Noch bis vor wenigen Jahren galt die Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als eine auf die Kindheit und Jugend begrenzte Störung und war in der Erwachsenenmedizin weitestgehend unbekannt. Inzwischen steht fest, dass ADHS in unterschiedlicher Symptomausprägung bei 50–80 % der im Kindesalter Betroffenen in das Erwachsenenalter persistiert und über die Lebensspanne mit erheblichen negativen psychosozialen Auswirkungen und somatischen wie auch weiteren psychischen Erkrankungen einhergehen kann. Die Kenntnis der Symptomatik und der evidenzbasierten Behandlungsmöglichkeiten dieses Störungsbildes im Erwachsenenalter ist ein wichtiger Fortschritt der jüngeren psychiatrischen Forschung und hat die Versorgung der Betroffenen verbessert.

Entgegen der häufig postulierten Annahme einer Zunahme der Diagnose, bleibt die Prävalenz der ADHS in bevölkerungsbasierten Stichproben stabil. Versorgungsdaten weisen jedoch bei Kindern in der Tat auf eine Zunahme der Diagnosehäufigkeit hin. Für die Transitionsphase vom Jugend- in das junge Erwachsenalter zeichnet sich indes anhaltend eine dramatische Versorgungslücke ab.

ADHS ist eine komplexe wie auch heterogene psychische Störung

Wie Kittel-Schneider und Reif in ihrem Artikel ausführen, ist ADHS – vergleichbar zu einigen anderen psychischen Erkrankungen – eine komplexe wie auch heterogene psychische Störung, die maßgeblich durch genetische Risiken und frühe Umwelteinflüsse mit Auswirkung auf die Gehirnentwicklung bedingt ist. Patientinnen und Patienten unterscheiden sich jedoch auf individueller Ebene ätiopathogenetisch im Hinblick auf ihr genetisches Risikoprofil und die jeweiligen Umwelteinflüsse erheblich.

In genomweiten Assoziationsstudien internationaler Konsortien mit hohen Fallzahlen konnten kürzlich einige interessante häufig vorkommende Risikovarianten identifiziert werden, die größtenteils Gene umfassen, die für die neuronale Entwicklung kodieren. Andererseits sind seltene genetische Varianten mit dann individuell stärkeren Effekten signifikant mit ADHS assoziiert. Analog zur phänotypischen und genetischen Heterogenität finden sich auch neuropsychologisch unterschiedliche Profile hinsichtlich kognitiver, emotionaler und motivationaler Funktionen und auch in der zerebralen Bildgebung zeichnen sich im Kindesalter schweregradassoziierte kleinere Volumina in unterschiedlichen Hirnarealen (frontal, parietal, Basalganglien, zerebellär, subkortikal) im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern ab. Interessanterweise lassen sich diese Volumenunterschiede (im Gruppenvergleich) im Erwachsenenalter nicht mehr nachweisen, obwohl weiterhin ADHS-Symptome bestehen, sodass hier weitere Forschung auf molekularer Ebene zum Verständnis der Erkrankung erforderlich ist.

Erfreulicherweise können wir inzwischen auf evidenzbasierte S3-Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung der ADHS über die Lebensspanne zurückgreifen. Wie Retz und Mitarbeiter in ihrer Übersicht ausführen, stehen sehr gut wirksame Medikamente zur Verfügung, die bei Erwachsenen mit bereits moderater bis schwerer ADHS als Therapie erster Wahl zum Einsatz kommen. Allerdings respondieren nicht alle Patienten gleichermaßen gut und mit steigendem Lebensalter nehmen mögliche Kontraindikationen wie kardiovaskuläre Erkrankungen zu.

Therapieoptionen auf individueller Ebene sind in der Entwicklung

Ein weiterer Beitrag von Lux und Mitarbeitern widmet sich den nichtmedikamentösen Therapiemöglichkeiten. Psychosoziale und psychotherapeutische Behandlungen finden in einem Gesamtbehandlungskonzept ergänzende Anwendung. Gespannt dürfen wir hier auf weitere Entwicklungen bspw. im Bereich der Medizintechnologie, individualisiertem Neurofeedback und dem zusätzlichen Nutzen von Sport sein. Die klinische und ätiopathogenetische Heterogenität von ADHS motiviert uns – trotz wirksamer Medikamente – die Suche nach weiteren Therapieoptionen auf individueller Ebene im Sinne der personalisierten Medizin weiter voranzutreiben.

Ein solches Heft über eine Entwicklungsstörung kann nur in Kooperation mit den Kollegen der Kinder- und Jugendpsychiatrie entstehen und daher freuen wir uns Ihnen neben den hervorragenden Artikeln zu Risikofaktoren, der medikamentösen und nichtpharmakologischen Therapie der ADHS im Erwachsenenalter auch einen State-of-the-art-Artikel zu ADHS im Kindes- und Jugendalter von Häge und Kollegen präsentieren zu können.

Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre

Ihre

figure a

Prof. Dr. Alexandra Philipsen

figure b

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer