theaterschließungen zu senken.
Parallel zu den politischen Debatten um hygienische Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung begann unter Wissenschaftlern ein Streit um den Auslöser der Spanischen Grippe zu toben. Dabei stießen die Selbstwahrnehmung einer in den letzten Jahren mit dem Konzept der Bakteriologie erfolgreichen medizinischen Profession und die unterschätzte Virulenz des Erregers aufeinander [14].Während Pfeiffer, obwohl ihm der spezifische Nachweis der Pathogenität seines Keims im Tierversuch nie gelungen war, weiter an „seinem“ Bakterium als Auslöser der Krankheit festhielt, wurde die Zahl seiner Gegner beinahe täglich größer. Die Folge war ein Wiederaufkommen miasmatischer, präbakterieller, historisch-geographischer Vorstellungen, eine Debatte um Mischinfektionen unter Beteiligung des Pfeiffer-Bazillus als Auslöser der Influenza und zuletzt die Theorie, dass ein Virus (noch nicht im heutigen Sinne, sondern im Sinne eines „Giftes“) als pathogenes Agens in Frage kommen könnte [4].
Weit entfernt von diesem theoretischen Diskurs fand die Arbeit der praktischen Ärzte am Krankenbett statt. Sie waren zumeist hilflos in ihrem therapeutischen Bemühen, wobei bei ihren Behandlungsversuchen zwischen aggressiv-experimentellen und konservativen Therapien unterschieden werden kann. (Experimentelle) Mittel der Wahl waren Optochin, Eukupin und Vuzin, denen eine Wirkung auf Pneumo-, Strepto- und Staphylokokken zugeschrieben wurde. Optochin war im Juli 1917 von der Reichswehr verboten worden, da es Blindheit erzeugte, 1918 jedoch wurde es wieder zugelassen. Als konservative Therapie waren Hausmittel ebenso beliebt wie z. B. Alkohol als interne Desinfektion oder Kaffee, Strychnin- und Kampferpräparate.
Die hohen Sterberaten dokumentieren die Ineffektivität aller während dieser Pandemie getroffenen Maßnahmen [5, 13]. Der Kriegszustand sorgte für eine Verdrängung der Seuche, eine öffentliche Diskussion über sie fand nicht statt und war auch nicht erwünscht. Erst einige Jahre nach Kriegsende führte die Erfahrung der Epidemie 1918/1919 in der Weimarer Republik zu einer Modifikation der bis dahin kaum existierenden „Gesundheitspolitik“.
Fazit für die Praxis
Uns dient heute die Spanische Grippe als Menetekel für die Gefahr einer drohenden neuen Pandemie, die uns hoffentlich nicht vor ähnliche Probleme stellt.
Eine oft gestellte Frage lautete „Influenza, die Pest der Zukunft?“. Das Fazit als Antwort auf diese Frage lautet: Es kommt erstens darauf an, wie wir eine kommende Seuche nennen und zweitens, welche Maßnahmen zu ihrer Eindämmung ergriffen werden. Wenn wir eine neue Pandemie „Influenza“ heißen und nichts gegen sie unternehmen (können), dann lautet die Antwort auf die Frage „Influenza, die Pest der Zukunft?“ sicherlich Ja. Jedoch besteht bei dem aktuellen Problembewusstsein und bei Einhaltung der beispielsweise von der WHO und dem Robert-Koch-Institut vorgeschlagenen Pandemieplänen Anlass zur Hoffnung, dass eine neue Influenzapandemie nicht die Folgen einer mittelalterlichen Pest nach sich ziehen muss.
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Fangerau, H. Zu Paläopathologie und Geschichte der Medizin. Urologe 49, 1406–1410 (2010). https://doi.org/10.1007/s00120-010-2435-0
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