Die Neurologie als Schlüsselmedizin des 21. Jahrhunderts – so positioniert die Deutsche Gesellschaft für Neurologie ihr Fach auf der Homepage, um dann weiter auszuführen, dass die Neurologie immer komplexer und vielfältiger wird und dass dies eine große Herausforderung darstellt.

Die Entwicklung in der Neurologie ist in der Tat faszinierend, was sich für mich deutlich zeigt, wenn ich unseren heutigen Wissenstand vergleiche mit dem aus dem Lehrbuch der Neurologie aus dem Jahr 1983, mit dessen Hilfe ich die Grundlagen dieses Faches erlernt habe. Während zu dieser Zeit die Neurologie ein fraglos auch spannendes, aber eher diagnostisch ausgerichtetes Fach war, hat sich heute eine therapeutische Dimension entwickelt, die es erfordert, sich ein ganz neues Grundlagenwissen anzueignen. Denn nur ein fundiertes Grundlagenwissen ermöglicht es, neue Entwicklungen überhaupt zu verarbeiten. Hierbei soll das Leitthemenheft von Der Nervenarzt „Gentherapie bei neurologischen Erkrankungen“ eine Hilfe sein.

Benedikt Schoser eröffnet dieses Thema am Beispiel der neuromuskulären Erkrankungen. Während im eben zitierten Lehrbuch unter Therapie derartiger Erkrankungen noch angeführt wurde, dass der Verlauf nicht zu beeinflussen ist, führt Schoser aus, dass die nun zugelassene Gentherapie der spinalen Muskelatrophie als so wirksam angesehen wird, dass sich als Konsequenz die Aufnahme der spinalen Muskelatrophie ins Neugeborenenscreening ergab. Erfreulich propädeutisch führt er in die Grundlagen der Gentherapie ein, speziell in die Genersatztherapie, die Geninaktivierung und die Geneditierung. Neben den faszinierenden Möglichkeiten stellt er jedoch auch die Herausforderungen und Limitierungen einer solchen Therapie dar, die insbesondere durch die Notwendigkeit eines viralen Gentransfers entstehen. Eine nichtvirale Transduktion z. B. mittels Nanopartikeln oder Exosomen stellt eine Option dar, für die es z. B. erste präklinische Daten zum Morbus Huntington gibt.

Am Beispiel der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie gehen Tim Hagenacker et al. dann in die Details der zur Verfügung stehenden genetisch basierten Therapien. Auch wenn diese Erkrankung mit 80 bis 120 Neugeborenen pro Jahr sehr selten ist, lässt sich hier beispielhaft zeigen, wie erfolgreich eine derartige Therapie sein kann. Entscheidend ist ein früher, idealerweise schon präsymptomatischer Therapiebeginn. Doch selbst bei fortgeschrittenem Krankheitsverlauf scheint diese kausal orientierte Therapie eine Verlaufsmodifikation bewirken zu können. Die Tatsache, dass für die Erkrankung mittlerweile drei genetisch basierte Therapieverfahren zur Verfügung stehen, zeigt beeindruckend die rasante Entwicklung in diesem Bereich.

Diese Therapiemechanismen sind faszinierend und die Ergebnisse beeindruckend – der finanzielle Aufwand ist immens

Dies gilt auch für die hereditäre Transthyretinamyloidose, eine Erkrankung die zu einer fortschreitenden Polyneuropathie sowie Kardiomyopathie führt und die unbehandelt fatal verläuft. Matthias Schilling stellt Therapiemöglichkeiten vor, die selektiv auf mRNA-Niveau ansetzen und die Neuropathieprogression aufhalten sowie die Lebensqualität verbessern.

Wenngleich diese Therapiemechanismen faszinierend und die Therapieergebnisse beeindruckend sind, darf nicht verschwiegen werden, dass der finanzielle Aufwand für derartige Therapien immens ist und im siebenstelligen Eurobereich liegen kann. Die Diskussion, wer in welchem Krankheitsstadium welche Therapie erhalten soll und welche Kriterien gegebenenfalls auch zum Abbruch einer derartigen Therapie zur Anwendung kommen sollen, stellt eine große Herausforderung dar, die eine klare Positionierung der Neurologie verlangt. Auch wenn die Therapiekosten auf den ersten Blick erschrecken, handelt es sich bei den genannten Erkrankungen um seltene Erkrankungen im Sinne einer Orphan Disease. Hierbei handelt es sich um Erkrankungen von denen maximal 5 von 10.000 Menschen betroffen sind. Nach Angaben des Verbandes der forschenden Pharmaunternehmen (vfa) gab es zum Zeitpunkt Februar 2020 198 Wirkstoffe gegen 152 Krankheiten im Sinne einer Orphan-Drug-Zulassung [1]. Hierbei fielen 6 % auf die Neurologie und 41 % auf Krebserkrankungen. Laut dieser Angaben machten ambulant angewendete Orphan Drugs 4,4 % der Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherungen aus. Auch wenn dies jetzt noch nicht sehr viel erscheint, wird bei der abzusehenden Entwicklung dieser Anteil deutlich zunehmen und das Gesundheitssystem vor eine große Herausforderung gestellt. In der zu erwartenden zum einen ökonomisch getriebenen, zum anderen fachlich und ethisch dominierten Diskussion werden sich die Neurologinnen und Neurologen positionieren müssen. Hierzu brauchen sie das nötige Verständnis nicht nur für die zugrunde liegenden Erkrankungen, sondern auch für die neuen genetisch basierten Therapieverfahren.

Ziel der heutigen Publikationen ist es, unser Wissen dahingehend zu erweitern.

Ich bin sicher, dass zahlreiche Publikationen dieser Art in den nächsten Jahren folgen werden.