Liebe Kolleginnen und Kollegen,

anlässlich der 10. Jahrestagung der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft ist es gelungen, einen Supplementband der Zeitschrift Der Unfallchirurg zu historischen Themen der Therapie von Wirbelsäulenerkrankungen zusammenzustellen.

Diagnostik und Therapie und auch die wissenschaftliche Forschung haben in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte erfahren. Vieles, was für uns heute selbstverständlich ist, musste in früherer Zeit durch die Pioniere unserer Fachgebiete Orthopädie, Unfallchirurgie und Neurochirurgie erarbeitet werden. Ätiologie und Pathogenese waren über lange Zeit bei vielen Krankheitsbildern unklar und unbekannt. Beispielsweise ging Hippokrates von einem luxierten Wirbel („spina luxata“) bei der Skoliose aus, die Spondylolisthese wurde erstmals von Geburtshelfern beschrieben, bevor Chirurgen oder Orthopäden sich dazu äußerten. Der Bandscheibenvorfall wurde als gutartiger Knorpeltumor klassifiziert, bis man den wahren pathoanatomischen Hintergrund entdeckte.

Aus heutiger Sicht ist es nicht mehr vorstellbar, eine Diagnose, Operationsindikation oder Verlaufskontrolle ohne ein bildgebendes Verfahren durchzuführen. Früher waren hier einzig die menschlichen Sinne gefragt, unterstützt von sehr einfachen Messmethoden (Zeichenapparate, Skoliometer usw.). Die Einführung der Röntgentechnik, später dann die Myelographie mit Luft und Kontrastmitteln und anschließend die Schnittbildgebung (CT und MRT) sind die Voraussetzungen gewesen, welche erst eine weitere differenziertere Diagnostik und hieraus resultierend auch eine entsprechende Therapie haben entstehen lassen.

Noch komplexer waren die ersten operativen Eingriffe an der Wirbelsäule.

Initiale Nukleo- und Sequestrektomien wurden primär transdural nach einer Laminektomie durchgeführt, ohne die Unterstützung optischer Hilfsmittel.

Stabilisierende Maßnahmen mit vorangegangener Korrektur im Umkrümmungsgips (Risser) sowie nachfolgender Fusion durch interspinöse und interartikuläre Techniken (Hibbs und Albee) und erste fixierende Methoden (Silberdraht [Hadra], Fibulaspäne [Albee], Verwendung von Stahlstäben [F. Lange]) bildeten die Grundlage, bevor Harrington die Distraktionsspondylodese mit Haken einführte.

Ein weiterer Meilenstein war die Entwicklung des Fixateur interne und die hiermit verbundene Etablierung der Pedikelschraube, die heute zum Goldstandard der fixierenden Techniken an der Wirbelsäule gehört.

Retrospektiv betrachtet waren dies alles hoch einzuschätzende Pionierleistungen, die den Weg in die heutige moderne Medizin etabliert und erst möglich gemacht haben.

Somit gilt, wie in so vielen Bereichen der Medizin, die Aussage von Bernhard von Chartres, Gelehrter und Philosoph aus dem Jahre 1124 n. Chr.:

„Wir sind gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns zu Hilfe kommt und uns emporhebt“.

Dieses Zitat zeigt das klare Verhältnis der aktuellen Wissenschaft zu den Leistungen früherer Generationen. Die „Zwerge“ profitieren somit von den Pionierleistungen der Vergangenheit.

Aus diesem Grund ist es unerlässlich, sich immer wieder die Zusammenhänge mit der Historie vor Augen zu führen, um zu reflektieren, welche enorme geistige Leistung und ungebrochene Willenskraft notwendig war, diese bahnbrechenden Ideen umzusetzen und durchzuführen, die heutzutage selbstverständlich sind.

Dieser Band soll dazu beitragen, die Geschichte der wichtigsten Entitäten (Bandscheibenvorfall, Skoliose, Spondylolisthese und Spondylitis) sowie deren konservative und operative Therapieansätze und -technologien darzustellen und zudem die Geschichte der Biomechanik hervorzuheben, welche in der gesamten Orthopädie eine unersetzliche Rolle spielt.

Wir danken den Autoren für Ihren Einsatz bei der Realisierung dieses Bandes, die teilweise selbst die jüngste Geschichte mitbeeinflusst haben, sodass deren Sichtweise und Darstellung der Sachverhalte nicht authentischer sein könnte.

Ihre

Prof. Dr. M. Rauschmann

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[Unnumbered Fig. A]

Dr. M. Rickert

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[Unnumbered Fig. B]