Die rasant wachsende Fülle an Fachwissen in den unterschiedlichen Gebieten der Psychiatrie kann vom behandelnden Arzt und Therapeuten heute kaum noch zusammengetragen und überblickt werden. Deshalb ist es umso notwendiger für den Behandler, sich auf Übersichtsarbeiten zu beziehen. Übersichtsarbeiten, die von einzelnen Wissenschaftlern verfasst werden, haben jedoch oft einen gewissen Bias; dies kann bei Behandlungsfragen besonders problematisch sein. Deshalb besteht eine starke Tendenz hin zur Entwicklung von Übersichtsarbeiten, die evidenzbasiert und im Konsens einer größeren Expertengruppe verfasst wurden. Diese Entwicklung hin zur evidenzbasierten Medizin ist von großer Wichtigkeit in der Psychiatrie, damit die Behandlungsqualität der Patienten mit psychischen Erkrankungen nachhaltig verbessert werden kann. Der Entwicklung klinischer Leitlinien, die sich auf verschiedene Zielsetzungen, wie Diagnose, Behandlung usw., konzentrieren, kommt eine besondere Bedeutung zu. Leitlinien sind im internationalen Kontext in Zeiten der evidenzbasierten Medizin zu einer wichtigen Orientierungshilfe für ärztlich-therapeutisches Handeln geworden.

Oft werden Leitlinien jedoch kontrovers diskutiert oder sogar abgelehnt. Letzteres beruht häufig auf Missverständnissen, die an dieser Stelle nochmals explizit ausgeräumt werden sollen:

Leitlinien dürfen nicht als Richtlinien missverstanden oder gar missbraucht werden.

Sie geben ausschließlich Informationen und Handlungsvorschläge wieder, die dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Herausgabe entsprechen und jeweils auf die individuelle Situation des Patienten und die gegebenen Versorgungsmöglichkeiten angepasst werden müssen.

Definiert sind Leitlinien von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) in Deutschland als systematisch entwickelte Darstellungen und Empfehlungen mit dem Zweck, Ärzte und Patienten bei der Entscheidung über angemessene Maßnahmen der Krankenversorgung (Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge) unter spezifischen medizinischen Umständen zu unterstützen.

Das vorliegende Themenschwerpunktheft widmet sich der Ende 2009 fertig gestellten S3-Leitlinie Unipolare Depression, die gleichzeitig auch als Nationale Versorgungsleitlinie entwickelt wurde und online kostenlos unter http://www.depression.versorgungsleitlinien.de/ bezogen werden kann. Die Beiträge haben das Ziel, wesentliche Punkte dieser Leitlinie aus verschiedenen Perspektiven aufzugreifen, die Rahmenbedingungen zu ihrer Entwicklung und Anwendung kritisch zu beleuchten und einen Ausblick in künftige Entwicklungen zu geben.

Es beginnt mit einem Beitrag von Wobrock, Schneider und Falkai, in dem das Programm zur Erstellung von Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) vorgestellt wird. Die DGPPN arbeitet seit vielen Jahren intensiv an der Entwicklung des konzeptuellen und instrumentellen Rüstzeugs für die Einführung qualitätssichernder Maßnahmen im Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie. Dabei nimmt die Erarbeitung evidenzbasierter Leitlinien eine ganz zentrale Funktion ein. Der DGPPN ist zu danken, dass sie erneut eine qualitativ einzigartige Leitlinie initiiert und umfangreich finanziert hat. Im Beitrag von Härter und Kollegen wird von den Projektleitern und -koordinatoren der S3-Depressionsleitlinie das eindrucksvolle Werk (263 Seiten in der Langfassung, 1227 Literaturzitate!) mit seinen Zielen, Anwendungen und einem Fazit der über 4-jährigen Arbeit vorgestellt. Der Beitrag von Mönter betrachtet diese Leitlinie aus Sicht der niedergelassenen Psychiater und Nervenärzte, die über die entsprechenden Berufsverbände maßgeblich an der Erarbeitung mitgewirkt haben. Pfennig und Kollegen der AWMF setzen sich abschließend mit dem Prozess der S3-Leitlinienentwicklung im Generellen auseinander und diskutieren, wo diese Leitlinien einen Mehrwert über übliche Standards hinaus besitzen, potenzielle Einschränkungen (u. a. durch eine häufig inadäquate Publikationsqualität und den potenziellen Bias durch selektives Publizieren) bestehen und künftige Verbesserungspotenziale liegen.

In die Leitlinienerstellung wurden 28 Fachgesellschaften und 2 Patientenorganisationen einbezogen

Nun mag sich der kritische Leser fragen, warum es einer deutschsprachigen Leitlinie bedurfte, deren Erstellung durchaus mit erheblichen Kosten verbunden war und viel ehrenamtliche Arbeit benötigte, wo es doch bereits eine Reihe aktueller internationaler Leitlinien zur Depressionstherapie gibt. Zu nennen sind dabei die am häufigsten zitierten Leitlinien der American Psychiatric Association (APA), der British Association for Psychopharmacology (BAP), des Canadian Network for Mood and Anxiety Treatments (CANMAT), des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE, UK) und der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP). Es gibt zwischen diesen Leitlinien viele Gemeinsamkeiten, von denen nur die wichtigsten hier genannt werden sollen: Grundprinzipien der Behandlungsplanung unter Hinzuziehung individueller Faktoren, Definition und Vorgaben von Behandlungszielen (u. a. Remission, Verbesserung der Lebensqualität), Standardisierung der Befunderhebung, Abstimmung von biologisch-pharmakologischer mit psychotherapeutisch-psychoedukativer Therapie sowie Vorbereitung der Langzeitplanung in der Akutphasetherapie.

Obwohl die genannten Leitlinien evidenzbasiert sind, können jedoch bestimmte Faktoren dazu beitragen, dass unterschiedliche Empfehlungen ausgesprochen werden, wie z. B. die Zusammensetzung der Konsensusgruppen und Mandate ihrer Mitglieder, kulturelle und gesundheitssystemische Unterschiede, das Ausmaß der Beteiligung von Patienten- und Angehörigenverbänden sowie die Verfügbarkeit (insbesondere bestimmter Arzneimittel, aber auch Psychotherapieverfahren) und Kosten von Behandlungen. Wenn man die zitierten Leitlinien vergleichend analysiert, werden vor allem bei den Behandlungsempfehlungen bei leichten Depressionen größere Differenzen sichtbar: Hier finden sich Empfehlungen zu „sportlicher Aktivität“ und „watchful waiting“ bis hin zu Vermeidung von Antidepressiva und Behandlung ausschließlich mit Psychotherapie. Umgekehrt gilt, dass je schwerer die Depression ist, desto einheitlicher werden die Leitlinien in ihren Empfehlungen. Bemerkenswerte Unterschiede finden sich auch in der Liste der verfügbaren Substanzen und im jeweiligen Zulassungsstatus von antidepressiv-wirksamen Medikamenten.

Was die deutsche S3-Leitlinie Unipolare Depression auszeichnet und von anderen internationalen Leitlinien im Wesentlichen unterscheidet, sind weniger einzelne Empfehlungen als vielmehr die umfassende Einbeziehung von praktisch allen relevanten Fachgesellschaften (28 an der Zahl) und zwei Patientenorganisationen in die systematische Leitlinienentwicklung mit moderierter, strukturierter Konsensusfindung. Hier wurde ein hohes methodisches Niveau erreicht, und der Preis dafür (nicht unerhebliche finanzielle Kosten und Zeiträume bis zur Fertigstellung) in Kauf genommen. Allen Mitwirkenden sei großer Respekt ausgesprochen: Sie haben ein beeindruckendes Dokument geschaffen, das den vielen Patienten und Angehörigen mit ihrer schweren Erkrankung helfen wird. Das Leitlinienteam arbeitet unermüdlich weiter, damit die Leitlinie in der Praxis angewandt wird: Es entstehen aktuell neben der vorliegenden Lang- und Kurzversion eine Patientenversion, eine Kitteltaschenversion, Praxishilfen und Checklisten sowie Fortbildungsmaterialien für Ärzte und Therapeuten.

M. Bauer