Zusammenfassung
Der Begriff Autismus hat sich seit seiner Entstehung stetig gewandelt. Im historischen Rückblick zeigt sich, dass er zunächst sowohl in der Erwachsenen- als auch der Kinderpsychiatrie als schizophrenes Symptom aufgefasst wurde. Im Laufe der Zeit vollzog sich ein Wandel, sodass Autismus als Störungsbild innerhalb der Kinderpsychiatrie eine eigenständige Entwicklung nahm. Dank Leo Kanner und Hans Asperger erhielt es seine heutige Bedeutung. Aktuell wird Autismus im Zusammenhang mit den autistischen Störungen zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gezählt und findet aufgrund der hohen Stabilität im Verlauf auch wieder verstärkt in der Erwachsenenpsychiatrie Beachtung. Zum besseren Verständnis dieser Entwicklung wird der Weg von der Entstehung einschließlich der Rezeption durch Kanner und Asperger nachgezeichnet. Auf der Suche nach zentralen Merkmalen finden sich beim Autismus Einschränkungen in der sozialen Kommunikation und Interaktion, die durch zugrunde liegende Defizite der sozialen Kognition erklärt werden. Diese Einschränkungen in der sozialen Kognition können als das zentrale Charakteristikum von Autismus verstanden werden, das sich seit Beginn der Beschreibung dieses Phänomens als Konstante findet. So wird auch der Frage nachgegangen, welchen Beitrag die experimentelle psychopathologische Forschung für ein vertieftes Verständnis des Krankheitsbildes leisten kann.
Abstract
Since its first use in medical literature the meaning of the term autism has constantly changed. An historical overview indicates that in both adult and child psychiatry autism was first used to refer to a symptom of schizophrenia. Later on the use of the term in child psychiatry took a different independent course, which led to present-day conceptualization of autism, mainly due to the work of Leo Kanner and Hans Asperger. Currently autism and autistic disorders are regarded as severe developmental disorders and, due to their stable nature, have gained considerable attention in adult psychiatry. In order to better understand this development, the path from onset to reception is traced via Kanner and Asperger. In the search for central characteristics of autism, one finds restrictions in social communication and interaction, which can be explained by fundamental deficits in social cognition. These restrictions in social cognition can be considered the central characteristic of autism – one which has been a constant since the phenomenon was first described. Our historical review considers to what extent experimental psychopathological research can deepen our understanding of the disorder.
Notes
Zur Entstehungs- und Ideengeschichte des Begriffs Autismus s. [59].
Dalton et al. konnten kürzlich mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie zeigen, dass bei Probanden mit frühkindlichem Autismus bzw. Asperger-Syndrom die Dauer der Betrachtung der Augenregion positiv mit der Aktivierung der Amygdala assoziiert ist [24]. Die Autoren interpretieren dies im Sinne einer „Überempfindlichkeit“ gegenüber sozialen Reizen und sehen darin eine mögliche Ursache für den häufig berichteten verminderten Augenkontakt bei autistischen Menschen. Demnach könnten autistische Menschen aufgrund eines kognitiven Defizits mit sozialen Reizen nichts anfangen und reagieren deshalb aversiv auf diese Stimuli bzw. vermeiden sie. Diese Interpretation erinnert an die erwähnte Überempfindlichkeit im Kretschmerschen Sinne.
Grunja Efimovna Ssucharewa (1891–1981), beim Erscheinen der o. g. Arbeit als wissenschaftliche Assistentin an der Psychoneurologischen Kinderklinik in Moskau tätig, gehörte zu den Begründern der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der UdSSR [73].
Sula Wolff untersuchte auf der Grundlage von klinischen Stichproben den Langzeitverlauf von Kindern mit der Diagnose einer schizoiden Persönlichkeitsstörung einschließlich Asperger-Syndrom und fand, dass selten ein Übergang in eine schizophrene Erkrankung erfolgte. In der Nachuntersuchung im Erwachsenenalter erfüllten Dreiviertel der 32 Kinder die Kriterien für eine schizotype Persönlichkeitsstörung. Bei zwei Kindern hatte sich eine Schizophrenie entwickelt [107]. Dieser geringe Anteil ist aber trotzdem höher als in der Allgemeinbevölkerung. Hingegen findet sich in Langzeituntersuchungen an Kindern mit frühkindlichem Autismus im späteren Verlauf kein Übergang zur Schizophrenie [72]. Zu der Differenzialdiagnose des frühkindlichen Autismus gehört die sehr früh und früh beginnende („very early“ und „early onset“) Form der Schizophrenie. Eine Untersuchung der Vorfeldsymptomatik kindlicher Schizophrenien (UCLA-Studie) konnte zeigen, dass bei den Kindern, bei denen sich im Kleinkindalter autistische Verhaltensweisen fanden, bereits früh psychotische Symptome auftraten [75].
Schirmer hat darauf hingewiesen, dass der Österreicher Kanner möglicherweise Kenntnis von Aspergers Vortrag (s. unten) hatte, der 1938 in der Wiener Klinischen Wochenschrift veröffentlicht wurde und in dem Asperger den Begriff des „autistischen Psychopathen“ prägte [89]. Diese Annahme wird dadurch gestützt, das Kanner in seiner ersten Arbeit zu diesem Thema 1943 angab, dass ihm seit 1938 (!) Kinder aufgefallen sind [52], deren einzigartige Verhaltensauffälligkeiten er ein Jahr später als frühkindlichen Autismus („early infantile autism“) bezeichnete [53].
Zu Leben und Werk von August Homburger (1873–1930), der als a. o. Professor der Psychiatrie und Leiter der Poliklinik der psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg tätig war, vgl. [64]. Nissen hat ausgeführt, dass autistisches Verhalten bereits im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vereinzelt bei Kindern beobachtet und beschrieben worden ist, so in den Lehrbüchern von Herrmann Emminghaus (1887) und August Homburger (1926), ohne allerdings dafür den Begriff als solchen zu verwenden.
Paul Schröder (1873–1941) war seit 1925 ordentlicher Professor für Psychiatrie an der Universität Leipzig. Sein Arbeitsschwerpunkt lag im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er war ab 1937 erster Präsident der Internationalen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie [98]. Schröder eröffnete 1926 in Leipzig eine „Beobachtungsabteilung für jugendliche Psychopathen“ [92].
Zur Geschichte des Begriffs Psychopathie in der Psychiatrie vgl. [42] und zur Psychopathie und Schizoidie, insbesondere zur Wandlung des Psychopathie-Begriffs und seiner Anwendung auf das Kinder-und Jugendalter s. [71, 101]. Remschmidt und Kamp-Becker haben kürzlich einen Überblick zur Geschichte des Asperger-Syndroms gegeben und den Weg von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung nachgezeichnet. Sie sind dabei auch auf die historischen Einteilungsversuche von Psychopathien und auf die Interpretationen des Psychopathie-Begriffs eingegangen [73].
Asperger hat sich später näher mit Kanners „early infantile autism“ auseinandergesetzt und festgestellt, dass zwar viele Gemeinsamkeiten bestünden, dennoch beide Krankheitsbilder deutlich voneinander getrennt werden müssten, vgl. [2].
Kanners Jahre in Berlin von 1906 bis 1924, seine frühe wissenschaftliche Tätigkeit an der Charité und den Weg bis zur Übersiedlung in die USA hat Neumärker anhand von Originaldokumenten und der unveröffentlichten Autobiografie aufgearbeitet [63].
Adolf Meyer (1866–1950) ging 1892 von Zürich in die USA. Er beeinflusste die amerikanische Psychiatrie maßgeblich, indem er das Klassifikationssystem Emil Kraepelins einführte. Meyer war von 1910 bis 1941 an der Johns-Hopkins-University tätig, wo er Leo Kanner kennenlernte und förderte.
Interessanterweise wird diese Hypothese aktuell wieder im Rahmen der „Extreme male brain“-Theorie des Autismus diskutiert. Diese postuliert, dass autistische Störungen Ausdruck einer extremen Ausprägung funktioneller und struktureller Merkmale des männlichen Gehirns sind [7].
Sula Wolff fragt in dem erwähnten Aufsatz über Ssucharewas Publikation von 1926, warum Asperger, der die Arbeiten Kretschmers berücksichtigt, nicht auch auf die von Ssucharewa eingegangen ist [96].
Von C.G. Jung eingeführter Begriff, der den Rückzug der Libido auf die eigene innere Welt des Subjekts bezeichnet [77]. Jung beschrieb 1921 in seiner Typeneinteilung (Introversion vs. Extraversion) die Introvertierten als zurückgezogene, vorsichtige Menschen, die Schwierigkeiten mit der Anpassung an die äußere Welt haben.
Bleuler zählte den Autismus in seinem Schizophreniekonzept zu den Grundsymptomen und im Weiteren zu den sekundären Symptomen (vgl. auch [59]).
Kanner verwendete in seiner ersten Arbeit 1943 ausschließlich das Adjektiv autistisch und erst in seiner Arbeit von 1944 das Substantiv Autismus.
Auf die z. T. erhebliche phänomenologische Überlappung von Katatonie und Autismus, die in der klinischen Beurteilung, aber auch in der Forschung bisher wenig berücksichtigt wird, haben Neumärker et al. unter verschiedenen, auch historischen Aspekten hingewiesen [26].
„Aloneness“ wird auch mit Alleinsein oder Einsamkeit übersetzt, den Verfassern erscheint aber im beschriebenen Zusammenhang die Bezeichnung „In-sich-gekehrt-Sein“ treffender, da sie den autistischen Zustand besser charakterisiert.
Lorna Wing änderte auch die Bezeichnung von „Autistische Psychopathen“ in Asperger-Syndrom, da der Begriff „Psychopathie“ heute missverstanden werden könnte [104].
Hippler und Klicpera wiesen darauf hin, dass Asperger 1944 keine quantitativ-deskriptive Darstellung „seines“ Syndroms vornahm. Die Autoren untersuchten deshalb 181 Krankenunterlagen von Kindern mit der Diagnose „Autistische Psychopathie“ und mit Zügen derselben, die zwischen 1950 und 1986 von Asperger und seinen Mitarbeitern diagnostiziert worden waren [48]. Sie verglichen u. a. die von Asperger beschriebenen Merkmale mit den heutigen ICD-10-Diagnosekriterien für das Asperger-Syndrom und fanden nur eine teilweise Übereinstimmung. Deshalb fordern sie u. a. eine Überarbeitung der diagnostischen Kriterien, auch und insbesondere im Hinblick auf die Unterscheidung vom Kanner-Autismus.
Die Kombination der genannten standardisierten Verfahren hat sich heute bei der Diagnostik und vor allem im Forschungsbereich als „goldener Standard“ durchgesetzt [16].
Zur Geschichte der Konzepte der schizoiden und schizotypischen Persönlichkeitsstörungen vgl. [86].
Ursprünglich stammt der Begriff aus der Verhaltensforschung an Primaten [69]. Von Baron-Cohen und Kollegen wurde 1985 erstmals ein Defizit bzgl. der „Theory of mind“ bei autistischen Kindern beschrieben [8] und später durch Chris und Uta Frith näher spezifiziert [38]. Zum Begriff und zur historischen Entwicklung der Theory of Mind vgl. auch [34]. Bereits Asperger hat 1938 eine schwere Störung des „instinktiven Verstehens“ angenommen [4]. Er meinte damit die Schwierigkeit der Kinder, den „Ton der Worte“, die „Mimik und Gestik“ anderer zu verstehen und adäquat zu reagieren, woraus eine Störung des Verständnisses für die Situation und der sozialen Beziehungen zu anderen Menschen resultiert. 1944 wies er in seiner Arbeit über die „Autistischen Psychopathen“ darauf hin, dass diese nur ein unzureichendes Gefühl für den Respekt anderen Personen gegenüber haben, das er ein „Defekt im Verständnis für die andere Person“ nannte ([5] S. 125).
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Kumbier, E., Domes, G., Herpertz-Dahlmann, B. et al. Autismus und autistische Störungen. Nervenarzt 81, 55–65 (2010). https://doi.org/10.1007/s00115-009-2820-3
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