In diesem Jahr feiert die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie ihren 90-jährigen Geburtstag. 1922 wurde sie in Leipzig gegründet. Was war die Vorgeschichte, bevor 1922 in Leipzig die damalige Gesellschaft für Unfallheilkunde gegründet werden konnte?

Hier ist v. a. Professor Dr. Carl Thiem zu nennen, der von seinen Zeitgenossen „Vater der Unfallheilkunde“ genannt wurde. Carl Thiem wirkte damals als Ärztlicher Direktor im Krankenhaus Cottbus. Nicht nur, dass er 1898 das richtungsweisende Handbuch für „Unfallheilkunde aufgrund ärztlicher Erfahrungen“ verfasste, sondern er kämpfte für eine eigene Gesellschaft. 1894 gab er zusammen mit Dr. H. Blasius (Vertrauensarzt der Vereinigten unabhängigen Schiedsgerichte und verschiedenen Berufsgenossenschaften), sowie Dr. G. Schütz, Direktor der Berliner Medicomechanischen Institution zum ersten Mal die Monatsschrift für Un fallheilkunde heraus. Deren genauer Name lautete „Monatsschrift für Unfallheilkunde mit besonderer Berücksichtigung der Mechanotherapie“.

Basierend für diese Entwicklung waren die im Rahmen der Bismarckschen Reform eingeführten Sozialversicherungsgesetze, insbesondere das Unfallversicherungsgesetz. In der Nr.1 der Monatsschrift vom 20. Januar 1894 schrieben die Herausgeber einleitend:

Jeder Arzt kommt heute, der eine mehr, der andere weniger in die Lage, an der Ausführung des Gesetzes mitzuarbeiten. Will er aber seiner Aufgabe genügen, will er an einem edlen Auf- und Ausbau des Gesetzes mitarbeiten, wie er es verpflichtet ist, so sind ihm gewisse Kenntnisse unentbehrlich, welche das Universitätsstudium uns Aelteren gar nicht geboten hat, den Jüngeren nicht in genügendem Maasse bieten kann.

Des Weiteren führten sie aus:

Die Behandlung, welche heute nicht allein eine Heilung, sondern die Wiederherstellung der möglichbesten Erwerbsfähigkeit von vornherein als erstes Ziel im Auge haben muss, namentlich aber die Nachbehandlung nach einer Verletzung, erfordert so eingehende Specialkenntnisse, dass auch die Erfahrenen heute veranlasst sind, neue Studien zu pflegen und das Vorhandene immer weiter auszubauen und zu verfeinern.

Letztendlich sind dies die gleichen Inhalte, wie wir sie unverändert in unserer Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie mittragen, insbesondere im berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren.

1904 wurde die Zeitschrift umbenannt in Monatsschrift für Unfallheilkunde und Invalidenmedizin, 1908 in Monatsschrift für Unfallheilkunde und Versicherungsmedizin.

Im September 1894 vereinigten sich während der 66. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) in Wien zum ersten Mal die Unfallärzte von Deutschland, Österreich und der Schweiz zur Erörterung wissenschaftlicher Fragen in einer „Abtheilung für Unfallheilkunde“. Schon damals wurde auf eine Zusammenarbeit mit schweizerischen und österreichischen Kollegen Wert gelegt. Hierbei ist auch festzuhalten, dass die Schweizerische Gesellschaft für Unfallversicherungsmedizin schon 1912 gegründet worden war. Unter den schweizerischen Ärzten ist insbesondere Dr. C. Kaufmann aus Zürich hervorzuheben, Dozent an der Deutschen Universität, ebenfalls Mitbegründer der Monatsschrift für Unfallheilkunde und Invalidenwesen.

Diese Gruppe um Carl Thiem versammelte sich 6 Jahre regelmäßig anlässlich der Naturforscherversammlungen von 1895–1900 zuerst gemeinsam mit der Abteilung für Gerichtliche Medizin, später als eigene Abteilung. Die Zahl der Besucher zu den Vorträgen dieser Unfallärzte war, entsprechend dem Bericht von W. Kühne (Oberarzt bei Carl Thiem) „größer als bei anderen Abteilungen der Naturforscherversammlung“. Dennoch schlug ihre Todesstunde; sie wurde auf der Naturforscherversammlung in Hamburg als eigene Abteilung gestrichen, ebenso wie die Abteilung für Gerichtliche Medizin. Ursache dafür war, dass in der Versammlung der GDNÄ sich mehrere Untergruppen gebildet hatten, die in einer gewissen Rivalität zueinander standen. Eine Besondere existierte zwischen den Vertretern der Gerichtlichen Medizin und den Vertretern der Unfallheilkunde. Die Vertreter der Gerichtlichen Medizin beanspruchten den Bereich der Unfallheilkunde für sich, da die Inhalte der Unfallerkrankungen an manchen Universitäten eben die von Vertretern der Gerichtlichen Medizin unterrichtet wurden. Schon damals geschah dies unter dem Aspekt der Kostenersparnis im Lehrpersonal an diesen Universitäten!

Die Vertreter der Unfallheilkunde wehrten sich und hielten fest:

… dass der gerichtliche Mediziner fast stets ohne Krankenhaus ist, demnach nicht das Material hat, das einem Krankenhausleiter zur Verfügung steht und das, um den Unterricht belebend, eindrucksvoll und wirkungsvoll zu gestalten, notwendig ist. Rein theoretischer Unterricht genügt nicht und wird auch bei den Studenten keine Gegenliebe finden.

Schon im Jahre 1900, als die oben angeführte Streichung der Unfallmedizin im Kanon der GDNÄ drohte, rief der Chirurg Riedinger aus Würzburg zur Bildung einer Gesellschaft nach dem Vorbild der Deutschen Pathologischen Gesellschaft auf, wozu es jedoch nicht kam. Diese Entscheidung, die Unfallchirurgen aus dem Kongress auszuschließen, war ein herber Rückschlag. Dennoch kämpfte Carl Thiem weiterhin jedoch unentwegt für die Gründung einer Deutschen Gesellschaft für Unfallheilkunde, die er selbst nicht mehr erlebte. Er verstarb am 7. September 1917.

Kompensatorisch wurden internationale Kongresse abgehalten: 1905 in Lüttich, 1909 in Rom und 1912 in Düsseldorf unter der Leitung von Professor Dr. Hans Lininger, dem späteren 1. Vorsitzenden der Gesellschaft. Der 4. Internationale Unfallkongress, der im August 1921 in Zürich geplant war, um dessen Zustandekommen sich der Nestor der Schweizerischen Unfallärzte, Dr. C. Kaufmann in Zürich bemüht hatte, fand jedoch nicht statt, da die französisch orientierten Ärzte der Schweiz sich gegen die Beteiligung der deutschen Ärzte erklärt hätten.

Nach dem Tod Carl Thiems, insbesondere aber infolge der Ereignisse des Ersten Weltkrieges blieb es zunächst bei der damaligen Situation. Dr. W. Kühne, Cottbus, setzte sich jedoch weiterhin für die Idee seines ehemaligen Chefarztes ein. So schrieb er in der Monatsschrift für Unfallheilkunde und Versicherungsmedizin im Februar 1922 in einem Aufruf:

Der letzte Unfallkongress fand vor 10 Jahren statt. Seitdem hat der Weltkrieg getobt. Er hat nicht nur weit über das alltägliche Maß hinausgehende Anforderungen an die physische und seelische Leistungsfähigkeit der Teilnehmer gestellt, sondern auch Schädigungen und Verletzungen hervorgerufen, wie sie in Friedenszeiten nicht beobachtet werden konnten. Daher ist es jetzt umso notwendiger, ärztliche Erfahrungen über die schädigende Wirkung mechanischer, chemischer, bakterieller und psychischer Einflüsse auf Körper und Geist der Menschen zu sammeln, sie kritisch zu bearbeiten, nach gemeinsamen Richtlinien für die Beurteilung und Behandlung zu suchen.

Er forderte auch, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen und praktischen Erfahrung aus der Unfallheilkunde heraus schneller als bisher auch an die Allgemeinheit der Ärzte gelangen. Dies wollte er durch die Förderung der Ausbildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten für Medizinstudierende und Ärzte durch Schaffung von Lehrstühlen an den Universitäten erreichen. Aber auch schon damals war die Integration möglichst vieler ärztlicher Bereiche, insbesondere der Orthopäden, gewünscht. Wörtlich schrieb Kühne:

Es kommen unserer Überzeugung nach alle Ärzte in Betracht, insbesondere aber die Ärzte der Berufsgenossenschaften, die Vertrauensärzte der Oberversicherungsämter und Militärversorgungsgerichte, die Ärzte an den Versorgungsämtern, die Dozenten an den Universitäten, die Leiter der Krankenhäuser, die Knappschaftsärzte, die Leiter der Orthopädischen Fürsorgestellen, sowie diejenigen Praktischen Ärzte, welche in industriereichen Gegenden tätig, viele frische Verletzungen zu sehen bekommen.

Lokal gab es schon einzelne Vereinigungen, die sich der Unfallheilkunde widmeten, so der „Verein für Unfallheilkunde“ in Berlin unter Professor Dr. G. Schütz, ferner die „Rheinisch-Westfälische Gesellschaft für Versicherungsmedizin“ unter dem Vorsitz von Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Rumpf in Bonn. Weiter forderte Kühne: „Alljährlich müsste ein Kongress stattfinden, vielleicht im Anschluss an die Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, an welcher bereits die Gesellschaft für Gerichtliche und Soziale Medizin als eigene Sektion tagt“. Auch hielt er die Beteiligung weiterer an der Unfallheilkunde interessierten Gesellschaften möglich und wollte dies offenhalten. Der von W. Kühne verfasste Aufruf in der Monatsschrift für Unfallheilk unde und Versicherungsmedizin wurde von zahlreichen Ärzten aus verschiedenen Richtungen unterschrieben: Chirurgen, Augenärzten, Hals-Nasen-Ohren-Ärzten, Pathologen, Versicherungsmedizinern, Inneren Medizinern. Hervorzuheben ist, dass auch maßgebliche Orthopäden diesen Aufruf unterstützten, wie Professor Dr. von Bayer, Direktor der Orthopädischen Anstalt der Universität Leipzig, Dr. Bettmann, Chirurgisch-Orthopädische Heilanstalt Heidelberg, Sanitätsrat Dr. Schanz, Orthopädische Heilanstalt Dresden. Auch findet sich unter den damalig Unterzeichnenden ein Professor Dr. Markus aus Breslau, der sich als Facharzt für Orthopädie und Unfallheilkunde bezeichnete.

Der vorstehende Aufruf wurde in einer erweiterten Form an eine größere Anzahl auf dem Gebiet der Unfallheilkunde und Versicherungsmedizin bekannter Ärzte gesandt und fand „sogar begeisterte Zustimmung“.

Innerhalb derer, die sich für eine neue Gesellschaft aussprachen, gab es unterschiedliche Bestrebungen: zum einen die Gruppe, die sich lediglich auf die Unfallheilkunde beschränken wollte, die andere Gruppierung, die das Gebiet weiter gezogen haben wollte mit dem Ziel der Gründung einer „Gesellschaft für versicherungsrechtliche und soziale Medizin“ bzw. einer „Gesellschaft für Versicherungsmedizin und soziale Fürsorge“.

Letztere wurde verworfen aufgrund folgender Argumente: Mit der Sozialmedizin müssten auch die „soziale Hygiene, die Säuglings-, Kleinkinder-, Mütter-, Alkohol-, Geschlechtskrankheiten-, Psychopathenfürsorge und die Bestrebungen ärztlicher Rechts- und Standesfragen einbezogen werden“. Zudem gab es damals schon eine „Deutsche Gesellschaft für gerichtliche und soziale Medizin“ als eigene Sektion in der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Insofern beschränkte man sich auf den Zusatz der Versicherungsmedizin, da diese „inhaltlich verwandt“ sei. Insbesondere die Abgrenzung zur Gerichtsmedizin führte zu vielen Diskussionen. Zum damaligen Zeitpunkt wurde an den meisten Universitäten die Versicherungsmedizin durch die Gerichtsmedizin gelehrt, die auch einen diesbezüglichen Lehrauftrag hatten. Allerdings wurde von den Vertretern der Unfallheilkunde dies als ein falscher Weg angesehen und sähen „ein Aufgehen der Versicherungsmedizin in der Gerichtsmedizin als einen Rückschritt an“. Der Aufruf schloss mit den folgenden Zeilen und dem Ziel:

1. „In der Heilung der durch den Krieg gesetzten Schäden mit dem ganzen Rüstzeug der gewonnenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen in therapeutischer und begutachtender Hinsicht mitzuwirken und die Deutsche Ärzteschaft wieder auf dem Gebiet der sozialen Versicherung an die Stelle zu bringen, die sie vor dem Krieg eingenommen hat“.

2. „Die Ärzte zu rüsten für die Bewältigung der neuen Aufgaben, welche die veränderten sozialen Verhältnisse zu schaffen, eine Aufgabe um des Schweißes der edlen Werte“.

Dieser Aufruf stieß auf sehr große Sympathien, weshalb in der Monatsschrift für Unfallheilkunde und Versicherungsmedizin Ausgabe Juli 1922 die offizielle Einladung zu einem Unfallkongress und zur Gründung einer Deutschen Gesellschaft für Unfallheilkunde und Versicherungsmedizin erfolgte. Diese Veranstaltung sollte anlässlich der im September stattfindenden 100. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig stattfinden.

Der Kongress wurde so gelegt werden, dass er weder mit der Tagung der Pathologen, noch mit derjenigen der gerichtlichen Mediziner, noch mit dem Orthopädenkongress zusammenfiel, ein ganz klares Zeichen, dass diese Gesellschaft interdisziplinär angelegt werden sollte.

Vorträge waren u. a. vorgesehen zu „Unfall und Tuberkulose“, „Über die Krankheitsbereitschaft nach Unfällen“, „Wert der Kontrolle nach Unfallverletzungen durch Aufsichtsamte der BG“, „Osteomyelitis und Unfall“.

Die 1. Jahresversammlung der „Deutschen Gesellschaft für Unfallheilkunde und Versicherungs- und Versorgungsmedizin“ fand dann am 23.09.1922 im Auditorium der Universität Leipzig statt.

Dass die Deutsche Gesellschaft für Unfallheilkunde und Versicherungsmedizin so kurz nach dem Ersten Weltkrieg gegründet werden konnte, ist auch auf die Unterstützung von französischen Parlamentariern zurückzuführen. Dort wurde schon 1919 festgehalten, dass die „Deutsche Sozialversicherung ein solider Block ist, den auch die Belastung der schwersten Niederlage nicht hat zerbrechen können“.

Anwesend waren auch Vertreter aus der Schweiz, aus Holland und aus Österreich. Die gleichzeitig stattfindende Jubiläumsveranstaltung der Gesellschaft der Naturforscher und Ärzte fasste Kühne mit den Worten zusammen: „Hoffentlich ist die Feier dieses 100-jährigen Geburtstages ein gutes Vorzeichen für unsere Tagung, soll doch auch diese ein Geburtstagsfest für eine „Deutsche Gesellschaft für Unfallheilkunde, Versicherungs- und Versorgungsmedizin“ werden. Bei dieser Gründungstagung kam es zum Streit zwischen zwei Gruppierungen, die jeweils eigene Anträge stellten: einer stammte von der Deutschen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin unter der Federführung von Professor Dr. Reuter (Graz), die sich weiterhin mit der Gesellschaft für Gerichtliche Medizin vereinigten wollte. Der weitere Antrag stammte aus den Reihen des Reichsmedizinalbeamtenbundes, der vorschlug, eine „Deutsche Gesellschaft für Unfallheilkunde – Versorgungs- und Versicherungsmedizin“ zu gründen unter Aufnahme der bereits in Berlin und anderswo bestehenden wissenschaftlichen Vereinigungen für Versorgungsmedizin. Diesem Antrag wurde zugestimmt, anschließend wurden die vorgeschlagenen Satzungen verlesen und es erfolgte dann die Vorstandswahl.

Zum 1. Vorsitzenden wurde Professor Dr. Hans Liniger (Frankfurt) gewählt, der es auch bis 1929 blieb, und Geheimer Sanitätsrat Professor Dr. G. Schütz aus Berlin zum 2. Vorsitzenden. 1. Schriftführer wurde Dr. W. Kühne (Cottbus), 2. Schriftführer und Kassenführer Dr. Bettmann (Leipzig). Schon anlässlich der ersten Sitzung wurden Korrespondierende Mitglieder aus Holland, Österreich und der Schweiz benannt. Zu dem Vorstand, der aus 10 Mitgliedern bestand, den 2 Ehrenmitgliedern und 4 korrespondierenden Mitgliedern kamen noch 97 ordentliche Gründungsmitglieder. Unter den Gründungsmitgliedern befand sich auch der Orthopäde Sanitätsrat Schanz aus Dresden, sowie der Chirurg Professor Dr. Viktor Schmieden, Universität Frankfurt. Dieser war auch der erste chirurgische Lehrstuhlinhaber, unter dessen Leitung eine Jahrestagung, die 8. Tagung in Frankfurt/M stattfand.

In der innerhalb dieser 1. Versammlung festgelegten Geschäftsordnung ist § 9 von Interesse, indem hier schon die Zeitdauer der Vorträge festgelegt wurde. Sollte ein Redner die Vortragszeit überziehen, so „entscheidet die Versammlung mit einfacher Mehrheit auf Befragen durch den Vorsitzenden über die Fortsetzung“. „Unter § 11 werden in gleicher Form die Diskussionsbeiträge zeitlich und numerisch limitiert. Mehr als 3mal ist einem Redner das Wort in der Diskussion eines Gegenstandes nur mit Zustimmung der Versammlung zu erteilen“.

Zusammenfassung

Es kann festgehalten werden, dass der Anlass unsere Gesellschaft zu gründen, damals nicht primär aus einem fachlichen Anlass heraus entstand, sondern versicherungsrechtliche Aspekte im Vordergrund standen.

Auch muss konstatiert werden, dass letztendlich die Gründung unserer wissenschaftlichen Gesellschaft für die Unfallheilkunde/Unfallchirurgie nicht auf Aktivitäten aus den Universitäten und deren chirurgischen Lehrstuhlinhabern zurückzuführen ist, sondern dass „Carl Thiem der Verdienst zukommt, der Unfallchirurgie zu einem sehr frühen Zeitpunkt durch Bearbeitung der praktischen Ergebnisse und deren Veröffentlichung Geltung verschafft und im sozialversicherungsrechtlichen Bereich ärztliche Einsichten überhaupt erst Beachtung vermittelt zu haben“.

Carl Thiems Bedeutung lag nicht nur in dem Bau eines sehr großen Städtischen Klinikums, sondern auch in dem in 3 Bänden aufgelegten „Handbuch der Unfallerkrankungen aufgrund ärztlicher Erfahrungen“. Man kann die Arbeiten Carl Thiems zu den Behandlungsergebnissen der Frakturen durchaus mit Lorenz Böhlers Werk über die konservative Therapie vergleichen. Auch politisch setzte sich Thiem als Mitglied des Deutschen Reichstages ein und Carl Thiem bemühte sich um die Weiter- und Fortbildung der Ärzte in einer für die damalige Zeit ungewöhnlichen Intensität, wobei ihn sozialpolitische Beweggründe leiteten.

Nachdrücklich ist die Interdisziplinarität der Gründungsmitglieder hervorzuheben, was deutlich zeigt, dass die Unfallchirurgie eben wesentlich mehr ist, als nur die reine Behandlung einer Fraktur. Dieses auf die Ganzheitlichkeit der Unfallversorgung ausgerichtete Vermächtnis Carl Thiems sollte auch weiterhin ein Leitbild unserer Gesellschaft sein.

Hervorzuheben ist dazu ein Satz des Chirurgen und Lehrstuhlinhabers V. Schmieden anlässlich der 8. Unfalltagung 1933, dass „die wissenschaftliche Unfallmedizin ihrer ganzen Aufgabenstellung nach ein Fach ist, dessen Verständnis überhaupt erst dem reifen Arzte zugänglich ist, da es in der synthetischen Anwendung zahlreicher grundlegender Hauptfächer besteht“.

C. Josten