Die molekulare Pädiatrie ist in der Kinder- und Jugendmedizin ein junges, sich dynamisch entwickelndes Feld, das sich deutlich über die reine molekulargenetische Abklärung von Krankheiten hinaus erstreckt. Im Prinzip fehlt dafür noch eine einheitliche, allgemein anerkannte Definition.

Die molekulare Pädiatrie spannt einen kontinuierlichen Bogen von der Diagnostik zur Therapie von Krankheiten: Symptome werden in Bezug zu betroffenen Organen gesetzt bis hin zu Geweben, Zellen und deren Organellen. Stoffwechselwege in diesen Organellen funktionieren durch eine Wechselwirkung von Enzymen und deren Kofaktoren. Metabolite und Substrate sind messbare Größen in diesem Intermediärstoffwechsel. Dieses Stoffwechselnetzwerk ist ungemein komplex mit vielen Interaktionen zwischen den Organellen und verschiedenen Stoffwechselsynthese- und Abbauwegen.

Als ich mich vor fast 40 Jahren in der Kinder- und Jugendheilkunde mit Patientinnen und Patienten mit neuromuskulären Symptomen und auffälliger Milchsäureerhöhung zu beschäftigen begann, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass sich aufgrund der exponentiellen Zunahme der Erkenntnisse in Genetik und Metabolik und sich permanent verbessernder Technologien mit zuletzt deutlich sinkenden Kosten in der Diagnostik tatsächlich ein handfestes Aufgabengebiet entwickeln würde – das der molekularen Pädiatrie.

Ich war bereits damals bei einem Patienten mit Milchsäureazidose beim Muskel und Zentralnervensystem (ZNS) und den Mitochondrien als Organellen angelangt. Diese Organellen sind vornehmlich wichtig für die Sauerstoff-abhängigen Organe. In diesen Organellen ist der dominierende Stoffwechselweg die Zucker- bzw. die Pyruvatoxidation, deren Bestandteile wiederum Kofaktor-abhängige komplexe Enzyme, Multienzymkomplexe zum Funktionieren der Stoffwechselwege sind. Größter und wichtigster Schritt in der Entwicklung der molekularen Medizin war die Entwicklung der exakten genetischen Diagnostik, als Herausforderung bei den Mitochondriopathien sowohl die Analyse des nukleären wie auch des mitochondrialen Genoms. Next-Generation-Sequencing-Techniken sind heutzutage beinahe in der Routine angelangt. Genetische Bibliotheken wurden geöffnet. Nun endet der Bogen der Diagnostik, der quasi bei dem/der Patient*in mit dem Symptom und den betroffenen Organen beginnt, über Gewebe, Organellen, Enzyme und Stoffwechselwege bei der Charakterisierung der Gene, die für diese Stoffwechselwege verantwortlich sind, oder bei Genen, die die Enzyme oder Kofaktoren der Enzyme regulieren, oder auch bei Genen, die die Organellen in ihrer Funktion bestimmen. So werden nun in der molekularen Pädiatrie permanent neue genetische Erkrankungen entdeckt, die nur dann, wenn man sich bei der Diagnostik in lokalen und v. a. internationalen Netzwerken befindet, durch Clusterung von Krankheiten und Beschreibung derselben neue „disease entities“ bilden und damit neue Einträge in Lehrbücher bekommen (s. Beitrag Stülpnagel et al., https://doi.org/10.1007/s00112-021-01253-2) So ist ein großes Verdienst der molekularen Pädiatrie die exakte, präzise Diagnostik von Krankheiten bis hin zur molekulargenetischen Ebene. Das ist personalisierte Präzisionsmedizin in Reinform, die auf diese Diagnostik beschränkt allein schon einen hohen Wert aufzeigt: Jede*r Patient*in, jedes Kind hat ein „Recht auf seine Diagnose“. Endet doch oft hier erst die Odyssee der bisherigen diagnostischen Reise, und eine persönliche Begleitung der Patientinnen und Patienten in kompetenten spezialisierten Zentren beginnt (s. Beitrag Prodinger et al., doi: https://doi.org/10.1007/s00112-021-01256-z).

Oft sind zur Entdeckung der Krankheiten allerdings auch Genprodukte notwendig. Über Einbeziehen der OMICS-Felder (z. B. Metabolomics, Proteomics, Lipidomics) und anderer Genprodukte können Rückschlüsse auf mögliche Genloci als Ursache der Krankheiten gezogen werden. Es ist wichtig zu betonen, dass in der Diagnostik nicht allein die Ebene der Gene das entscheidende Ziel darstellt, sondern vielmehr die Beweisführung einer Pathologie von Mutationen bzw. Varianten mit Betrachtung funktioneller Vorgänge in den Zellen bis hin zu zellulären Dysfunktionen. Nur dort, in Zentren, wo im Dreiklang erstens eine profunde klinische Expertise die genetische Diagnostik steuert, die zweitens mit den neuen Methoden NGS(„next generation sequencing“)/WES(„whole exome sequencing“) eine klare genetische Aufarbeitung bis hin zu den verschiedenen Varianten ermöglicht und es dann drittens auch die funktionelle Beweisführung auf zellulärer Ebene gibt, hier also Kliniker, Genetiker und Biochemiker sich ergänzen, nur dort kommt es zu einer klaren und fundierten Diagnosestellung und Ausbeute (s. Beitrag Wortmann et al., doi: https://doi.org/10.1007/s00112-021-01257-y). Dass es immer wieder zu begründeten Therapieversuchen und sogar neuen Therapieentwicklungen kommt, ist der Lohn einer sehr profunden Diagnostik, leider auf dem Feld der Rare Diseases noch viel zu selten (s. Beitrag Mayr, doi: https://doi.org/10.1007/s00112-021-01252-3 s. Beitrag Stülpnagel et al.,und s. Beitrag Prodinger et al.).

Neben der Präzisionsmedizin ist in der molekularen Pädiatrie der soziale Aspekt ganz klar verankert

Neben dieser molekularen Präzisionsmedizin ist in der molekularen Pädiatrie der soziale Aspekt ganz klar verankert. Wie der Stoffwechsel und die Stoffwechselwege selbst in sich vernetzt sind, so bilden auch die Spezialist*innen für angeborene Stoffwechselstörungen eine weltweit vernetzte Community von Expert*innen, die mit ihrer Leidenschaft am detektivischen Entdecken einer Krankheit und dem Verständnis von biochemischen Funktionsabläufen bis hin zur genetischen Erklärung charakterisiert sind. Es ist eine Gemeinschaft von „Spürnasen und Aufklärer*innen“. Die molekulare Pädiatrie spielt in dieser Community eine zentrale Rolle und ist ein Leuchtturm der Präzisionsmedizin. In dieser Präzisionsmedizin kommt die psychosoziale Dimension sehr stark zum Ausdruck, weil diese Präzisionsmedizin immer personalisiert ist. Ein*e Patient*in mit ihrem/seinem Recht auf eine Diagnose und die Angehörigen werden durch die klare und präzise Diagnose allermeist an Spezialistinnen und Spezialisten und damit klinisch an spezialisierte Zentren gebunden. Personalisierte Diagnose bedeutet, dass man Patientinnen und Patienten ein Leben lang individuell begleitet, dass man Ansprechperson, Expert*in und Begleiter*in wird. Die oft kritische Bemerkung, „was tut man sich so einen Aufwand in der Diagnostik an“, „man kann diese Krankheiten ohnehin nicht ausreichend therapieren“, zählt eigentlich nicht. Bei den Rare Diseases geht es v. a. darum, dass Patient*innen eine individuelle spezialisierte Betreuung haben. In manchen Fällen gelingt es, neue Therapien tatsächlich zu implementieren (s. Beiträge Mayr, Stülpnagel et al. und Prodinger et al. in diesem Heft).

Ebenfalls ist es Aufgabe der Spezialistinnen und Spezialisten in der molekularen Pädiatrie, sich für die Patient*innen und deren Familien einzusetzen, bei seltenen Krankheiten eine gerechte Finanzierung zu erzielen, die Bündelung und Qualitätssicherung und damit Institutionalisierung von Kompetenzzentren mit internationaler Zusammenarbeit voranzutreiben wie auch oft aufwendige Therapiestudien zu planen, die ohnehin nur in einer Vernetzung stattfinden können.

Zusammenfassend ist die molekulare Pädiatrie ein handfestes, praktisch interessantes und wichtiges patient*innenorientiertes Gebiet in der Pädiatrie. Zugleich ist man mit den Patient*innen, ihren Familien und deren sozialen Aspekten eng verknüpft und mit vielen begleitenden Maßnahmen beschäftigt. Dieses Heft der Monatsschrift Kinderheilkunde anlässlich der Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) in Salzburg gibt einen guten Einblick in Errungenschaften der molekularen Pädiatrie.

Mich persönlich hat diese fast 40-jährige Reise fasziniert, sie hat viele neue Erkenntnisse gebracht, neue Freundschaften und internationale Kontakte ermöglicht. Es war spannend, die Entwicklung der molekularen Medizin ein Stück weit miterlebt zu haben, aber auch sehr erfüllend, sich für Patient*innen in einem hohen Maß sehr persönlich eingesetzt haben zu dürfen.

Wolfgang Sperl