Jann E. Schlimme wird durch die Europäische Union als Marie Curie Fellow in dem Forschungsvorhaben „Subjectivity and Self-Effectivity. Investigating Self-Determination of Mentally Ill People in the First-Person-Perspective“ (FP7–2009-IEF-251950) unterstützt.
Zusammenfassung
Entlang Jaspers’ methodenkritischer Einstellung können drei Aspekte seines Psychotherapieverständnisses unterschieden werden: 1. Psychotherapie gewinnt einen wissenschaftlichen Charakter in ihren methodischen Bestimmungen; 2. Psychotherapie ist eine verständigungsorientierte Methode der Selbsterhellung mit existenziell begrenzten Aussagemöglichkeiten zu Fragen der Lebensführung; 3. Psychotherapie überschreitet als geschlossenes Deutungssystem und/oder Weltanschauung ihre methodisch fundierten Grenzen, anstatt zum (existenziellen) Philosophieren im Angesicht des Ganzen überzuleiten. Mit Jaspers kann die Frage thematisiert werden: Welchen Begrenzungen unterliegen psychotherapeutische Verfahren hinsichtlich der Frage der Lebensführung? Als wesentliche Grenze zeigt sich der Zusammenhang zwischen der Art und Weise einer gelingenden Lebensführung und einem (wie auch immer gearteten) übergeordneten und erfahrbaren Sinn des eigenen Daseins. Dieser Zusammenhang kann durch kein methodisch gewinnbares Wissen aufgehoben werden. Vielmehr stellt der existenzielle Zusammenhang den Ansatzpunkt vieler psychotherapeutischer Bemühungen dar.
Summary
Using Jaspers’ methodically critical attitude (methodenkritische Einstellung) we distinguish three aspects of his understanding of psychotherapy: (1) psychotherapy gains scientific quality via methodical strictness (and is therefore independent of a therapist’s weltanschauung); (2) psychotherapy is a (more or less) ‘hermeneutical’ method of self-enlightenment, offering limited statements with respect to one’s life conduct; and (3) psychotherapy oversteps its epistemological limits if gaining the status of a weltanschauung, instead of leading to (existential) philosophizing in the face of transcendence. Following Jaspers we try to answer the question: What are the limits of psychotherapeutic methods with respect to questions of life conduct? The most important limit is the unbreakable linkage between the style of one’s life conduct and the (personally) experienceable (superpersonal) sense of life, which cannot be disrupted with the means of any justifiable belief or falsifiable knowledge. Quite to the contrary, this existential linkage is the starting point of many psychotherapeutic interventions.
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Notes
Jaspers war über Max Weber und Heinrich Rickert mit aller Wahrscheinlichkeit in Diskussionen zu Wilhelm Dilthey eingebunden. Obwohl Diltheys „beschreibende und zergliedernde Psychologie“ eine aus heutiger Sicht geradezu augenfällige Nähe zu Jaspers’ „verstehender Psychologie“ aufweist und auch in methodenbewusster Hinsicht Parallelen kaum von der Hand zu weisen sind, wird er von Jaspers nur kurz in seiner „Psychologie der Weltanschauungen“ erwähnt ([10], S 11 ff.). Die Hintergründe dieser scheinbar fehlenden Auseinandersetzung bzw. Quellenbindung sind bislang ungeklärt und könnten sowohl in Jaspers’ starker Orientierung an Weber, aber auch in einer konkurrierenden Wahrnehmung der Konzeption Diltheys zu finden sein (vgl. [29])
Jaspers war angesichts seiner schweren Lungenerkrankung (Bronchiektasien) in besonders ausgeprägter und seiner selbst bewusster Weise dazu aufgefordert, dies zu tun. Ohne den Bezug zwischen Werk und Person übermäßig strapazieren zu wollen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass ihn diese seit der Jugend bestehende Krankheit für Fragen der Lebensführung zumindest sensibilisiert hat
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Schlimme, J., Paprotny, T. & Brückner, B. Karl Jaspers. Nervenarzt 83, 84–91 (2012). https://doi.org/10.1007/s00115-011-3365-9
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-011-3365-9
Schlüsselwörter
- Karl Jaspers
- Lebensführung
- Methodenkritische Einstellung
- Psychotherapie
- Weltanschauung
Keywords
- Karl Jaspers
- Life conduct
- Methodically critical attitude
- Psychotherapy
- Weltanschauung