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Paul Nitsche – Reformpsychiater und Hauptakteur der NS-„Euthanasie“

Paul Nitsche: psychiatric reformer and main protagonist of Nazi euthanasia

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Zusammenfassung

In Paul Nitsches Berufsleben zeigt sich der widersprüchliche Weg eines in seiner Zeit führenden deutschen Anstaltspsychiaters. In der Weimarer Republik setzte er sich für die Verbesserung des Anstaltswesens nach reformpsychiatrischen Prinzipien ein, war aber auch schon rassenhygienischen Gedanken gegenüber aufgeschlossen.

Nitsche war in Sachsen schon kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ein einflussreicher Befürworter und Akteur rassenhygienischer Maßnahmen und beteiligte sich aktiv an der Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Den Wert eines Patienten bemaß er immer mehr an seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit.

Die Konsequenz dieser extremen Rationalisierung des Menschenlebens war auch für Nitsche das Eintreten für die Tötung des „lebensunwerten Lebens“. Als „T4“-Obergutachter entschied er als letzte Instanz über Leben und Tod tausender Menschen. Später war er als Medizinischer Leiter der „T4“-Organisation direkt verantwortlich für die Weiterführung der Mordaktion als „dezentrale Euthanasie“. Im Dresdner „Euthanasie“-Prozess wurde er zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet.

Summary

The professional career of Paul Nitsche reflects the contradictory path taken by a German institutional psychiatrist who was a leader in the field at the time. During the Weimar Republic he advocated improving the institutional system based on principles of psychiatric reform, but was already receptive to concepts of racial hygiene.

Shortly after the National Socialists seized power, Nitsche was already an influential proponent and participant in eugenic measures in Saxony and actively involved in implementing the „Law for the Prevention of Genetically Diseased Offspring.” He increasingly appraised the value of a patient according to the person’s economic performance.

It was also Nitsche’s opinion that the consequence of this extreme rationalization of human life was to exterminate „life unworthy of life.” As a T4 appointed head assessor he decided in the last instance whether thousands of people would live or die. As the Medical Director of the T4 program, he was later directly responsible for continuing the massacre as „decentralized euthanasia.” At the euthanasia trial in Dresden he was condemned to death and executed in 1948.

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Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4

Notes

  1. Biographische Angaben nach Mäckel ([7]), Nitsche ([8]) sowie nach der Personalakte Nitsches im Sächsischen Hauptstaatsarchiv (SHStA) Dresden, Bestand Der Reichsstatthalter in Sachsen (RiS), N143.

  2. Fragebogen Personalkarteiblatt Nitsche, SHStA Dresden, RiS, Nr.143, o. Bl. Vgl. auch Bundesarchiv Berlin, ehem. BDC, RÄK, Karteikarte Nitsche.

  3. Psychiatrisch- neurologische Wochenschrift, 36 (1934), S. 106.

  4. Bericht der Anstaltsdirektion Sonnenstein über das Jahr 1936, Stadtarchiv Leipzig, Bezirkskrankenhaus Dösen, Nr. 63, Bl. 6a.

  5. Handschriftliche Aussage Nitsche vom 25.03.1946, SHStA Dresden, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden (STAW b. LGDD), 2526, Bl. 42a.

  6. Handschriftliche Aussage Nitsche vom 25.03.1946, SHStA Dresden, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden (STAW b. LGDD), 2526, Bl. 43a.

  7. Schreiben des Gauleiters Mutschmann an Viktor Brack vom 14.04.1940, SHStA Dresden, RiS, N143,Bl. 174.

  8. Zeugenaussage Nitsche, SHStA Dresden, STAW b. LGDD, 2530, Bl. 70b.

  9. Handschriftliche Aussage Nitsche vom 25.03.1946, ebenda, 2526, Bl. 43b.

Literatur

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Der vorliegende Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung des folgenden Artikels: Böhm B, Markwardt H (2004) Hermann Paul Nitsche (1876–1948). Zur Biographie eines Reformpsychiaters und Hauptakteurs der NS-„Euthanasie“. In: Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hrsg) Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen. Michel Sandstein, Dresden, S. 71–105.

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Böhm, B. Paul Nitsche – Reformpsychiater und Hauptakteur der NS-„Euthanasie“. Nervenarzt 83, 293–302 (2012). https://doi.org/10.1007/s00115-011-3389-1

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