Liebe Leserinnen und Leser,

weniges hat die Medizin der Neuzeit so revolutioniert wie die Entdeckung der Röntgenstrahlen. Allenfalls die Entdeckung der Antibiotika oder des Insulins, die evidenzbasierte Medizin oder die jüngsten Entwicklungen der Immuntherapie und der „targeted therapy“ fallen uns auf Anhieb als Vergleich ein. Mit der rasanten Einführung der Strahlendiagnostik in der Medizin ging zunächst, mangels Wissen, eine aus heutiger Sicht fast naive Sorglosigkeit im Umgang mit Strahlung einher. Da haben sich Forscher Stückchen von Radium auf die Haut geklebt und gewetteifert, bei wem sich das prächtigste Ulkus entwickelte. Marie und Pierre Curie entspannten sich abends nach getaner Arbeit auf dem Hof vor ihrem Labor bei einer Zigarette und erfreuten sich daran, wie alle Möbel und Utensilien im Inneren leuchteten. Das Radium, mit dem sie hantierten, hatte alles überzogen. Noch heute sind ihre Notizbücher so kontaminiert, dass sie abgeschirmt werden müssen. Sehr bald aber dämmerte es, welche Gefahr von den Strahlen ausging, wobei Marie Curie selbst wohl eines der prominentesten Opfer war. Doch lange sollte es dauern, bis sich ein vernünftiger Strahlenschutz sowohl des Personals als auch der Patienten entwickelt hat und gesetzlich festgeschrieben wurde.

Heute ist der Strahlenschutz im Atomgesetz verankert und in der Röntgen- und Strahlenschutzverordnung geregelt – die Zweiteilung ist historisch gewachsen. Für beruflich strahlenexponierte Personen gibt es ein klares Regelwerk für die Erfassung der Dosis, die Konsequenzen einer Überschreitung der Grenzwerte und für den Schutz der Bevölkerung. Der Schutz der Patienten lässt sich nicht mittels Grenzwerten regeln, da sich die Notwendigkeit der Exposition aus der medizinischen Problematik ergibt. Allen vertraut ist das ALARA-Prinzip (as low as reasonably achievable), nach dem die Dosis so niedrig zu halten ist, wie dies vernünftigerweise möglich ist. Genauer gesagt gibt es 3 Grundsätze bei der medizinischen Strahlenanwendung:

  • Rechtfertigung:

    Ein im Strahlenschutz fachkundiger Arzt muss befinden, dass der zu erwartende medizinische Nutzen das Strahlenrisiko überwiegt.

  • Dosisoptimierung:

    Technisch muss gewährleistet werden, dass die medizinische Aussage mit einem Minimum an Strahlendosis erzielt wird.

  • Dosisbegrenzung:

    Für den einzelnen Patienten ist eine regulatorische Begrenzung nicht möglich. Vielmehr werden durch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) diagnostische Referenzwerte (DRW) festgelegt. DRW sind demnach Richtwerte einer Dosisgröße, oberhalb derer die Ursache für ihre Überschreitung gesucht werden muss und Abhilfemaßnahmen in Erwägung zu ziehen sind, wobei ggf. Besonderheiten in der Zusammensetzung der Patientenkollektive zu berücksichtigen sind.

Nun steht, getrieben durch die Richtlinie 2013/59/Euratom, eine komplette Neugestaltung des Strahlenschutzrechts in Deutschland an. Der Gesetzgeber nutzt diese Gelegenheit zu einer einheitlichen Fassung in einem neuen Strahlenschutzgesetz (StrSchG), der das historisch gewachsene Gestrüpp bereinigt, insbesondere die artifizielle Aufteilung in die Röntgenverordnung (allein für die Röntgendiagnostik und Strahlentherapie unterhalb 1 MeV) und Strahlenschutzverordnung (für die Strahlentherapie und die Nuklearmedizin). Etliche neue Thematiken werden darunter gefasst werden, z. B. die Strahlenanwendung außerhalb medizinischer Indikation. Dies gibt uns den Anlass zum vorliegenden Heft, in dem unsere Autoren die unterschiedlichen Aspekte des Strahlenschutzes behandeln. Größtenteils gehören die Autoren der Strahlenschutzkommission (SSK) oder dem BfS an; auch die Herausgeber sind SSK-Mitglieder.

Nebenbei: Das BfS kennt man ja. Aber was ist eigentlich die SSK? Eine Aufsichtsbehörde? Antwort: Sie ist ein Beratungsgremium, das dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) unterstellt ist und die Aufgabe hat, die Bundesregierung wissenschaftlich in allen Fragen des Strahlenschutzes zu beraten – sei es zu Fragen der Anwendung von Strahlen in der Industrie, der Energiewirtschaft, der Entsorgung oder eben in der Medizin. Der SSK sind verschiedene Ausschüsse nachgeordnet, z. B. der Ausschuss A2 „Strahlenschutz in der Medizin“. Neben den Vertretern des Ministeriums und des BfS gehören diesem Wissenschaftler aus den Bereichen Radiologie, Nuklearmedizin, Strahlentherapie, Medizinphysik und Strahlenbiologie an, die persönlich berufen werden und nicht als Vertreter einer Fachgesellschaft oder eines Berufsverbandes – und die somit nicht deren Interessen und Standpunkte zu vertreten haben. Die Beratungsthemen des A2 entstammen entweder Aufträgen aus dem Ministerium an die SSK, die an den Ausschuss weitergeleitet und von diesem ggf. eigens gebildeten themenbezogenen Arbeitsgruppen übertragen werden. Von den Arbeitsgruppen werden Empfehlungen oder Stellungnahmen erarbeitet, die zunächst dem A2, dann der SSK zurückgeleitet werden. Diese können Änderungen oder Überarbeitungen verlangen und tun dies auch in der Regel, sodass Entwürfe wiederholt zwischen SSK, A2 und Arbeitsgruppen „pendeln“, bis sie am Ende verabschiedet werden – ein intensiver, oft kontroverser und fruchtbarer Prozess. Hinzu kommen Stellungnahmen zu Beschlüssen des Gemeinsamen Bundesausschusses (gBA). Dies hat durchaus seine Berechtigung, denn hierin werden als Voraussetzung für die Zulassung in der Versorgung teilweise Studien zu diagnostischen oder therapeutischen Verfahren verlangt, die mit einer signifikanten Strahlenexposition verbunden sein können. Deren Rechtfertigung hat die SSK zu überprüfen und hat hier mittelbar sogar eine Art Vetorecht: Atomrecht bricht Sozialrecht.

Die Arbeit ist streng vertraulich und kein Mitglied – auch die Vorsitzenden nicht – ist berechtigt, Details aus den Beratungen bekannt zu geben, Entwürfe weiterzugeben oder für die SSK bzw. den Ausschuss zu sprechen. Deshalb werden auch in der Regel ihre Mitglieder nicht, z. B. auf Podiumsdiskussionen, für die SSK sprechen. Dementsprechend werden die Beiträge der SSK- oder BfS-Mitglieder in diesem Heft von ihnen persönlich vertreten. Sie finden darin eine Auswahl an verständlichen und informativen Beiträgen zu dieser teils etwas trockenen Thematik und wir sind sicher, dass wir Ihr Interesse wecken können.

Ihre

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Prof. Dr. Stefan Delorme

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Prof. Dr. Reinhard Loose

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Prof. Dr. Ursula Nestle