In dieser Ausgabe von Der Nervenarzt erscheint die lange erwartete S2-Leitlinie „Kryptogener Schlaganfall und offenes Foramen ovale“. Seit über 20 Jahren gibt es die Möglichkeit, ein offenes Foramen ovale (persistierendes Foramen ovale, PFO) interventionell zu verschließen, und schon früh war die Überlegung aufgekommen, dass dies bei kryptogenen Schlaganfällen bei jüngeren Patienten von Bedeutung sein könnte.

Es hat lange gedauert, bis eine ausreichende Studienevidenz vorlag, um eine verlässliche Leitlinie zu erstellen. Eine solche liegt jetzt vor. Sie wurde als S2-Leitlinie von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) und der Deutschen Schlaganfallgesellschaft (DGS) verfasst. Ist das Problem damit gelöst? Leider nicht.

Gleichzeitig mit der Leitlinie erscheint in diesem Heft ein Leserbrief, der sich kritisch mit der entscheidenden und wichtigsten Aussage der Leitlinie auseinandersetzt. Die Aussage lautet:

Bei Patienten zwischen 16 und 60 Jahren mit einem nach neurologischer und kardiologischer Abklärung kryptogenen ischämischen Schlaganfall und offenem Foramen ovale mit moderatem oder ausgeprägtem Rechts/Links-Shunt soll ein interventioneller PFO-Verschluss durchgeführt werden (Empfehlungsgrad A, Evidenzebene I).

A I ist das höchste Empfehlungslevel in Leitlinien. Die Autoren des Leserbriefes zweifeln diese starke Empfehlung an.

Es ist nun grundsätzlich nicht sehr förderlich, wenn eine S2-Leitlinie, gerade veröffentlicht, in ihrer Kernaussage angezweifelt wird. Dies unterminiert die Überzeugungskraft der Leitlinie und führt zu Unsicherheit bei den Kollegen, die auf diesem Gebiet nicht hoch spezialisiert sind, und auch bei aufgeklärten Patienten. Wie erklärt sich diese Diskrepanz?

Für diese Kernaussage gab es keine einstimmige Entscheidung. Dokumentiert sind drei Gegenstimmen gegen die Grad-A-Level-I-Formulierung (und zehn Gegenstimmung gegen die Alternative Grad A, Level II mit der Formulierung „empfohlen“ statt „soll“).

Ob es für die vehemente Ablehnung der „schwächeren“ Formulierung auch andere, nichtwissenschaftliche Gründe gab, muss zumindest kurz erwogen werden. Eine starke Empfehlung hat Einfluss auf Fallzahlen und Erlöse und bei manchen Patienten nicht nur auf die Erlöse der Kliniken. Der Wunsch nach höchster Empfehlungsstärke ist so gesehen verständlich, aber für die Leitlinie nicht konstruktiv.

Wenn sich die Vertreter der verschiedenen wissenschaftlichen Gesellschaften nicht auf eine Empfehlung einigen können, muss es ernst zu nehmende Unsicherheiten bezüglich der Interpretation der Daten geben. Gerade wenn nur wissenschaftliche Gesellschaften beteiligt sind (also keine glaubensgetriebenen Argumente von Interessensgruppen im Spiel sind), ist es für mich eine Frage der inneren Logik, dass der höchste Empfehlungsgrad nur bei völliger Übereinstimmung erreicht werden kann. Dies ist zwar in der bürokratisch durchorganisierten Leitlinienszene nirgendwo so festgelegt, macht für mich aber intuitiv Sinn.

Was sind die möglichen Unsicherheiten der Datenlage?

Es liegen einige ältere „negative“ randomisierte Studien und, aus den letzten zwei Jahren, neuere positive Studien vor, die in mehreren Metaanalysen ein überzeugendes Benefit für den PFO-Verschluss bei kryptogenem Schlaganfall in der Prävention weiterer Schlaganfälle gezeigt haben. Dieses Benefit ist numerisch nicht sehr groß, aber statistisch signifikant. Die „number needed to treat“ zur Verhinderung von Schlaganfällen ist relativ groß, die reine Zahl der wichtigen verhinderten schweren, behindernden Schlaganfälle extrem klein. Eine statistisch etwas delikate Besonderheit ist, dass in die Metaanalyse eine Studie (RESPECT) zweimal eingehen müsste – einmal mit dem (nicht positiven) primären Endpunkt der Kurzzeitbeobachtung und einmal mit dem (positiven) Endpunkt der Langzeit-Follow-up-Studie – aber in der entsprechenden Tabelle der Leitlinie darauf verwiesen wird, das sich die Zahlen nur auf die Langzeitergebnisse beziehen.

Die Autoren des Leserbriefs kritisieren, dass drei negative und drei positive Studien nicht zu einer A‑I-Behandlungsempfehlung führen sollten (wobei die „negativen“ Studien ja nicht negativ, sondern neutral waren, weil sie keinen signifikanten positiven Effekt gezeigt haben). Es sind aber nicht die einzelnen Studien, die gegeneinander aufgewogen werden, sondern die Metaanalysen ergeben ein Bild der Überlegenheit der Intervention, und es besteht Übereinstimmung, dass Metaanalysen von gut durchgeführten randomisierten Studien zur höchsten Evidenzstufe führen.

Wir haben übrigens eine ähnliche Situation im Bereich der Thrombektomie. Auch hier gab es drei ältere „negative“ Studien, gefolgt von fünf kleineren positiven Studien, die in der gemeinsamen Metaanalyse einen eindeutigen Vorteil für die Thrombektomie in der Behandlung des akuten Schlaganfalls gebracht haben. Hier gab es überhaupt keine Diskussion darüber, ob dies nun eine Grad-I-Level-A-Empfehlung sein würde, und auch keine Gegenstimmen.

Insgesamt ist die Studienlage überzeugend. In der klinische Praxis wird es ohnehin gar keinen großen Unterschied machen, ob hier eine Evidenzstärke von A I oder A II vorliegt – die Daten sind da, die Daten sind verlässlich, und sie bieten eine gute Entscheidungsgrundlage. Wahrscheinlich wäre es inhaltlich besser gewesen, eine A‑II-Empfehlung zu geben, weil sich dann die ganze verunsichernde Diskussion erübrigt hätte.

Also, insgesamt gibt es keinen Zweifel daran, dass in ausgewählten Fällen kryptogener Schlaganfälle bei jungen Patienten mit offenem Foramen ovale und moderatem bis starkem Shunt-Volumen ein PFO-Verschluss empfohlen werden kann. Das brauchen wir für die Praxis, und ob das nun A I oder A II ist, spielt vermutlich keine Rolle.