Versorgungsforschung ist für viele neurologische Krankheiten mit ihren komplexen diagnostischen und therapeutischen Prozessen und dem erforderlichen Zusammenspiel von ambulanten und stationären Versorgungswegen von großer und wachsender Bedeutung. In Zeiten des Ärztemangels ist es aus der Bevölkerungsperspektive wichtig, durch aktuelle Versorgungsdaten eine flächendeckende Versorgung gerade auch in ländlichen und sozioökonomisch weniger begünstigten Gebieten im Auge zu behalten. Aus der Patientenperspektive gewinnt das „patient-reported outcome“ mit seinen Messgrößen, die auf Patienteneinschätzungen beruhen, zunehmende Bedeutung.

Daten aus der Qualitätssicherung liefern wertvolle Informationen

In vier Arbeiten haben die Autoren des Leitthemas „Versorgungsforschung“ in dieser Ausgabe von Der Nervenarzt wichtige Versorgungsaspekte bei Schlaganfall, Multipler Sklerose und Parkinson-Erkrankungen in Deutschland herausgearbeitet.

Schwarzbach und Mitarbeiter adressieren das Thema Schlaganfallnachsorge. Während es in Deutschland beispielsweise für die koronare Herzerkrankung ein Disease-Management-Programm gibt, bestehen für Schlaganfallpatienten keine Strukturen für die Nachsorge, die die Sektoren Krankenhaus, Rehabilitation und ambulante Weiterversorgung verbinden. Die Anforderungen an eine optimierte Sekundärprophylaxe, die häufigen Komplikationen und die erforderliche Heil- und Hilfsmittelversorgung sind Argumente, Nachsorgestrukturen zu schaffen; zwei Projekte, die im Rahmen des Innovationsfonds gefördert werden, erproben derzeit neue Versorgungsansätze in der Schlaganfallnachsorge.

Die Implementierung der Qualitätssicherung beim akuten Schlaganfall geht sehr stark auf die Initiative von uns Neurologen zurück und ist eine Erfolgsgeschichte in unserem Land. Misselwitz et al. liefern Daten von über 280.000 Behandlungsverläufen nach transitorischer ischämischer Attacke (TIA) und Schlaganfall im Jahr 2018 aus den verschiedenen Qualitätssicherungsprojekten in Deutschland, die in der Arbeitsgemeinschaft Deutschsprachiger Schlaganfall-Register (ADSR) zusammengefasst sind. Sie zeigen eine hohe Qualität der Schlaganfallversorgung in unserem Land, aber auch Verbesserungspotenzial z. B. bei den Latenzen bei Verlegungen zur Thrombektomie. Daten aus der Qualitätssicherung liefern wertvolle Informationen, die aus Routinedaten der Krankenhausabrechnung oder der Statistischen Landesämter nicht zu gewinnen sind. In etlichen Bundesländern ist die Qualitätssicherung beim akuten Schlaganfall verpflichtend, die Dokumentationsrate ist hoch und ein strukturierter Dialog unterstützt die Verbesserungsprozesse. Eine bundesweite Einführung dieser Elemente wäre wünschenswert.

Eine Fachweiterbildung für Pflegekräfte im Bereich Parkinson fehlt

Die Parkinson-Erkrankung nimmt in Deutschland und weltweit zu. Stangl et al. zeigen, dass die ambulante und stationäre Parkinson-Behandlung zunehmend mehr Ressourcen in Anspruch nimmt. Stationäre Aufenthalte werden häufiger, sie sind länger als bei anderen Diagnosen und die ambulanten Arztkontakte sind zahlreicher als bei Nicht-Parkinson-Patienten. Die Autoren kommen zu der Einschätzung, dass in Deutschland innovative, sektorenübergreifende Versorgungsstrukturen, die die individuellen Bedürfnisse der Patienten aufgreifen, nur rudimentär existieren. Auch eine Fachweiterbildung für Pflegekräfte im Bereich Parkinson fehlt. Von großer Bedeutung ist es in diesem Zusammenhang, dass an etlichen Stellen in Deutschland jetzt sektorenübergreifend arbeitende Netzwerke entstehen. Aus solchen Modellprojekten könnten in Zukunft deutschlandweit implementierte Strukturen zum Wohl unserer Patienten erwachsen. Ein weiterer wichtiger Fortschritt ist die Entwicklung evidenzbasierter Qualitätsindikatoren für die invasiven Therapieverfahren beim Morbus-Parkinson, ein Prozess der in Zukunft möglicherweise auch die nichtinvasive leitliniengerechte Therapie einbeziehen könnte.

Versorgungsforschung ist für die Multiple Sklerose (MS) wichtig aufgrund des langen Krankheitsverlaufs, der Vielfalt an Symptomen, die unterschiedliche Therapiestrategien bedürfen, der hohen Kosten und der veränderten Rollenerwartungen an die Ärzte. Die Autoren Kraft und Berger untersuchen die Inanspruchnahme ärztlicher und therapeutischer Leistungen in Deutschland und stellen fest, dass es nur wenige Untersuchungen zu dem Thema mit zum Teil deutlich variierenden Ergebnissen gibt. Das Konzept gemeinsamer Entscheidungsfindungen von Arzt und Patient („shared decision making“) gewinnt bei chronischen Krankheiten und gerade der MS aufgrund der individualisierten Therapie zunehmend an Bedeutung. Ein hoher Wissenstand bei den Patienten ist Voraussetzung für eine sachgerechte Beteiligung im Entscheidungsprozess. Dazu geben die Autoren einen aktuellen Überblick über Studien zur Wissensvermittlung bei der MS in Deutschland. Auch die MS würde sich sehr dafür eignen, evidenzbasierte Qualitätsindikatoren zu entwickeln und ein – am besten sektorenübergreifendes – Qualitätssicherungssystem einzuführen.

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Prof. Dr. Armin J. Grau

figure b

Prof. Dr. Peter U. Heuschmann