Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Beiträge im vorliegenden Sonderheft der Monatsschrift Kinderheilkunde befassen sich mit der Person Hans Asperger, seinen Tätigkeiten und seinem Wirken vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus (NS). Sie sollen die diesbezüglichen, geschichtswissenschaftlich fundierten Erkenntnisse v. a. der deutschsprachigen pädiatrischen Fachwelt näherbringen. Ergänzt werden diese Forschungsergebnisse durch Erinnerungen von ZeitzeugInnen.

Den Anstoß für die Konzeption dieser Ausgabe gaben zum einen die Publikationen des Wiener Medizinhistorikers Herwig Czech und der US-amerikanischen Historikerin Edith Sheffer über die Kollaboration Aspergers mit dem NS-Regime. Beide, sowohl Czechs Artikel in der Fachzeitschrift Molecular Autism als auch Sheffers Buch Asperger’s Children, erfuhren dabei im Frühjahr 2018 eine bemerkenswerte mediale Resonanz.

Zum anderen riefen genau jene, in diversen Medien veröffentlichten, teils tendenziös-sensationalistischen Berichte und deren Ungenauigkeiten den Wunsch nach einem Zusammenfassen des bisherigen Wissensstandes zu Aspergers Schaffen, besonders in der Zeit zwischen dem sog. Anschluss und dem Kriegsende, hervor.

Eine Person, die innerhalb NS-behördlicher Strukturen agierte, aus mehreren Perspektiven zu betrachten, ist dabei unerlässlich – ebenso die Frage nach individuellen und im zeitgenössischen Kontext zu sehenden Handlungsspielräumen.

Die Betrachtung Aspergers und seiner Handlungsspielräume aus mehreren Perspektiven ist unerlässlich

Die besondere historische Verantwortung von KinderärztInnen berücksichtigend, hat die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde ihr Referat Geschichte der Pädiatrie beauftragt, dieses Sonderheft herauszugeben. Das Konzept sah dabei bereits initial vor, nicht nur Beiträge von HistorikerInnen, sondern auch die persönlichen Erfahrungen von ZeitzeugInnen zu inkludieren.

Im ersten Aufsatz beschreibt die Zeithistorikerin Ina Friedmann die Entwicklung und Geschichte der heilpädagogischen Abteilung an der Wiener Universitätskinderklinik. Damit soll die Leserschaft mit den historischen Wurzeln der Heilpädagogik in Österreich vertraut gemacht und gewissermaßen die Basis für das Verständnis Aspergers wissenschaftlicher sowie klinischer Tätigkeit in einer medizinischen Disziplin geschaffen werden, für die Asperger selbst über viele Jahrzehnte prägend sein sollte.

Anschließend fasst Herwig Czech die wichtigsten Ergebnisse seiner jahrelangen Forschungstätigkeiten zu Aspergers Rolle während des NS zusammen. Er gibt eingangs einen Einblick in dessen ideologische Sozialisation in unterschiedlichen Gruppierungen, wie etwa dem Bund Neuland oder der St.-Lukas-Gilde, sowie in die Situation an der Wiener Kinderklinik unter Franz Hamburger, Mitglied der illegalen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) ab 1934.

Nach dem sog. Anschluss konnte Asperger seine wissenschaftliche Karriere fortsetzen, indem er sich an die neue politische Situation anpasste. Das Resultat bestand laut Czech darin, „dass Asperger das Vertrauen der nationalsozialistischen Hierarchie genoss – und dass er dieses Vertrauen rechtfertigte, indem er die an ihn gestellten Erwartungen widerspruchslos erfüllte“. Zum Schluss widmet sich der Beitrag der vielleicht wichtigsten Frage im Zusammenhang mit Aspergers Tätigkeit, nämlich, ob bzw. wie viel Kenntnis Asperger von den systematischen Tötungen in der sog. Kinderfachabteilung am Spiegelgrund hatte. Hier argumentiert Czech nachvollziehbar und fundiert, dass Asperger kaum nicht von den „Euthanasie“-Morden wissen konnte.

Der Mittelalterhistoriker Werner Maleczek, welcher mit Hans Asperger über den Bund Neuland verbunden war, und seine Kollegen stellen bereits im Titel ihres Beitrags kategorisch fest, Asperger sei kein „Handlanger der NS-Kindermörder vom Spiegelgrund“ gewesen. Aus Sicht der Autoren ist dies v. a. durch dessen tiefe Prägung in der katholischen Jugendbewegung, dem Bund Neuland, begründet. Jedoch gab es auch in dessen Reihen zahlreiche NS-Sympathisanten: So trat etwa der Bundesführer Anton Böhm kurz nach dem sog. Anschluss der NSDAP bei. Dies wird von den Autoren als einer von wenigen Einzelfällen eingestuft; die „überwiegende Mehrheit“ habe dem NS-Gedankengut nicht nahegestanden. Im Fall Böhm unterlassen die Autoren es aber, trotz mehrfacher Hinweise der HerausgeberInnen, darauf hinzuweisen, dass dieser bereits 1933 Mitglied der illegalen österreichischen NSDAP wurde.

Asperger hätte wohl 1938 ein Ausscheiden aus der Wiener Kinderklinik unter der Leitung des NS-Anhängers Hamburger durchaus erwogen, wäre dann aber „innerhalb des Apparates“ verblieben, um als Wissenschaftler arbeiten und seine wachsende Familie versorgen zu können. Damit hätte er zwar die „unumgängliche Zustimmung“ signalisiert, „die jedes totalitäre Regime seinen BürgerInnen abnötige, wenn sie lebensgefährlichen oder existenzbedrohenden Widerstand nicht wagten“. Die Autoren konstatieren aber, dass die Praxis einer „Euthanasie“ von Kindern für Asperger „eigentlich denkunmöglich“ gewesen sei, und glauben auch, Argumente vorzubringen, dass Asperger mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ erst nach Kriegsende von den „Euthanasie“-Morden am Spiegelgrund erfahren habe.

Das von Czech und Sheffer publizierte und medial ausgeschöpfte Bild Aspergers ist für dessen ehemalige KollegInnen und SchülerInnen nicht nachvollziehbar. Eine Gruppe um den Kinderarzt Franz Waldhauser begann deswegen eigenständige Recherchen zu Aspergers Wirken während des NS und präsentiert einen ersten Zwischenstand ihrer Ergebnisse. Der Fokus liegt dabei auf dem Bund Neuland, der St.-Lukas-Gilde und Aspergers „Verfolgung durch die Gestapo“. Letztere basiere nämlich laut Czech einzig auf Aspergers Aussagen und sei damit Teil Aspergers Nachkriegsnarratives als NS-Gegner. Die Autoren dieses Artikels sind jedoch der Auffassung, dass hierfür wichtige Archivalien nicht gesamtheitlich berücksichtigt und interpretiert worden seien, und kündigen eine diesbezüglich detailliertere Darstellung an.

Der Kinderarzt und Medizinhistoriker Christian Lechner befasst sich in seinem Beitrag mit der Berufung Hans Aspergers nach Innsbruck und seiner sozialen Vernetzung in Tirol. Eingangs wird dafür ein Blick auf die Geschichte der Innsbrucker Kinderklinik geworfen, welcher Asperger zwischen 1957 und 1962 vorstand. Dabei wird die Zeit unter Aspergers Vorgänger Richard Priesel, dem aktuellen Wissensstand nach, beleuchtet. Mittels Berichten von ZeitzeugInnen, u. a. von Aspergers Tochter Gertrud, wird zudem versucht, einen Eindruck von Aspergers Privatleben in Tirol zu erlangen.

Als weiterer Schüler Aspergers und langjähriger Leiter des NÖ Heilpädagogischen Zentrums Hinterbrühl berichtet der Heilpädagoge Ernst Tatzer von seinen persönlichen Erfahrungen mit Asperger sowie auf der heilpädagogischen Station der Wiener Kinderklinik selbst und dem Einfluss der Heilpädagogik auf Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Pädagogik. Zudem geht er auf diverse Kritiken an „Aspergers Sichtweisen“ ein, erörtert diese unter Inkludierung persönlicher Erfahrungen und nennt zusätzlich auch eigene konkrete Kritikpunkte.

Weitere SchülerInnen und KollegInnen Aspergers geben einen Einblick in ihre diversen, persönlichen Erlebnisse mit Hans Asperger in der Zeit nach dem NS. Sie sind sich dabei einig, hinsichtlich dessen christlich-humanistischer Prägung und seines besonderen Talents im liebevollen und verständnisvollen Umgang mit den ihm als PatientInnen anvertrauten Kindern. Die von der Presse kolportierte Einschätzung Aspergers als „Nazi“ wird mit entsprechender Vehemenz entschieden abgelehnt. Diese Berichte entsprechen subjektiven Erfahrungen von ZeitzeugInnen und müssen entsprechend gelesen werden, da der zeitliche Abstand zu den geschilderten Erlebnissen bereits ein sehr großer ist und möglicherweise persönliche Interpretationen und Sichtweisen der Nacherzählung eine gewisse Rolle spielen könnten.

Ein Zeitzeugenbericht anderer Art ist der Beitrag von Ulrich Reinthaller, der 1975 als Patient auf der heilpädagogischen Station aufgenommen war. Zum ersten Mal schildert ein Betroffener detailliert, wie er den Alltag auf der Station wahrnahm: als lieblos und verständnislos. Diese Perspektive eröffnet den Blick auf die zeitgenössische „andere“ Seite der Heilpädagogik: jene, die von HeilpädagogInnen nicht erlebt, sondern beurteilt wurde. Zu dieser Zeit war Asperger bereits Klinikdirektor und Paul Kuszen der stationsführende Oberarzt.

Es handelt sich bei diesem Beitrag um einen Erfahrungsbericht aus Patientenperspektive, welcher in seiner Individualität einzigartig ist, im größeren Zusammenhang aber sicherlich für zahlreiche Erfahrungen von ehemaligen PatientInnen steht. Wir bitten zu berücksichtigen, dass der Autor nicht für Korrespondenz zur Verfügung steht. Bei Fragen hinsichtlich dieses Beitrages ersuchen wir, Ina Friedmann zu kontaktieren.

Für den Medizinhistoriker Heiner Fangerau steht die Rekonstruktion des Handelns (und der Handlungsspielräume) Aspergers im Mittelpunkt des Bemühens zu verstehen, wie sich Aspergers Denken und Handeln in die Geschichte der NS-Medizin einfügen lassen. Letztendlich geht es dabei um das Nachvollziehen und Verstehen bis heute wirkender individual- und kollektivbiografischer Spannungsfelder, die sich nicht notwendig auf eindeutig identifizierbare Haupttäter konzentrieren. Für Fangerau besteht die wesentliche Herausforderung in der historischen Analyse des (Mit‑)Wirkens, (Mit‑)Handelns und (Mit‑)Denkens ärztlicher Kollektive und Einzelpersonen im NS, mit dem Ziel, die Komplexität der Beteiligung von Individuen und Kollektiven an den NS-Verbrechen so darzustellen, dass sie im Kontext erfassbar werden.

Daraus ergibt sich eine Perspektivenerweiterung, die nicht dem Ziel selbstgefälliger Nachkriegsgenerationen dienen soll und darf, sich durch moralisierende Rückschau selbst zu überhöhen, sondern vielmehr dazu beitragen kann zu verstehen, wie Personen, die von ZeitzeugInnen als gebildete, geachtete, liebenswerte und humanistische Personen geschildert wurden, im NS durch ihr Handeln oder Tolerieren wirkten und damit der Politik dieses Staates Vorschub leisteten.

Der Kinder- und Jugendpsychiater Ernst Berger, der während seines Medizinstudiums 1967 Hans Aspergers Vorlesung zur Kinderheilkunde hörte, sieht aus den Beiträgen des vorliegenden Heftes zwei zentrale Fragen hervortreten: (1) In welchen Bereichen gibt es Überschneidungen zwischen den Positionen Aspergers und der NS-Ideologie? (2) Wie ist der Wissensstand Aspergers zur Ermordung von Kindern zum Zeitpunkt der Verlegungsentscheidungen an den Spiegelgrund zu beurteilen?

Für Berger ist unzweifelhaft, dass sich Asperger in Übereinstimmung mit biologistischen Positionen seiner Zeit befand, und dass er im Grundsatz auch dem pädagogischen Prinzip der Auslese nach dem Kalkül der „Aufwandswürdigkeit“ anhing. Zwar hätten seine persönlichen Überzeugungen einigen Positionen der NS-Ideologie, auch der systematischen Krankentötung, wohl ferngestanden, gleichwohl hätte er die Tötung schwer behinderter Kinder – vermutlich wissentlich – in Kauf genommen. Asperger sei kein Nationalsozialist gewesen, er habe aber eben auch nicht auf der Seite des Widerstandes gestanden, den es auch im katholischen Lager gegeben hätte. Mit seiner Anpassungsbereitschaft, so Berger, stünde er in einer Reihe mit zahlreichen anderen Wissenschaftlern seiner Zeit.

Die HerausgeberInnen möchten sich an dieser Stelle bei allen AutorInnen für deren Mühe bei der Manuskripterstellung und die teilweise enorm aufwendigen Recherchen bedanken. Erst dadurch konnte dieses Sonderheft zustande kommen.

Zudem möchten wir betonen, dass es nicht Absicht dieses Sonderheftes ist, ein Urteil über die Tätigkeiten Aspergers während des NS-Regimes zu fällen. Vielmehr soll der kritischen Leserschaft mittels der unterschiedlichen Beiträge ermöglicht werden, sich ein eigenes Bild der Person Aspergers zu bilden.

Wir hoffen, dass diese Darstellung verschiedener Aspekte zu Hans Asperger das Interesse einer breiten Leserschaft finden wird.