Zusammenfassung
Nachdem am 5. September 1940 mitten im Krieg und vor dem Hintergrund der gerade stattfindenden sogenannten „Kindereuthanasie“ eine Deutsche Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik (DGKH) gegründet worden war, bemühte diese sich schnell um eine Konsolidierung. Sollte die Fachgesellschaft Bestand haben und nachhaltig professionspolitisch wirksam werden, musste sie 1. sich wissenschaftlich durch Kongresse und Publikationen profilieren, 2. sich auf Vorstands- und Mitgliederebene stabilisieren und 3. verbands- und gesundheitspolitisch die Etablierung im nationalsozialistischen Staats- und Gesellschaftsgefüge erreichen. Als die DGKH nur neun Monate nach Gründung ihren ersten Vorsitzenden Paul Schröder durch unerwarteten Tod verloren hatte, war die Umsetzung dieser elementaren Ziele ernsthaft infrage gestellt. Durch das Machtvakuum ausgelöst entstand über die Nachfolgefrage ein Spannungsfeld divergierender Interessen von benachbarten Wissenschaftsdisziplinen sowie staatlichen Instanzen. Zur Rekonstruktion und Interpretation dieses komplexen Entscheidungsprozesses der beteiligten Akteure, der nicht zu Werner Villinger, sondern dem noch radikaleren Hans Heinze als Vorsitzenden führte, wird hier eine qualitative historische Netzwerkanalyse eingesetzt. Es kann anhand neuer Quellenfunde dokumentiert werden, dass die DGKH tatsächlich verbandspolitisch aktiv in Erscheinung trat. Erkenntnistheoretisch orientiert sich die Analyse der gesundheitspolitischen Eingliederung der Kinderpsychiatrie im Nationalsozialismus an der These des „radikalen Ordnungsdenkens“ von Lutz Raphael.
Abstract
On 5 September 1940, the German Society for Child Psychiatry and Therapeutic Education (DGKH) was founded. In order to secure sustainable impact, the young professional association aimed to: (1) Increase its scientific reputation through the organization of regular conventions and publications, (2) Attain continuity in its leadership (board) and membership growth, and (3) Establish itself in national socialistic politics and society for health care policy matters. Due to the unexpected death of the first chairman, Paul Schröder, only nine months after DGKH’s foundation, these objectives were seriously put into question. The search for a new chairman led to a struggle for power and direction involving rival medical and non-medical associations as well as governmental institutions. Rather contrary to current knowledge, newly discovered documents indicate that the DGKH definitely acted out and initially influenced healthcare policy both before and directly after Schroeder’s death. To interpret the complexity of the succession decision process – which led to the more radical Hans Heinze being chosen over Werner Villinger – this study employs a qualitative historical network analysis approach. For the broader interpretation of results within the national socialistic healthcare context we refer to Lutz Raphael’s concept of radical order theory.
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Interessenkonflikt
K. Schepker, S. Topp und H. Fangerau geben an, dass die vorliegende Arbeit ein Ergebnis eines von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) geförderten Forschungsprojektes zur Geschichte der DGKJP ist. S. Topp war als Mitarbeiter im Projekt tätig.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Schepker, K., Topp, S. & Fangerau, H. Wirren um Paul Schröder, Werner Villinger und Hans Heinze. Nervenarzt 88, 282–290 (2017). https://doi.org/10.1007/s00115-016-0104-2
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-016-0104-2