Liebe Leserinnen und Leser,

Festvorträge von Medizinethikern bei Kongresseröffnungen – das goutieren wir. Ethische Debatten zu den großen Fragen der Medizin, etwa dem Umgang mit Sterben und Tod, dem Umgang mit ungeborenem Leben oder zu den Grenzen der Organtransplantation und von genetischen Eingriffen – das interessiert uns. Aber Ethik im Alltag von O und U, Ethik für den Alltag von O und U? In der Tat, es ist im komplexen ärztlichen Berufsalltag oft nicht unmittelbar erkennbar, dass hinter rein medizinischen Sachverhalten oder rechtlichen Gegebenheiten noch ethische Fragen stehen könnten. Trotzdem, wenn es etwa um die Ausformulierung bestehender Aufklärungspflichten, um das Für und Wider einer konservativen oder operativen Behandlung oder um das Einstellen lebenserhaltender Sofortmaßnahmen im Schockraum geht, stößt man doch unvermeidlich auf ethische Kernfragen: Dürfen und sollen wir alles machen, was wir können? Nutzen oder schaden wir eher dem Patienten? Wie ist der Wille des Patienten einzuschätzen?

Wir benötigen neben dem Ethos des einzelnen Arztes auch eine Ethik im Gesundheitswesen

Für das, was wir tun sollen, können wir auf eine seit Jahrhunderten gewachsene und in weiten Bereichen erstaunlich stabile ärztliche Ethik zurückgreifen. Einerseits. Andererseits stellen die erweiterten Handlungsmöglichkeiten der modernen Medizin neue Anforderungen an das ärztliche Ethos. Und wir benötigen neben dem Ethos des einzelnen Arztes auch eine Ethik im Gesundheitswesen, um z. B. Fragen nach der gerechten Verteilung von Ressourcen und Leistungen im Gesamtsystem beantworten zu können.

In einer Zeit, die durch eine wachsende Pluralität von Lebensstilen und moralischen Überzeugungen gekennzeichnet ist, ist das nicht trivial. Hier bietet sich ein Lösungsansatz an, der von T.L. Beauchamp und J. Childress in einer weltweit gerühmten Monographie „Principles of biomedical ethics“ erstmals 1979 bekannt gemacht wurde. Als Ausgangspunkt ihrer normativen Überlegungen formulieren sie vier sog. Prinzipien mittlerer Reichweite, die sie als im Kern allgemein zustimmungsfähige Normen verstehen. Diese sind 1) der Respekt der Selbstbestimmung (Autonomie) des Patienten, 2) das Prinzip des Nichtschadens, 3) das Prinzip der Fürsorge (Wohltun) und 4) das Prinzip der Gerechtigkeit (faire Verteilung von Gesundheitsleistungen). Bei schwierigen ethischen Entscheidungen bieten diese vier Prinzipien Orientierung; sie werden nach einer spezifischen Situationsanalyse in einem Stufenmodell angewendet und im Konfliktfall gegeneinander abgewogen.

Zur Anwendung dieses Lösungsansatzes in der Praxis haben wir aus der Vielzahl möglicher Themen vier Aspekte herausgegriffen, die – so hoffen wir – unseren Lesern einen neuen, zumindest anderen Blick auf Therapieentscheidungen im Alltag (Mikroebene) und auf die aktuelle Diskussion um Über- oder Unterversorgung im deutschen Gesundheitswesen (Makroebene) erlauben. Im ersten Beitrag ( Marckmann, Brumann, Mutschler ) geht es um einen auf den ersten Blick scheinbar einfach zu bewältigenden Konflikt, bei dem eine Patientin einen dringend notwendigen chirurgischen Eingriff verweigerte. Wie kann hier ein Weg gefunden werden, der sowohl die Autonomie der Patientin respektiert, aber auch das Wohl der Patientin berücksichtigt? Ein Lösungsansatz ist die genannte schrittweise Aufarbeitung und kritische Reflexion der oben angeführten 4 ethischen Prinzipien in Form der sog. prinzipienorientierten Falldiskussionen.

Dramatischer entwickeln sich Entscheidungskonflikte, wenn es bei schwerstkranken Patienten um die Fortsetzung oder den Abbruch von lebenserhaltenden Therapien geht. Jox undNey erläutern diese Problematik anhand eines tragischen Falles einer Patientin mit nekrotisierender Fasziitis, bei der nach verstümmelnden Operationen und einer mehr als 2-monatigen Intensivbehandlung mit maximaler Therapie eine schwerwiegende Komplikation den Kampf um ihr Überleben „um jeden Preis“ in Frage stellt. Auch hier hilft eine schrittweise ethische Bewertung zu einer moralisch verantwortbaren, rechtlich zulässigen und sozial vertretbaren Lösung zu gelangen.

Welche Rolle dürfen dabei ökonomische Gesichtspunkte spielen? Hier ist Augenmaß gefordert. Weder können wir den ökonomischen Druck auf ärztliche Entscheidungen negieren noch sollten wir ihn pauschal verteufeln. Rationalisierung und Rationierung sind Realität im deutschen Gesundheitswesen. Gerade auf der Mikroebene (Praxis, Krankenhaus) übernehmen wir auch Verantwortung für die Kostendimension unserer ärztlichen Tätigkeit. Marckmann und in der Schmitten zeigen in einem normativen Stufenmodell auf, dass das Unterlassen ineffektiver Maßnahmen, die Berücksichtigung von Patientenpräferenzen, eine Minimierung des diagnostischen und therapeutischen Aufwands und der Verzicht auf teure Maßnahmen mit geringem oder fraglichen Nutzen für den Patienten Wege zu einem kostenbewussten und gleichzeitig ethisch vertretbaren Umgang mit knappen Gesundheitsressourcen eröffnet. Die evidenzbasierte Medizin ist dafür eine unverzichtbare Voraussetzung.

Evidenz ist auch das Stichwort für den Beitrag von Eikermann u. Pieper, der mit der Analyse von Unterschieden in der Häufigkeit von Gesundheitsleistungen die Makroebene beleuchtet. Aktuell wird in unserem Fachgebiet am Beispiel der Häufigkeit des Hüft- und Kniegelenkersatzes und der Wirbelsäulenoperationen in Deutschland eine heftige öffentliche Diskussion zu einer möglichen Überversorgung und deren Ursachen geführt. Die Autoren plädieren für eine sachlichere und umfassendere Debatte, die systembezogene, erkrankungsbezogene, patientenbezogene und arztbezogene Faktoren gleichermaßen berücksichtigt und neben der Einbindung des Patienten in die Entscheidungsfindung eben die Implementierung von evidenzbasiertem Wissen als wesentlich ansieht.

Wir hoffen, in diesem Leitthema verdeutlicht zu haben, dass die Anwendung ethischer Prinzipien im Alltag sinnvoll und hilfreich ist und machbar wird, wenn man sich erst einmal in die Methodik der prinzipienorientierten Medizinethik eingedacht hat. In diesem Sinne danken wir unseren Autoren für ihre sorgfältigen Ausarbeitungen und wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre.

W. Mutschler

G. Marckmann