Liebe Kolleginnen und Kollegen,

unter Forschung verstehen wir im Zusammenhang mit Psychiatrie und Psychotherapie viel mehr als nur die systematische Suche nach neuen Erkenntnissen. Mehr als andere Disziplinen legen wir heute großen Wert darauf, die Rolle der Betroffenen und Angehörigen zu stärken und sie auch als Partner im Sinne einer partizipativen Forschung miteinzubeziehen.

Darüber hinaus ist es uns ein Anliegen, die Translation in und aus dem klinischen Alltag (Stichwort „clinicial scientist“) für die Forschung künftig besser nutzbar zu machen. Klinische Erfahrungen und die Perspektiven der Betroffenen und Angehörigen verweisen auf relevante Fragen für die weitere Forschung, und klinische Erfahrungen können zu einer schnelleren Translation grundlagenwissenschaftlicher Befunde in die Anwendung beizutragen. Zudem stehen die Förderung innovativer Studiendesigns, die Psychotherapieforschung, die Forschung zu Stigmatisierung und sozialer Ausschließung sowie die Versorgungsforschung ganz oben auf unserer Agenda.

Das alles sind wichtige Pfeiler, um die Begleitung psychisch Erkrankter künftig noch besser und passgenauer auszurichten, mit dem Ziel, eine auf die Bedürfnisse der einzelnen Personen zentrierte Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.

Als Kongresspräsident freue ich mich daher besonders, dass wir uns auf dem kommenden Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) auch zu diesen Punkten austauschen, neue Konzepte diskutieren und dabei wichtige Impulse für unsere zukünftige Arbeit setzen werden.

Zu den vielfältigen Perspektiven unseres Faches, das an der Schnittstelle von Natur- und Geisteswissenschaften angesiedelt ist, gehört es auch, unser Selbstverständnis durch die Sichtweise anderer Professionen zu hinterfragen. Dazu gehört ganz zentral in diesem Jahr die Lecture des Philosophen Byung-Chul Han, der sich mit Phänomen der Selbstausbeutung auseinandersetzt und beleuchtet, wie unsere Gesellschaft Leistungsgrenzen verschiebt und neue Anreizsysteme schafft. Darüber hinaus ist es mir eine große Ehre, die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt begrüßen zu dürfen, die ihren Blick auf unser Fach mit uns teilen wird.

Beiträge dieser Ausgabe

Auch die Kongressausgabe von Der Nervenarzt steht ganz im Zeichen innovativer Forschung und soll Ihnen einen Überblick über zentrale Themen und einen Vorgeschmack auf den DGPPN-Kongress Ende November geben. Herzlichen Dank gebührt Prof. Arolt für die Kobegutachtung und Beratung der eingereichten Arbeiten.

Von einer Skizze der Forschungslandschaft ausgehend geben M. Lambert, A. Karow und J. Gallinat in ihrem Beitrag einen Überblick über evidenzbasierte Versorgungsformen mit Behandlungsschwerpunkt in den Lebenswelten der Betroffenen. Dabei stellen sie das neue Versorgungsmodell RECOVER vor, welches eine schweregradgestufte, evidenzbasierte und sektorenübergreifend koordinierte Versorgung beinhaltet.

U. Kluge und Kollegen beschäftigen sich in ihrem Artikel mit der Frage, inwiefern soziale Ausgrenzung und Armut mit psychischer Belastung und einem erhöhten Erkrankungsrisiko zusammenhängen. Sie richten in ihren Ausführungen ein besonderes Augenmerk auf die Bedeutung des Migrationshintergrunds und die damit einhergehenden Einflussfaktoren auf Belastungen der Psyche.

N. Holz und A. Meyer-Lindenberg widmen sich den Auswirkungen sozialen Stresses und psychischer Erkrankungen auf das soziale Gehirn. Dabei erläutern sie die Rolle der Stresserfahrungen für Dysfunktionen in den Netzwerken des sog. sozialen Gehirns am Beispiel der schizophrenen Psychosen, des Autismus und den Störungen des Sozialverhaltens.

Computationale Methoden in der psychiatrischen Forschung sind Gegenstand des Übersichtsartikels von J. Kaminski, T. Katthagen und F. Schlagenhauf. Sie beschreiben bisherige Erfolge, schildern aber auch mögliche Fallstricke des noch relativ jungen Forschungsfelds, das in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit erhalten hat.

S. Herpertz und E.-L. Brakemeier runden mit ihrem spannenden Beitrag über innovative Psychotherapieforschung die Kongressausgabe ab. Sie beschreiben zunächst die zentralen Herausforderungen in dem Feld, denen sich die künftige Forschung stellen muss. Daran anknüpfend präsentieren die Autorinnen ihre Vision einer evidenz- und prozessbasierten, individualisierten und modularen Psychotherapie.

Ich wünsche Ihnen bei der Lektüre nun vielfältige und anregende Impulse und freue mich, wenn diese im November zur gemeinsamen Diskussion beitragen.

figure b

Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Heinz