Sprunginnovationen sollen eine Situation nicht verbessern, sondern grundsätzlich erneuern. Übertragen auf die Medizin verändern Sprunginnovationen unsere Sicht auf Erkrankungen oder die Behandlungsmöglichkeiten spezifischer Erkrankungen grundlegend. Die Neuromedizin hat in den letzten Jahren einige dieser disruptiven Veränderungen, die unser Fach grundlegend beeinflussen und insbesondere die Möglichkeiten der Behandlung einzelner Patientengruppen bereits heute, vor allem aber auch in der näheren Zukunft grundsätzlich verändern könnten, erlebt.

Klassische Sprunginnovationen, über die ggf. keine Zweifel bestehen, sind der Buchdruck, die Entwicklung von Antibiotika und das Internet. Darüber hinaus sind wir uns bezüglich einzelner Herausforderungen, die durch Sprunginnovationen adressiert werden müssten, einig. Dies betrifft sicherlich den Klimawandel, unsere Mobilität, die Energieversorgung, ganz abstrakt aber auch den demografischen Wandel mit seinen vielfältigen Herausforderungen. Ärzt:innen sehen viele der großen Volkskrankheiten oder sehr seltene, aber bis heute schlecht zu behandelnde Erkrankungen als besondere Herausforderungen. Kardiovaskuläre Erkrankungen oder Krebs sind dabei sicherlich ebenso wie neurodegenerative Erkrankungen wie beispielsweise die Demenzen Beispiele für Felder, in denen eine grundsätzliche Änderung der Forschung oder klinischer Praktiken notwendig sein wird, um größere Veränderungen herbeizuführen. Angeregt durch vielfältige diesbezügliche Diskussionen und als klinisches Fach, das in den letzten Jahren einen besonderen Wandel erlebt hat, haben wir uns in diesem Sonderheft für die DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie) 2022 mit dem Thema Sprunginnovation in der Neuromedizin beschäftigt. Die aktuell abgedruckten Beiträge stellen eine subjektive Auswahl besonders grundsätzlicher Veränderungen in den Bereichen Neuroonkologie, Neuroimmunologie und vaskuläre Neurologie dar. Andere Bereiche wie beispielsweise die Neurodegeneration oder seltene neurologische Erkrankungen würden sicherlich in ähnlicher Weise diskutierbar sein.

Das Nervensystem ist für die Progression von Krebserkrankungen wichtig

Tumorzellen unheilbarer Gliome bilden mittels sehr langer Membrantunnel, deren Bildung an Neuriten während der Neurogenese erinnert, Verbindungen zu anderen Tumorzellen. Venkataramani und Winkler stellen ein weiterführendes Konzept der strukturellen Verbindung des Nervensystems und des Tumorwachstums vor. Das zentrale Nervensystem steuert unzählige biologische Vorgänge. Es ist aber offenbar auch an der Initiierung und dem Fortschreiten von Krebserkrankungen beteiligt. In der Neuroonkologie wurden Parallelen zur neuronalen Entwicklung und neuralen Funktion auf vielen Ebenen gefunden. Darüber hinaus ist auch das periphere Nervensystem an der Entstehung und Progression vieler Tumorkrankheiten des Körpers eng beteiligt. Tumorkrankheiten wirken auch auf das Nervensystem zurück. Die Autoren gehen dabei über die anatomischen Interaktionen von Nervenzellen und Tumorzellen im zentralen Nervensystem weit hinaus und postulieren eine Kontrolle der Tumorerkrankung auch durch das Nervensystem und damit neben tumorintrinsischen und immunologischen Faktoren den Bereich „cancer neuroscience“ (Krebsneurowissenschaft) als maßgebliche Säule zum Verständnis von Krebserkrankungen. Aus diesem Paradigmenwechsel ergeben sich bereits heute absehbar massive Änderungen in der Vorstellung der Erkrankung und therapeutischen Prinzipien.

Willison und Meuth diskutieren die Grundsätze der neuroimmunologischen Behandlung bei Multipler Sklerose. Neben vielfältigen, zum Teil hoch aktiven medikamentösen Strategien, die vor einigen Jahren zum Paradigmenwechsel einer Nulltoleranz gegenüber Entzündungsaktivität geführt haben, erscheint heute auch eine vollständige „Reprogrammierung“ des Immunsystems beispielsweise durch Stammzelltransplantation möglich. Die Behandlung von Multipler Sklerose durch autologe hämatopoetische Stammzellentransplantation gewinnt an Bedeutung. Im Review fokussieren sich die Autoren auf die Evidenz und die europäischen Leitlinien. Um als Behandlungsoption für geeignete Patient:innen (Alter unter 45 Jahre, Expanded Disability Status Scale [EDSS] ≤ 5,5, hochaktive Multiple Sklerose, Krankheitsdauer von weniger als 10 Jahren, unwirksamer Verlauf mit krankheitsmodifizierender Therapie bzw. einer rasch progredienten Erkrankung) infrage zu kommen, ist zur Prüfung an ein erfahrenes Zentrum zu überweisen und zu berücksichtigen, dass in jedem Einzelfall eine Kostenübernahme beantragt werden muss.

Die Neurothrombektomie hat eine extrem niedrige „number needed to treat“

Als Beispiel für eine reale Änderung eines Therapiestandards mit weitreichenden Auswirkungen für eine große Zahl unserer Patient:innen – insbesondere diejenigen, die von längerfristiger Behinderung und damit einer wesentlichen Einschränkung ihres prämorbiden Lebens bedroht sind – diskutieren Bendszus und Weyland in ihrem Beitrag „Neurothrombektomie 2022“ Indikationserweiterung und technische Innovation. Die Neurothrombektomie hat in den letzten 10 Jahren wie kein anderes Verfahren in der Medizin mit extrem niedrigen „number needed to treat“ Patient:innen mit schweren Schlaganfällen geholfen, ihrem Schicksal auszuweichen.

Aktuell wird vor allem unter der Vorstellung, dass die Therapie sehr zeitkritisch ist und wegen der Effektivität möglichst vielen Menschen zugutekommen soll, über sinnvolle Indikationserweiterungen nachgedacht. Hierbei im Fokus stehen schwer betroffene Patient:innen mit fortgeschrittenen demarkierten territorialen Mediaischämien, bei denen zahlreiche retrospektive und erste prospektive Studien einen positiven Effekt der mechanischen Thrombektomie zeigen. Ebenso im Fokus stehen Patient:innen mit leichtem Schlaganfall (National Institutes of Health Stroke Scale [NIHSS] < 6), für die es aktuell keine Evidenz für die mechanische Thrombektomie gibt. Für diese Patientengruppe müssen entsprechende Studienprotokolle zwischen Patient:innen mit proximalem Gefäßverschluss und disproportional milden Symptomen sowie distalerem Gefäßverschluss und dadurch entsprechend geringen klinischen Symptomen differenzieren. Neue Aspirationskatheter und Stentretriever sowie konkurrierende Thrombektomietechniken messen sich am „first pass effect“ – der erfolgreichen Rekanalisation mit nur einem Thrombektomieversuch.

Die Neurothrombektomie hat neben den technischen und medizinischen Innovationen, die Hand in Hand gegangen sind, zu massiven strukturellen Veränderungen in unserem Notfallmedizinsystem geführt. Sehr viele Standorte weltweit haben aufgrund dieses Verfahrens ihre Vorgehensweisen bei der regionalen und überregionalen Behandlung von Schlaganfallpatient:innen adaptiert bzw. adaptieren diese Strukturen weiterhin an den jeweils gültigen Studienstandards.

Die genannten Verfahren stellen sicherlich jeweils keine Endpunkte einer Entwicklung dar und sind in aller Zurückhaltung natürlich nicht mit der Erfindung der Antibiotika oder mit der Entwicklung des Internets zu vergleichen, stellen jedoch so wesentliche Änderungen dar, dass sie unser Fach als Ganzes bewegen, große Patientengruppen mit neuen Chancen versehen und Anregungen für weitere klinische und wissenschaftliche Beschäftigung bieten. Allen genannten Themen gemeinsam ist der Innovationsgrad, der sich durch höchstrangige wissenschaftliche Entwicklungen und die Nutzung einer kritischen Masse an einzelnen Standorten, die für diese Innovation prädestiniert sind, auszeichnen.

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen der Beiträge und bei der Beschäftigung mit dem Thema „Sprunginnovation in der Neuromedizin“, welches wir auf dem diesjährigen Kongress der DGN und in der Neurowoche weiter vertiefen werden.

Wolfgang Wick