Ende Oktober 2020 sind weltweit über 45 Mio. Menschen an einer Infektion mit dem „severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“ (SARS-CoV-2) erkrankt und über eine Million Menschen sind daran gestorben. In Deutschland wie in vielen anderen Ländern weltweit kommt es derzeit zu einem deutlichen Anstieg der Infektionszahlen [15]. Die Pandemie hat Auswirkungen auf die psychische wie körperliche Gesundheit, wobei den Auswirkungen der Quarantäne und sozialen Isolation eine bedeutsame Rolle zugeschrieben wird [2, 5]. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Bereich der psychischen Gesundheit weisen auf die Notwendigkeit einer Bewertung der präventiven und therapeutischen Maßnahmen in unterschiedlichen Ländern hin [10, 16].

Psychische Belastung und Beanspruchung in der Allgemeinbevölkerung

Erste Erhebungen zur psychischen Gesundheit im Zusammenhang mit der „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) wurden im Januar und Februar 2020 in China gestartet [12, 23, 30]. In diesem Kontext entwarf das Shanghai Mental Health Center einen Fragebogen, den sogenannten COVID-19 Peritraumatic Distress Index (CPDI), um die psychische Belastung der Allgemeinbevölkerung in China zu bewerten [23].

Da die weltweiten COVID-19-Fälle dramatisch zunahmen, initiierten mehrere Länder zwischen Ende März und Mitte Mai 2020 landesweite Erhebungen [19]. Sie verwendeten dasselbe CPDI-Design, das zuvor in China verwendet worden war [23], um die psychische Gesundheit der Allgemeinbevölkerung während dieser anfänglichen Periode hoher Übertragungen von COVID-19 zu beurteilen [19]. Die Ergebnisse zeigen ein weltweit stark variierendes Ausmaß psychischer Belastung, wobei die Prävalenz von niedrig (6 %, N = 1035 in Italien und 11,5 %, N = 410 in Nepal) über moderat (24,1 %, N = 1007 in Deutschland) bis hoch (61,1 %, N = 1058 im Iran und 70,8 %, N = 638 in Brasilien) reicht. Verglichen damit berichteten 34,4 % (N = 52.730) der Befragten in China psychische Belastungen [18, 19, 23]. Diese Studien unterscheiden sich also erheblich im berichteten Ausmaß psychischer Belastungen. Trotz ungesicherter Repräsentativität weisen sie deutlich darauf hin, dass der Ausbau des Gesundheitssystems, der soziokulturelle und politische Kontext und/oder die eingeleiteten gesundheitspolitischen Maßnahmen Einfluss auf psychische Belastungen während der Pandemie haben [18, 19, 23].

Eine systematische Übersichtsarbeit von Xiong et al. [35] zeigte, dass die Allgemeinbevölkerung in China, Spanien, Italien, Iran, USA, Türkei, Nepal und Dänemark von Beginn der Pandemie bis zum 17.05.2020 eine hohe Stressbelastung und relativ hohe Raten an Angstsymptomen (6,33–50,9 %), depressiven Stimmungszuständen (14,6–48,3 %) und stressbedingten Belastungen (7–53,8 %) berichtete [35]. Anders als in den oben genannten Studien, die alle denselben Fragebogen nutzen, kann die große Heterogenität dieser letztgenannten Ergebnisse auch durch unterschiedliche Bewertungsinstrumente in den verschiedenen Kontexten bedingt sein. Risikofaktoren im Zusammenhang mit psychischer Belastung waren weibliches Geschlecht, jüngeres Lebensalter (≤40 Jahre), das Vorliegen chronischer/psychiatrischer Erkrankungen, Arbeitslosigkeit, Studentenstatus und eine häufige Exposition gegenüber Informationen zu COVID-19 in sozialen Medien und Nachrichten [35].

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass es notwendig ist, den psychischen Gesundheitszustand im Verlauf der Pandemie in den einzelnen Ländern wiederholt zu untersuchen und Prädiktoren für die psychische Gesundheit und Gefährdung zu identifizieren. So erhöht Arbeitslosigkeit das Risiko einer Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit, insbesondere während einer Rezession und bei begrenzten Beschäftigungsmöglichkeiten [1]. Ein wirtschaftlicher Abschwung kann Angst vor Arbeitsplatzverlust auslösen und das Risiko der sozialen Ausgrenzung erhöhen, was die psychische Gesundheit deutlich beeinträchtigen kann [6, 7].

Soziale Isolation ist ein wesentlicher Risikofaktor für die Manifestation psychischer Erkrankungen

Darüber hinaus haben durch die Pandemie und die damit verbundenen Isolationsmaßnahmen bewirkte Einsamkeit und das Ausmaß der selbst wahrgenommenen sozialen Isolation einen starken Einfluss auf das psychische Wohlbefinden [13]. Einerseits spielen soziale Distanzierung, Isolation, Quarantäne und Kontaktbeschränkungen eine Schlüsselrolle bei der Eindämmung der COVID-19-Pandemie [32]. Andererseits sind soziale Isolation und eingeschränkte soziale Teilhabe ein wesentlicher Risikofaktor für die Manifestation unterschiedlicher psychischer Erkrankungen inklusive potenziell schwer und chronisch verlaufender Krankheitsbilder wie etwa schizophrener Psychosen, affektiver Erkrankungen und Suchterkrankungen [7, 8]. Eine Metaanalyse von Henssler et al. [9] zeigte anhand der Quarantänemaßnahmen bei früheren Epidemien ein über doppelt so hohes Risiko, an Depressionen oder stressbezogenen Störungen zu erkranken, und auch Angststörungen traten etwa doppelt so häufig auf. Neurobiologisch ist bekannt, dass Stressexposition zum Auftreten von negativen Stimmungszuständen und erhöhter Aggressivität beitragen kann [8]. Soziale Unterstützung gilt demgegenüber als Schutzfaktor [2, 7].

Psychische Belastungen sind dann besonders ausgeprägt, wenn zusätzlich zur sozialen Isolation auch eine wirtschaftliche Notlage auftritt. Dies wurde im Rahmen der Austeritätspolitik und ihren Folgen während der Finanzkrise in Griechenland gut belegt [6]. In diesem Kontext wurde in der Rezession (2009–2015) in Griechenland ein Anstieg der Suizidraten um 33 % beobachtet [6]. Dazu passend zeigte sich in einer Umfrage in Deutschland, dass das Ausmaß der erlebten psychischen Belastungen nicht mit der Zahl infizierter Personen, sondern mit der Höhe der Arbeitslosigkeit korrelierte [19]. Hinzu kommen Hinweise, dass ein erhöhter Drogen- und insbesondere Alkoholkonsum während sozialer Isolation zu einer erhöhten Zahl häuslicher Gewalttaten führen kann [8].

Psychische Belastung und Beanspruchung von Patientinnen und Patienten

Während der COVID-19-Pandemie kommt es weltweit zu einem Anstieg depressiver Symptome und Störungen, die laut aktuellen Studien aus den USA während der Pandemie etwa dreimal häufiger auftraten als zuvor [5, 29]. Zudem können sich bereits bestehende Erkrankungen verschlechtern. So stellte die COVID-19-Pandemie auch Patientinnen und Patienten mit Essstörungen wie Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung vor große Herausforderungen [26].

Diese Berichte werden auch durch systematische Reviews und Metaanalysen bestätigt, wonach soziale Isolation nicht nur zur einer Zunahme von Angststörungen und affektiven Erkrankungen sowie stressbedingten psychischen Problemen führen kann, sondern auch bestehende Erkrankungen verschlechtert [9, 11]. Bei Personen, die sich mit SARS-CoV‑2 infiziert haben, kommen direkte Wirkungen der Infektion hinzu. So können Symptome eines hirnorganischen Psychosyndroms im Sinne eines Deliriums auftreten, im weiteren Verlauf auch affektive Störungen, Angststörungen, Fatigue und andere psychische Beschwerden [25, 28].

Der Zugang zu ambulanten und stationären Hilfsangeboten ist durch die Isolationsmaßnahmen erschwert

Ein möglicher Grund dafür, dass bereits bestehende Erkrankungen in ihrem Verlauf durch soziale Isolations- und Quarantänemaßnahmen negativ beeinflusst werden [9], ist neben den Auswirkungen der sozialen Isolation selbst die oft stark eingeschränkte Zugänglichkeit von ambulanten und stationären psychiatrischen und psychotherapeutischen Hilfsangeboten. So wurden persönliche Kontakte in vielen Ambulanzen ersetzt durch Kontakte über Videokonferenzen oder Telefonate, was aber insbesondere für Menschen mit sozialen Einschränkungen die Zugänglichkeit reduzieren kann. Nach aktuellen Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland ging die Inanspruchnahme von Einzel- und Gruppenpsychotherapie und der Substitutionsbehandlung im ersten Halbjahr 2020 deutlich zurück, während kassenärztliche Videosprechstunden von knapp 600 im ersten Halbjahr 2019 auf über 1.000.000 im Vergleichszeitraum 2020 anstiegen [36].

International empfohlene Maßnahmen zur Minderung der Folgen

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO; [34]), der Ständige interinstitutionelle Ausschuss der Vereinten Nationen [27] sowie die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften [14] fassen internationale Empfehlungen zum Umgang mit psychischer Belastung und Beanspruchung während der COVID-19-Pandemie zusammen, um Handlungsoptionen für praktizierende Ärztinnen und Ärzte und andere Gesundheitsfachkräfte zu vermitteln.

Die WHO [33, 34] gibt unter anderem folgende Empfehlungen für individuelle Bewältigungsstrategien bezüglich COVID-19-bezogener psychischer Belastungen (hier zusammenfassend dargestellt):

  • Kontakte zu Freunden und Familie

  • Förderung eines gesunden Lebensstils, z. B.

    • körperliche Aktivität,

    • gesunde Ernährung und

    • soziale Kontakte, gegebenenfalls über Telefon/elektronische Medien

  • Vermeiden von Tabak, Alkohol oder anderen Drogen zur Emotionsregulation

  • Im Bedarfsfall professionelle Unterstützung bei Gesundheitsfachkräften suchen

  • Orientierung an Fakten bezüglich des persönlichen Risikos und Möglichkeiten, sich zu schützen (in Deutschland z. B. über das Robert Koch-Institut)

  • Reduktion der Zeit mit Konsum beunruhigender Medienberichte

Zu spezifischen Hinweisen für ältere Menschen und Kinder sei an dieser Stelle auf die Übersichten von Petzold et al. [20] und Liu et al. [17] verwiesen. Eine aktuelle Umfrage in Deutschland [18] zeigte, dass körperliche Aktivität (z. B. Joggen), kognitive Aktivitäten (z. B. Lesen) sowie virtuelle soziale Kontakte von den Befragten als hilfreiche Strategien angesehen wurden.

Auf politischer und sozialer Ebene gilt es, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken

Um die unmittelbaren und langfristigen psychischen Folgen von COVID-19 zu bewältigen, ist es auf politischer und sozialer Ebene wichtig, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken [22] und die Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Hier wird vom IASC [27] unter anderem empfohlen, den Zugang zu Präventions- und Therapieangeboten insbesondere für vulnerable Gruppen zu verbessern, allen Bevölkerungsgruppen akkurate und aktuelle Informationen über COVID-19 zur Verfügung zu stellen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitssystem darin zu schulen, psychische Störungen und Krisen zu identifizieren und adäquat zu versorgen.

Qi et al. [22] stellten fest, dass während des COVID-19-Ausbruchs ein geringeres Maß an sozialer Unterstützung mit einer höheren Prävalenz psychischer Gesundheitsprobleme bei Jugendlichen verbunden war. In China waren Wohneinheiten mit dem Namen Shèqū eine wichtige Komponente im Kampf gegen SARS-CoV-2: Gemeinden im Shèqū-System lieferten Lebensmittel aus und sammelten Hausabfälle für diejenigen, die sich selbst isolieren mussten. Weltweit spielen niedrigschwellige kommunale psychosoziale Hilfsangebote insbesondere für Menschen, die sich in Quarantäne befinden, eine Schlüsselrolle im Kampf gegen die psychischen Folgen der COVID-19-Pandemie, wozu auch die Einrichtung spezifischer Telefonhotlines und Onlinehilfsangebote für psychische Gesundheit bzw. psychotherapeutische Beratung gehört [31]. Für den deutschsprachigen Raum verweisen wir auf eine Übersicht der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) zu telefonischen Hilfsangeboten [3] sowie auf eine Übersicht der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zu Onlineberatungs- und Therapieangeboten bzw. E‑Mental-Health-Anwendungen [4].

Die Auswirkungen dieser Pandemie können soziale Unterschiede verstärken, die in mehreren Studien mit dem Auftreten psychischer Erkrankungen korrelierten [7, 21, 24]. Im internationalen Maßstab sollten künftige Studien die Auswirkungen sozialer Ungleichheit und politischer Teilhabemöglichkeiten auf die psychische Gesundheit vergleichen und den Einfluss unterschiedlicher Versorgungssysteme beschreiben.

Fazit für die Praxis

Aus den zitierten Studien und Berichten ergeben sich die folgenden Handlungsempfehlungen:

  • Eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit therapeutischen Angeboten, gerade im Bereich der Angststörungen, affektiven Erkrankungen sowie stressbedingten psychischen Probleme, sollte Videosprechstunden und telefonische Angebote beinhalten.

  • Eine Erhöhung therapeutischer Onlineangebote sollte zudem besonders auf diejenigen Personen ausgerichtet werden, die stark unter den Folgen der Pandemie leiden: Arbeitssuchende, junge Menschen, Frauen, Alleinerziehende und sozial isolierte Menschen.

  • Ein besseres Informations- und Beratungsangebot wird für Frauen benötigt, die häusliche Gewalt erfahren.

  • Informations- und Beratungsangebote gegen soziale Isolation sollten auch in leichter Sprache vorliegen. Dazu gehören auch Empfehlungen von Onlinesportangeboten oder sozialen Onlineveranstaltungen.

  • Wichtig zur Vermeidung ausgeprägter negativer Folgen sozialer Isolation sind Treffen mit einzelnen Personen unter Einhaltung der geltenden Infektionsschutzmaßnahmen und Kontaktbeschränkungsregelungen. Treffen sollten in geeigneter Form auch für ältere, in Heimen lebende Personen ermöglicht werden.