Die Medizin hat in den letzten Jahrzehnten zweifellos enorme Fortschritte in der Diagnostik und Therapie erreicht. Beispiele aus unseren Fächern sind die sich rasant entwickelnden genspezifischen und Immuntherapien. Dies sind wichtige und nicht mehr wegzudenkende Entwicklungen, die unseren Patienten zugutekommen. Andererseits ist mit zunehmender Bürokratie und wirtschaftlicher Orientierung des Gesundheitswesens die Bedeutung der Arzt-Patienten-Kommunikation zu sehr in den Hintergrund geraten: In vielen Bereichen ist die Kunst des Heilens einer regelrechten Gesundheitsindustrie gewichen. Die systematische Untersuchung des Placeoeffektes könnte hier ein Umdenken anstoßen. Warum dies so ist, steht im Fokus des aktuellen Themenheftes.

Jede medizinische Behandlung findet im Kontext individueller Erwartungen statt

Ein Zuckerdragee, das Kopfschmerzen vertreibt. Eine Infusion mit Kochsalzlösung, die bei Parkinson hilft. Schon mit der Terminbestätigung des monatelang ersehnten Erstkontakts mit dem Psychotherapeuten hebt sich die Stimmung. Placeboeffekte sind seit der Antike beschrieben und alle Behandelnden beobachtet sie in der täglichen Praxis. Gleichzeitig stellen hohe Placeboraten in klinischen Studien eine große Herausforderung für die Entwicklung und Zulassung neuer Medikamente dar. Nach intensiver Forschung beginnen wir allmählich das „Phänomen Placebo“ zu entschlüsseln. Dabei wird deutlich: Placeboeffekte sind weder eingebildet noch lästige Artefakte in klinischen Studien, sondern sehr konkrete psychoneurobiologische Vorgänge.

Eine weitere wichtige Erkenntnis: Das Auftreten von Placeboeffekten ist weder an die Behandlung mit Scheinmedikamenten noch an die traditionell damit verbundene Täuschung des Patienten geknüpft. Denn die geheimnisvolle, treibende Kraft hinter der Wirkung von Placebos ist die Behandlungserwartung des Patienten. Jede medizinische Behandlung findet im Kontext individueller Erwartungen statt. Und diese beeinflussen nicht nur die Wirkung von Scheinmedikamenten, sondern auch die Wirksamkeit und Verträglichkeit etablierter, evidenzbasierter Behandlungen, z. B. pharmakologischer Therapien. Die hieran beteiligten Lernmechanismen können auch gänzlich unbewusst stattfinden und trotzdem eine große Wirkung entfalten. Leider nicht immer eine positive: Negative Erfahrungen, Ängste und Sorgen können neue Symptome auftreten lassen oder diese verschlimmern. Im klinischen Alltag sind diese sog. Noceboeffekte vermutlich für einen Großteil unerwünschter Medikamentenwirkungen verantwortlich und können schwerwiegende Folgen für die Therapietreue haben. Noceboeffekte können auch bewirken, dass Behandlungen weit hinter ihren möglichen Erfolgen zurückbleiben oder sogar unwirksam werden, wie dies z. B. im Bereich der Schmerztherapie belegt ist. Wie Noceboeffekte auch das Absetzen von Medikamenten erschweren, ist Gegenstand aktueller Untersuchungen. Was wirkt, ist also nicht das Placebo selbst, sondern die daran geknüpfte Erwartung beeinflusst die Wirksamkeit und Verträglichkeit von medizinischen Behandlungen.

Erwartung beeinflusst die Wirksamkeit und Verträglichkeit von medizinischen Behandlungen

Während die psychologischen Wirkvariablen von Placebo- und Noceboeffekten bereits recht gut verstanden werden, steckt die Entschlüsselung der neurobiologischen und physiologischen Mechanismen von Placeboeffekten noch in den Kinderschuhen. Erfreulicherweise widmet sich der neu eingerichtete Transregio-Sonderforschungsbereich 289 „Treatment Expectation“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit einem interdisziplinären Team von Wissenschaftlern dieser Thematik und lässt spannende neue Erkenntnisse erwarten.

Die Behandlungserwartungen werden ganz wesentlich durch den Arzt beeinflusst

Wir sollten aber schon jetzt die bereits gewonnenen Erkenntnisse nutzen. Und das können wir auch: Die Behandlungserwartungen und -erfahrungen unserer Patienten sind nicht in Stein gemeißelt, sondern werden ganz wesentlich von uns beeinflusst. Unsere Kommunikationskompetenz und Arzt-Patienten-Beziehung ist das derzeit beste Instrument, um die komplexen psychoneurobiologischen Prozesse von Placebo- und Noceboeffekten systematisch zum Wohle des Patienten zu nutzen. Das ist kein Hokuspokus, sondern wissenschaftlich gut fundiert.

In dem aktuellen Themenheft beleuchten renommierte Wissenschaftler das Phänomen von verschiedenen Seiten, dokumentieren den aktuellen Erkenntnisstand und leuchten Zukunftsfelder aus. Dazu gehören die spannenden Fragen, warum Placebos sogar wirken, obwohl der Patient weiß, dass seine Tablette gar keinen Wirkstoff enthält, welche Wechselwirkungen zwischen Placebo- und pharmakologischen Effekten bestehen und nicht zuletzt Fragen zu den ethischen Aspekten des Themas. Es ergeben sich auch juristische Fragen: Aufklärung und Beipackzettel können Noceboeffekte entfalten und dem Patienten schaden.

Erfahrenen Behandlern ist bewusst, wie hilfreich eine gute Kommunikation zwischen Therapeut und Patient ist und wie schädlich eine schlechte sein kann. Die Erforschung des Zusammenhangs zwischen der Erwartung des Patienten und Behandlungserfolg bietet ein weiteres – evidenzbasiertes – Argument, diese Kommunikation auf allen Eben zu fördern: in der Ausbildung, im täglichen Vorgehen und nicht zuletzt im Vergütungssystem.

figure b

Prof. Dr. U. Bingel

figure c

Prof. Dr. A. Kersting