Einleitung

Spastik wird definiert als gesteigerter, geschwindigkeitsabhängiger Dehnungswiderstand der Skelettmuskulatur, der als Folge einer Läsion deszendierender motorischer Bahnen des Zentralnervensystems (ZNS; Großhirn, Hirnstamm, Rückenmark) auftritt und in der Regel mit anderen Symptomen wie Muskelparese, Verlangsamung des Bewegungsablaufs, gesteigerten Muskeleigenreflexen, pathologisch enthemmten Synergismen und spastischer Dystonie einhergeht, was zusammen auch als spastische Bewegungsstörung („spastic motion disorder“ [SMD]) bezeichnet werden kann [1] und damit ältere Definitionen ablöst [2, 3]. Bei Kindern wird entsprechend den Empfehlungen der Surveillance of Cerebral Palsy in Europe (SCPE, Initiative der Europäischen Union) zwischen ein- oder beidseitiger, ataktischer und dyskinetischer Spastik unterschieden [4].

Epidemiologie

Je nach Betrachtungszeitraum und -ort liegt die Inzidenz der Zerebralparese zwischen 0,9 und 1,96/1000 Lebendgeburten [5, 6].

Bei den Frühgeborenen ist die Inzidenz in den letzten 23 Jahren um 15 % gesunken; diese Tendenz wird durch die hohe Rate von 59/1000 Lebendgeburten bei Kindern, die vor der 28. Schwangerschaftswoche geboren werden, konterkariert [6]. Stavsky et al. [5] berichten bei den extrem Frühgeborenen über einen Anstieg der Inzidenz von 33,7 auf 114,6/1000 Lebendgeburten. Im Langzeitverlauf zeigen die Daten der SCPE dagegen für den Zeitraum von 1980 bis 2003 für Europa und Australien eine sinkende Inzidenz [7].

Ursachen und Pathophysiologie

Auslöser sind Sauerstoffmangel unter der Geburt, Gehirnparenchymschädigung durch Ischämie, Blutung, Infektion, Trauma oder Tumor sowie bei degenerativen und Stoffwechselerkrankungen (Tab. 1).

Tab. 1 Häufige Ursachen spastischer Bewegungsstörungen

Aus der Spastik resultieren Funktionseinschränkungen mit nachfolgenden Gelenkkontrakturen, Fehlwachstum und Schmerzen.

Das „Syndrom des ersten Motoneurons“ setzt sich zusammen aus Spastik, Parese und reduzierter motorischer Kontrolle. Die Spastik ist häufig das führende Symptom, das die Willkürmotorik des Muskels behindert. Durch die häufig auftretenden Kokontraktionen treten an der oberen Extremität typische Bewegungsmuster auf, die besonders bei motorisch anspruchsvollen Aufgaben oder bei schneller Aktivität sichtbar werden. So führt beispielsweise die Aktivierung der Beugemuskulatur zu Inklination des Daumens, Beugung der Finger, Beugung und meist ulnarer Abweichung des Handgelenks, Beugung im Ellbogen sowie Adduktion und Innenrotation in der Schulter in einer typischen Kombinationsbewegung.

Das häufigste Gangbild bei bilateraler Spastik ist der Kauergang und bei unilateraler Spastik der Spitzfuß.

Folgen dauerhafter spastischer Fehlhaltungen sind zunehmende Wachstumsstörungen und Kontrakturen am Weichgewebe durch die Verkürzung von Muskeln, Sehnen und Bändern sowie Kapselschrumpfungen und Ankylosen der Gelenke. Das klinische Erscheinungsbild mit einer Kombination aus Spastik, Hypotonie, reduzierter motorischer Kontrolle und konsekutiven Folgen am Bewegungsapparat ist individuell sehr unterschiedlich.

Spastik kann sich in Abhängigkeit von Topographie und Ausdehnung des Hirnschadens in sehr unterschiedlichen Lähmungsmustern zeigen. Die häufigsten Formen sind eine einseitige Spastik bei kontralateralem Hirnschaden und die Tetraspastik mit Beteiligung aller vier Extremitäten. Bei Zerebralparese beschreibt man spastische, dyskinetische und ataktische Formen, beim Erwachsenen fokale bzw. multifokale, segmentale, Hemi- und generalisierte Spastik [8]. Spastik betrifft durchaus auch Gesichts‑, Hals- und Rumpfmuskulatur, verursacht Schluckstörungen, Blasenentleerungsstörungen und andere Symptome.

Parallel können bei allen Patienten kognitive Funktionen eingeschränkt sein und andere Begleiterkrankungen vorliegen, die die Rehabilitation und Behandlung insgesamt wesentlich beeinflussen. Störungen von Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit, Konzentrationsminderung und individuelle Gefühlslagen erschweren die Compliance bei therapeutischen Maßnahmen [9, 10].

Spastizität wird nicht durch einen einzelnen defekten Mechanismus verursacht, sondern eher durch komplexe Veränderungen entlang verschiedener, voneinander abhängiger Steuerungspfade. Zusätzlich hängt die Ausprägung von Ätiologie, Lokalisierung und Zeitpunkt der Schädigung ab [3].

Diagnose anhand klinischer Symptome

Allgemein

Im Vordergrund steht der dauerhaft oder akzidentell erhöhte Muskeltonus der betroffenen Muskulatur. Muskeleigenreflexe sind gesteigert, pathologische Reflexe, Klonus und „catch“ sind auslösbar (Tardieu-Skala in Tab. 5). Aufgrund der Spastik verkrampfen die betroffenen Muskelgruppen und können nicht mehr aktiv entspannt werden. Der erhöhte Tonus schmerzt, die Antagonisten werden funktionell unwirksam, überdehnt und damit zunehmend geschwächt. Neben diesen vormals als „Plus-Phänomenen“ bezeichneten sind auch die „Minus-Phänomene“ Muskelschwäche und eingeschränkte motorische Kontrolle bedeutsam.

Hinzu kommt eine Vielzahl morphologischer und funktionaler Folgen (Tab. 2) im Muskel selbst, seinem Antagonisten und am Gelenk [11, 12]. Beim wachsenden Kind kann es durch die Kompression der nahen Metaphysen zu verzögertem Knochenwachstum und durch asymmetrische Krafteinwirkung zu Knochendeformierungen an den Dia- und Epiphysen kommen. All dies beeinflusst die Haltung der betroffenen Extremität in Ruhe, die Bewegungsmuster und die daraus resultierenden Alltagsfunktionen (Fehlhaltungen). Zusätzlich können sich im Verlauf typische, nichtkorrigierbare Fehlstellungen (beispielsweise eine Skoliose) ausbilden.

Tab. 2 Folgen von Muskelspastik

Obere Extremität

Im Bereich der oberen Extremität imponiert häufig eine Adduktionskontraktur der Schulter, verbunden mit einer Flexions- und Pronationskontraktur der Ellenbeuge und des Unterarms mit Handgelenk. Der Daumen ist häufig adduziert und im Interphalangealgelenk überstreckt oder eingebeugt. An den Langfingern bestehen Knopfloch- oder Schwanenhalsdeformitäten, die gelegentlich auch an der gleichen Hand parallel auftreten können. Völlig andere Haltungsmuster mit extremer Supination des Unterarms, fixierter Extension des Handgelenks oder zur Faust geschlossenen Fingern kommen ebenfalls vor.

Als klinisches Scoring-Instrument bieten sich die „bimanual fine motor function“ (BFMF, [13]) sowie das „manual ability classification system“ (MACS, [14]) an.

Untere Extremität

An der unteren Extremität beeindruckt das gestörte Gangbild aus dem Zusammenspiel zwischen Spastik, Muskelschwäche und insuffizienter Willkürmotorik sowie Muskel- und Gelenkkontrakturen und knöchernen Deformitäten. Das Gangbild wird auch wesentlich durch eine zentrale Störung der Balance und Koordination beeinflusst. Verschiedene Gangarten werden sowohl bei beidseitiger als auch einseitiger Spastik beschrieben [15, 16]. Das häufigste Gangbild bei bilateraler Spastik ist der Kauergang und bei unilateraler der Spitzfußgang. Die häufigsten Auswirkungen der Zerebralparese auf das muskuloskeletale System der unteren Extremitäten sind: Hüft-(Sub‑)Luxation und Hüftpfannendysplasie, Coxa (valga und) antetorta, Kniebeugekontrakturen, Patella alta, Torsionsfehler des Unterschenkels, diverse Fußfehlstellungen wie z. B. Spitzfuß, Hohlfuß, Klumpfuß oder Knickplattfuß.

Außerdem bestimmen Beinlängendifferenz und Schmerzen im Rücken und der betroffenen Extremität das Krankheitsbild.

Bezüglich der Funktion wird die Stufe im „gross motor function classification system“ (GFMCS, Tab. 3, von I bis V) bestimmt.

Tab. 3 GMFCS Level (Palisano et al. [17])

Zusatzuntersuchungen

Da die der Spastik zugrunde liegenden Erkrankungen in ihrem natürlichen Verlauf sehr unterschiedlich sind (statisch wie z. B. die Zerebralparese, fortschreitend wie z. B. die hereditäre spastische Paraparese oder die Leukodystrophien) und damit auch unterschiedliche Zielsetzungen in der Behandlung erfordern [18], sind eine zerebrale Bildgebung, elektrophysiologische und ggf. eine genetische Untersuchung zur Klärung der Ätiologie vor der symptomatischen konservativen oder chirurgischen Behandlung zwingend erforderlich.

Die Kraft wird nach dem British Medical Council [19] quantifiziert. Spastik und Bewegungsausmaß („range of motion“ [ROM]) können objektiv in Form von Skalen erfasst werden (Tab. 4 und 5). Prognostisch bedeutsam ist hier die Beurteilung nach dem GMFCS-Level [17].

Tab. 4 Modifizierte Ashworth-Skala (Rutz et al. [20])
Tab. 5 Tardieu-Skala (Park und Owen [21], Haugh et al. [22])

Eine begleitende funktionelle Evaluation durch Physio- und Ergotherapeuten sowie ggf. durch Orthopädiemechaniker ergänzt die ärztliche Untersuchung und erlaubt eine umfassendere Orientierung bezüglich funktionaler Prioritäten oder möglicher Kontraindikationen, wie beispielsweise der fehlenden Compliance und des Verlusts wichtiger Ausgleichsbewegungen nach einem chirurgischen Eingriff.

Die Empfehlungen eines Cochrane-Review [23] zur Therapie der oberen Extremität bei unilateraler spastischer Zerebralparese sollten analog auch für chirurgische Eingriffe befolgt werden. Botulinumtoxin sollte nicht allein benutzt werden, sondern in Kombination mit geplanter Ergotherapie. Das Review fand hohe Evidenz für den Einsatz von Botulinumtoxin als zusätzliche Therapie für das Management der oberen Extremität bei Kindern mit spastischer CP. Sinnvolle Therapieziele ergeben sich aus der interdisziplinären Analyse der gewünschten, aber problematischen Alltagsaktivitäten mit den Schwierigkeiten des Patienten.

Therapie

Basistherapie

Um dem multimodalen Therapiekonzept gerecht zu werden, erfolgt in der Regel die Anbindung der kleinen Patienten an ein sozialpädiatrisches Zentrum. Hier können interdisziplinäre Diagnostik, differenzialtherapeutische Abwägungen und die Koordinierung der Therapieverfahren erfolgen. Basis der Therapie sind eine dauerhafte, oft lebenslange Krankengymnastik und Ergotherapie. Wesentlich ist die Erreichung physiologischer Entwicklungsschritte, „motor mile stones“ [24]. Außerdem muss man Kontrakturen und ungünstigen, dem spastischen Grundmuster folgenden Fehlhaltungen und Bewegungsmustern vorbeugen. Gleichzeitig sollen Alltagsfunktionen geübt werden, die trotz der Einschränkungen Eigenständigkeit und Gestaltungsfähigkeiten ermöglichen. Hierzu werden geeignete Hilfsmittel wie angepasste Griffe von Besteck und Stiften, Tischauflagen usw. erforderlich.

Orthesen in kindgerechtem Design helfen, die Stabilität zu verbessern. Diese können mit zusätzlichen Funktionen wie einer Uhr versehen werden, um die Akzeptanz zu verbessern. Für die untere Extremität werden spezielle Geh- und Sitzhilfen (Rollstuhl) eingesetzt.

Orale antispastische Medikation

Die Wirkung dieser in der Regel anticholinergen Medikamente ist generalisiert, sodass zur Vermeidung unerwünschter Effekte (wie z. B. bei Müdigkeit) eine sorgfältige Dosisanpassung erforderlich ist; insgesamt ist die rein orale antispastische Therapie in der Regel nicht erfolgreich, u. a. aufgrund der vergleichsweise zur intrathekalen Applikation geringen Wirkstoffkonzentration.

Intrathekale Baclofentherapie

Bei generalisierter Spastik wird auch die intrathekale Baclofentherapie mittels Medikamentenpumpe eingesetzt [25,26,27,28,29,30]. Bei hoher Katheterlage werden auch die Arme detonisiert [26,27,28]. Die intrathekale Baclofentherapie ist in ausgesuchten Fällen auch schon im Säuglingsalter möglich.

Botulinumtoxin

Die Injektion von Botulinumtoxin A in betroffene spastische Muskelgruppen hat in den letzten 20 Jahren zunehmend Anwendung gefunden. Dabei erfolgt die Injektion in der Regel aus therapeutischen Gründen unter elektrophysiologischer oder sonographischer Kontrolle an 2 oder mehr Stellen direkt in den oder die spastischen Zielmuskeln. Therapeutische Injektionen können auch im Zusammenhang mit operativen Eingriffen erfolgen, um Antagonisten zu schwächen oder eine übermäßige spastische Belastung neuer Sehnen- und Muskelnähte zu vermeiden. Eine weitere Anwendungsmöglichkeit ergibt sich aus differenzialdiagnostischen Erwägungen, wenn Spastik und Kontraktur klinisch nicht sicher zu differenzieren sind. Für die obere Extremität gibt es in Deutschland nur eine Zulassung für Erwachsene nach Schlaganfall (ansonsten eigenverantwortlicher „Off-label“-Gebrauch), bei Zerebralparese nur für Teile der unteren Extremität bei Kindern älter als 2 Jahre.

Chirurgische Therapie

Die chirurgische Indikationsstellung ist sehr individuell und muss vorrangig der Patienten-Compliance in allen Altersgruppen angepasst werden. Im Wesentlichen bekommt sie dann eine Rolle, wenn mit Botulinumtoxin und Orthesen alleine keine ausreichende funktionelle Therapie und Alltagsbewältigung mehr möglich ist.

Prinzipiell verfolgt ein chirurgischer Eingriff vorrangig funktionsverbessernde Ziele (willkürliche, zielgerichtete Nutzung der Agonisten und Antagonisten in biomechanisch logischer und alltagstauglicher Weise), beinhaltet aber auch hygienische und ästhetische Aspekte: Eine spastisch gefaustete Hand, bei der die eingegrabenen Fingernägel in der Hohlhand zu Hautläsionen und Infektionen führen, muss rein zum Gewebeschutz behandelt werden.

Manche Knochenkorrektur verbessert die Biomechanik und macht die Extremitätenhaltung ergonomischer, aber auch optisch unauffälliger.

Die Muskelansatzlösung oder verlängernde Tenotomie bezweckt eine Spannungsentlastung des spastischen Muskels, wobei hierbei postoperative, sekundäre Vernarbungen und Adhäsionen funktionsmindernd sein können, woher auch entsprechende Raten an Rezidiven herrühren.

Periphere Nervenchirurgie: die selektive Neurotomie

Relativ neu in der Evaluation, aber alt in der Beschreibung der Operationstechnik, bereits 1913 durch Adolf Stoffel [31], und v. a. funktionell logisch sind die partiellen selektiven motorischen Endastneurektomien [32, 33]. Hierbei werden etwa 80 % der einfließenden motorischen Fasern durchtrennt, um den Muskeltonus zu verringern. Dabei wird nicht nur der motorische Zufluss verringert, sondern durch die begleitende Durchtrennung der sensiblen Afferenzen aus den Muskelspindeln auch der sensorische Input gemindert, was die Spastik durch Beeinflussung des spinalen Interneuronen-Pools verringern kann. Der Eingriff fixiert den vorübergehenden Effekt von Botulinumtoxin und sollte vorab auch durch eine präoperative Gabe getestet werden, da es sich ja um eine irreversible destruktive Technik handelt. Auch ist die vorherige Probebehandlung des Zielmuskels durch Toxingabe unabdingbar, weil dadurch für Patienten und Angehörige der therapeutische Effekt einer selektiven partiellen Neurektomie simuliert werden kann.

Der orthopädische Ansatz

Aufgrund des dynamischen Knochenwachstums bei Kindern sollten zum einen die wachstumsbehindernden Faktoren reduziert werden, andererseits bei einer Gelenkversteifung das Osteosynthesematerial die Wachstumszone aussparen und auch kurzfristig (z. B. nach 6 Monaten) wieder entfernt werden. Ebenso muss präoperativ geprüft werden, ob der Patient nicht synergistische Tenodeseeffekte ausnutzt, die durch eine Gelenkeinsteifung zunichte gemacht würden.

Umsetzungen von Muskelansätzen oder Sehnenplastiken können dazu beitragen, durch eine spastische Lähmung bedingte Komplikationen zu vermeiden und Lagerung, Hygiene und motorische (Rest‑)Funktion zu verbessern. Bei halsmarkgeschädigten spastisch gelähmten Menschen mit Querschnittsyndrom [34] kann durch diese Umsetzungen eine aktive Handbewegung verbessert werden. Prinzipiell kann anstelle eines Sehnentransfers heute auch ein selektiver Nerventransfer auf den motorischen Nervenast des Zielmuskels erfolgen, falls dieser noch reinnervierbar und von guter morphologischer Qualität ist.

Spezifische Eingriffe der unteren Extremität

Hier werden präventive und therapeutische Eingriffe unterschieden. Ein Beispiel für eine präventive Operation ist die Adduktorentenotomie. Sie kann gefährdete Hüften vor der Luxation bewahren [35, 36]. In gleicher Indikation werden bei Kindern häufig die Myofasziotomie und die Epiphysiodese angewandt.

Ziele der therapeutischen Operationsverfahren sind, die Deformitäten zu korrigieren, Gelenke zu stabilisieren und Hebelarme für die Muskulatur zu verbessern.

„Single event multi level surgery“

Die Single event multi level surgery (SEMLS) hat neuerdings weite Verbreitung gefunden und führt zu verbesserter Muskelfunktion und einem verbesserten Gangbild [20, 37,38,39,40]. Bei diesem Verfahren werden alle Deformitäten des Beins oder der Beine vollständig in einer Sitzung korrigiert. Dabei werden verschiedene Operationstechniken an den Knochen und Gelenken wie Osteotomien oder Arthrodesen zusammen mit Weichteiltechniken wie intramuskuläre Sehnenverlängerungen, Sehnenverlagerungen, -verkürzungen und -augmentationen kombiniert. Jedoch wird der Begriff der SEMLS-Chirurgie in der Literatur unterschiedlich ausgelegt und gewertet ([41, 42]; Tab. 8).

Bei allen Therapiebesprechungen und bei der Indikationsstellung ist der interdisziplinäre Ansatz unabdingbar, einerseits zwischen Neurologen, Orthopäden und Chirurgen verschiedener Disziplinen, andererseits zwischen Ärzten und Therapeuten. Außerdem bedarf es einer funktionszielgerichteten Strategie, deren (postoperativer) Erfolg dann auch entsprechend evaluiert werden soll, nach dem Prinzip des „goal attainment scaling“ (GAS, [43, 44]).

Der zentrale neurochirurgische Ansatz

Basierend auf einer klaren Diagnose und guten ätiologischen Zuordnung, zusammen mit der zerebralen Bildgebung (und bei fehlendem Korrelat der Genetik) können die verschiedenen Therapiemöglichkeiten und insbesondere die Rhizotomie indiziert werden [18]:

Selektive dorsale Rhizotomie

Bei der selektiven dorsalen Rhizotomie (SDR), die destruktiv und irreversibel ist, werden durch Laminektomie und Eröffnung des Duraschlauchs die Hinterwurzeln der unteren Extremitäten unter Neuromonitoring partiell durchtrennt. Zuerst von Ottfried Foerster 1911 publiziert und durch Peacock in Südafrika und Park in den USA ab den 1980er-Jahren bei der Behandlung von klassischen Zehenspitzengängern angewandt (bilaterale Spastik mit GMFCS Level 2) [21, 45,46,47,48], wird sie auch in deutschen Kliniken in modifizierter Technik erfolgreich eingesetzt [49]. Die besten Ergebnisse sind bei Kindern unter 6 Jahren beschrieben, bei denen noch keine kontrakten Spitzfüße und ausreichende Muskelkraft bestehen, also bei Fällen, bei denen die Spastik nicht funktionell zum Tragen des Körpergewichts beim Gang genutzt wird. Bei ausgeprägter Schwäche sollte die SDR aufgrund ihres irreversiblen Charakters nicht ausgeführt werden, da die Kinder sonst vom Zehenspitzen- in den Kauergang wechseln. Die Indikation sollte interdisziplinär und unter Zuhilfenahme eines Ganglabors erfolgen. Viele von den mit SDR behandelten Patienten benötigen später eine operative orthopädische Behandlung [21, 50]. Einige Studien empfehlen SDR als eine effektive Alternative zur intrathekalen Baclofen-Pumpen-Therapie bei GMFCS 2 und 3, ggf. sogar 5 [51, 52].

Mögliche Komplikationen dieser neuroorthopädischen Eingriffe umfassen übliche Probleme der Wundheilungsstörung und Infektion, Kraftverlust bei Eingriffen am spastischen Muskel und Rezidive der Fehlstellungen und Kontrakturen.

Die verschiedenen Verfahren zählt Tab. 6, strategisch und topografisch geordnet, auf.

Tab. 6 Arten möglicher rekonstruktiver Eingriffe

Eine Übersicht der wesentlichen Verlaufsstudien mit Beurteilung der Studienqualität ist in den Tab. 7 und 8 gegeben.

Tab. 7 Studien obere Extremität
Tab. 8 Studien untere Extremität

Global ist eine Evaluation der Interventionen in den Domänen Struktur und Funktion der International Classification of Function and Disability (ICF) der WHO möglich, ebenso der Auswirkungen auf Aktivitäten und Teilhabe.

Handchirurgisch hat sich v. a. die Einteilung nach House [53, 59] bewährt.

In der deutschsprachigen Literatur finden sich v. a. Arbeiten zur Behandlung mit Botulinumtoxin [56] und zur Chirurgie der spastischen unteren Extremität (Tab. 8); wobei in internationalen, v. a. handchirurgischen Kreisen, die Chirurgie der „spastischen Hand“ schon lange innerhalb eines allumfassenden, schlüssigen Konzepts beschrieben und verfeinert wird [54, 59,60,61].

Der aktuellen AWMF-Leitlinie zur Spastik [1] entnehmen wir, dass es für die operative Korrektur eines so speziellen Problems, wie der „Thumb-in-palm“-Deformität, ein Cochrane-Review gibt. Die Autoren beschreiben einen von Patienten und Chirurgen festgestellten positiven Effekt, weisen aber auf die hohe Anzahl unterschiedlicher Interventionen und Messparameter hin, sodass eine konkrete, evidenzbasierte Beurteilung dieser Behandlung nicht möglich scheint [57].

Schlussfolgerungen

Spastische Lähmungen sind ein komplexes funktionsbeeinträchtigendes Problem, das heutzutage vielfältig rekonstruktiv und mit „destruktiven“ Methoden zur Tonusreduktion angegangen werden kann. In erster Linie zählen Physio- und Ergotherapie mit vereinbarten alltagsrelevanten Therapiezielen, kombiniert mit Orthesen, sowie die selektive Behandlung spastischer Muskeln mit Botulinumtoxin. Verschiedene chirurgisch-rekonstruktive und teils auch palliative Verfahren kommen dann zum Einsatz, wenn es keinen konservativen Behandlungsansatz gibt (Fehlwachstum, komplexes Muskelungleichgewicht, Schmerzen, Hygiene- und Pflegeproblematik) oder konservative Maßnahmen nicht mehr ausreichen.

Jeder chirurgische Eingriff muss an seinem potenziellen Benefit für alltagsrelevante Ziele des Patienten (Domäne Aktivität der ICF) unter Vermeidung von kurz- und langfristigen Einschränkungen gemessen werden und braucht auch postoperativ eine spezifische Nachbehandlung, oft in Form einer stationären Rehabilitation, um die therapeutisch optimierte Biomechanik im Sinne des motorischen Lernens optimal zu nutzen.

Fazit für die Praxis

  • Eine spastische Bewegungsstörung beruht auf einer Schädigung des 1. Motoneurons mit vielfältigen Ursachen und hat multiple Auswirkungen auf die Extremitätenfunktion und deren Entwicklung beim Heranwachsenden.

  • Diagnostisch ist neben der im Vordergrund stehenden klinischen Untersuchung und Einteilung in Funktionsschweregrade mittels Scores die ätiologische Zuordnung (und damit die Kenntnis über den Langzeitverlauf) Grundlage für eine erfolgreiche Indikationsstellung und für den Erfolg aller Behandlungsverfahren mitentscheidend.

  • Konservative Maßnahmen stehen immer an erster Stelle und beinhalten neben Physio- und Ergotherapie die Versorgung mit Orthesen und den Einsatz von Botulinumtoxin.

  • Chirurgische Verfahren setzen entweder am Nerv (selektive Neurotomie) oder am Muskel (Ansatzlösung, Fasziotomie) an bzw. korrigieren knöcherne oder Gelenkfehlstellungen. Die Evidenzlage chirurgischer Korrektureingriffe ist aufgrund der alleinigen Verfügbarkeit retrospektiver Kohortenstudien zwar gering, allerdings der Erkrankungskomplexität, den individuell unterschiedlichen funktionellen Bedürfnissen der Patienten sowie der Beurteilung der Behandlungsresultate entsprechend.

  • Die Prognose ist individuell, Scoring-Systeme wie insbesondere die Gross motor function classification scale (GMFCS) helfen bei der einheitlichen Analyse der therapeutischen Verfahren. Der interdisziplinäre Ansatz ist und bleibt sehr wichtig bei der Betreuung dieser komplexen und multifaktoriellen Problematik.