Vor mehr als einem Jahr ist auf Initiative der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) das Sonderheft 3/2020 mit dem Titel Hans Asperger und die Heilpädagogik erschienen. Die Konzeption der Sonderausgabe wurde von erfahrenen Medizinhistorikern führend begleitet, um eine möglichst sachliche und untendenziöse Bearbeitung des Themas zu gewährleisten.

Die Interpretation historischer Quellen stellt auch für Fachleute immer wieder eine Herausforderung dar. Das gilt gerade auch für die Bewertung historischer Persönlichkeiten, deren Handlungen und Wirken von Zeitzeugen nicht selten unterschiedlich erinnert und beurteilt werden. Je stärker die Analyse lediglich auf Sekundärquellen/Dokumente zurückgreifen kann, umso schwieriger kann es werden, einer Person in ihrem historischen Kontext gerecht zu werden. Die Betrachtung der Person Hans Asperger, insbesondere im Hinblick auf seine Einordnung bzw. Einbindung in das NS-Regime, hat uns dieses Dilemma erneut vor Augen geführt. Tatsächlich können historische Dokumente abhängig von der jeweiligen Perspektive kontrovers ausgelegt und interpretiert werden. So wurde in einem Beitrag des Sonderheftes Aspergers Wissen bzw. Mitwirken bei der Tötung zumindest von zwei Kindern während der NS-Herrschaft dargestellt, während dieser Einschätzung von anderen Autoren vehement widersprochen wurde. Der Dissens hat nach Erscheinen des Sonderheftes zu intensiver Kommunikation mit der Schriftleitung geführt. Dabei wurde dieser auch vorgeworfen, falsche Behauptungen zuzulassen und zur Publikation zu bringen.

Als Nichthistoriker möchten wir dazu festhalten, dass wir – mangels entsprechender Expertise und Ressourcen – weder alle im Sonderheft bewerteten historischen Dokumente kennen noch diese detailliert auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen können. Wir wissen aber, dass die das Themenheft begleitenden Medizinhistoriker ihre Aufgabe mit großer Ernsthaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein unter enormem zeitlichen Aufwand wahrgenommen haben. Die Beiträge des Sonderheftes lassen erahnen, dass Hans Asperger durchaus vielen Facetten – beruflich und menschlich – hatte, die in der Retrospektive möglicherweise auch kritisch gesehen werden können. Wenn letztlich Unsicherheiten in der Bewertung seiner Persönlichkeit bestehen bleiben, mag das auch dem großen Zeitintervall zwischen Geschehen und Analyse geschuldet sein.

Schon im Editorial zum Sonderheft wurde betont, dass es nicht Ziel war, Schuld oder Unschuld des Menschen und Arztes Asperger umfassend zu bewerten. Absicht des Themenheftes war es vielmehr, die grundsätzliche Problematik der NS-Zeit und die möglichen Risiken einer beruflichen Abhängigkeit auch für Ärzt*Innen in totalitären Regimen aufzuzeigen. Die Aufarbeitung sollte dazu beizutragen, für die Gefahren derartig menschenverachtende Situationen zu sensibilisieren.

Es war nicht das Ziel, Schuld oder Unschuld des Menschen und Arztes Asperger umfassend zu bewerten

Trotz dieser klar deklarierten Intention stand im Nachgang der Sonderheft-Publikation die Person Asperger im Zentrum der Diskussion. Wir haben uns daher entschlossen, beiden Positionen nochmals die Gelegenheit zu Repliken zu geben. Diese werden im vorliegenden „Leserforum“ ungekürzt und unverändert wiedergegeben. Als Schriftleitung sehen wir uns auch nach Vorliegen dieser Kommentare nicht hinreichend fachkundig, über Schuld oder Unschuld Aspergers zu urteilen. Wir betrachten dies aus den oben genannten Gründen auch nicht als unsere Aufgabe. Für die Zukunft werden wir allerdings sehr sorgfältig überdenken, ob eine medizinische Zeitschrift überhaupt das richtige Medium für eine so gestaltete historische Aufarbeitung und Bewertung sein kann.

Wir hoffen, dass dieses Editorial gemeinsam mit den Repliken unserer Leserschaft vermittelt, wie schwierig letztlich die Interpretation historischer Dokumente sein kann.