„Der Bub braucht eine Milieu-Änderung“

Es war im September 1975, damals war ich gerade 11 Jahre alt geworden, als mein Vater mich in die heilpädagogische Abteilung der Wiener Universitätskinderklinik brachte. Wie es dazu kam? Bei uns zu Hause gab es viel Streit, besonders die Eltern haben sich oft gezankt, das hat mich sehr belastet. Und ich hatte ein großes Gerechtigkeitsgefühl. Ich konnte mit Zwist oder Ungerechtigkeiten, die beispielsweise in der Schule an Mitschülern verübt wurden, nicht umgehen. Und so habe ich eines Tages in der Früh’ gesagt: „Das kann nicht so weitergehen. Da gehe ich nicht mehr hin.“ Ich bin zu Hause geblieben. Und als ich am dritten Tag immer noch nicht in die Schule wollte, hat mich mein Vater an der Hand genommen und in die Kinderklinik gebracht.

Und da war ich auch schon weg. Das ist schnell gegangen. Es gab ein kurzes Gespräch zwischen Hans Asperger, meinem Vater und mir – wobei Asperger nicht wirklich mit mir gesprochen hat, das Gespräch ging über meinen Kopf hinweg. Schließlich musste ich allein vor der Tür warten, während die beiden sich noch eine Weile unterhielten. Danach hieß es, ich müsse gleich dableiben. Und ab da hat keiner mehr mit mir geredet. Ich blieb in der geschlossenen Anstalt zurück. Der Vorgang hieß „Milieu-Änderung“, das habe ich noch mitbekommen: es hieß: „Der Bub braucht eine Milieu-Änderung“.

Wie Tiere in einem Zwinger

Die Klinik, in der ich bleiben musste, war eine vollkommen geschlossene Anstalt, es gab kein Kommen und Gehen, die Türen zum Ausgang waren versperrt. Man hat mir keine Auskunft darüber gegeben, warum ich hierbleiben muss. Man hat mir nicht geantwortet, auf die Frage, wie lange es dauern wird. Nur eines hat man mir unmissverständlich klar gemacht: Ich darf ab sofort keinen Kontakt mehr zu meiner Familie haben. Und meine Familie keinen Kontakt mehr zu mir. Dass ich von einem Moment auf den anderen geschnappt und weggesperrt werde, dass jeder Kontakt zur Außenwelt radikal gekappt wird und ich völlig isoliert werde, das war für mich, in meiner Welt, völlig überraschend, gänzlich unverständlich und ein ungeheurer Schock.

Das Schlimme war, dass ich damals schon so viel mit vollem Bewusstsein mitgekriegt habe. Ich habe mit meinen 10, 11 Jahren viel gelesen, v. a. Erwachsenenliteratur. Das letzte Buch, das ich im Sommer vor meiner Einlieferung in die Kinderklinik gelesen hatte, war Archipel Gulag, es handelt davon, wie Alexander Solschenizyn in ein Straflager gesperrt wurde. Für mich schien es nun, als wäre ich in der gleichen Situation: Du wirst verhaftet, die Türen werden zugesperrt, keiner sagt dir, was los ist.

Ich wurde im Keller der Anstalt eingeschult. Der Lehrer hieß Dr. Brinskele [Anm d. Autors: Schreibweise unsicher], das weiß ich noch. Auch dort in der Schule habe ich gefragt, wie lange ich bleiben muss, und auch dort habe ich keine Antwort bekommen. Immer nur: „Das wissen wir nicht.“ Ich habe fantasiert, dass ich vielleicht bleiben müsse, bis ich 18 sein würde – also eine gefühlte Ewigkeit.

Die Station selbst kann man sich wie eine Irrenanstalt aus einem Film über das Jahr 1900 vorstellen. Da gab es Netzgitterbetten – ich war nicht in so einem Ding, aber neben mir war ein Junge in einem Netzgitterbettkäfig, den habe ich gefragt: „Warum bist du hier?“, und er sagte: „Ich lüge immer.“ Später habe ich ihn einmal gefragt: „Vermisst du deine Eltern nicht?“ Darauf hat er gesagt: „Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nicht mehr, wie sie ausschauen.“ „Weißt du denn noch, wie deine Eltern aussehen?“, hat er mich einmal gefragt, und ich war froh, dass ich es noch genau wusste.

Die allerlängste Zeit des Tages waren wir uns allein überlassen

Es gab da keine Kinder auf der Station, deren Verhalten eine besondere Auffälligkeit aufwies. Keines der Kinder hatte einen krassen Tick, keines schien so, als müsse man sich vor ihm ängstigen, keines zeigte irgendwelche abnormen Reaktionen. Es war auch niemand da, der sich mit uns tagsüber beschäftigt hätte, mit Ausnahme von stundenweisen Abholungen zu den Weißkitteln. Die allerlängste Zeit des Tages waren wir uns allein überlassen. Überwacht, aber eher wie Tiere in einem Zwinger als Kinder in einer Heilanstalt.

Links von mir, zwei Betten weiter, da war ein Junge, der war Bettnässer und deshalb in die Anstalt eingewiesen worden. In einem anderen Netzgitterbett lag der damals 3‑jährige Hagen. Ich habe mir kaum Namen gemerkt, aber seinen schon, weil es so schrecklich war, was mit ihm dort in der Klink passiert ist. Dieser Bub hat immer wieder nach seiner Mama zu schreien begonnen, und dann hat man gesagt: „Wenn du nicht aufhörst, wirst du weggesperrt.“ Natürlich hat er nicht aufgehört. Ich weiß auch noch den Namen der Schwester, Schwester Edith, die drohte: „Dann kommst du ins Dunkelzimmer.“ Der kleine Bub hat weiter erbärmlich nach seiner Mama geschrien, und alles, was er zu hören bekam, war: „Die Mama kommt dich so oder so nicht holen, was glaubst du, warum du da bist?“ Und so hat er weitergeschrien, er konnte das alles ja nicht verstehen. Und dann ist er abends, nicht nur einmal, sondern immer wieder, in ein stockdunkles Zimmer direkt neben der Schwesternloge gebracht worden, man hat dort die Rollos heruntergelassen, und die waren dicht. Hagen hat die ganze Nacht in Angst und Verzweiflung durchgebrüllt.

Ich habe mir damals geschworen: Das darfst du nicht vergessen, für den Fall, dass du hier jemals wieder rauskommst. Du musst es dir merken. Und tatsächlich habe ich bis heute eine sehr genaue Erinnerung daran, was da alles vorgefallen ist. Die Situationen bleiben in meinem Gedächtnis abrufbar, oder richtiger, sie rufen mich bis heute regelmäßig an.

Ich schätze, dass in meinem Stockwerk 30 Jungen waren. Ich war einer der ältesten, die meisten waren jünger als ich, älter als 12 oder 13 war niemand.

Außenmessungen meiner Verstandesleistung

Jeden Tag in der Früh ist irgendjemand gekommen, ich kann mich aber ganz besonders an OA Dr. Paul Kuszen erinnern; er kam öfter, war mir offenbar zugeteilt. Ein ausgeprägt unfreundlicher Mann, von dem in meinem Klinikbericht auch die Bemerkung stammt (Rechtschreibung und Satzbau sic): „Wenn er sich den Anforderungen mit weinen und raunzen und nicht können beteuernd zu entziehen versucht, muß man ihn etwas härter anpacken, dann hört er zu weinen auf und setzt doch sein Denken etwas williger ein. Es gelang aber nur sehr mühsam, seine Arbeitseinstellung zu bessern.“ Ansonsten kamen immer wieder neue Ärzte und Ärztinnen, die sich die Klinke in die Hand gaben und niemals lächelten, mir auf meine flehentlich immer gleichen Fragen, wann ich heim dürfte, keine Erklärungen gaben, keinen Trost spendeten.

Durch Intelligenztestungen seelische Probleme diagnostizieren zu wollen, kam einer Kränkung gleich

Man hat versucht, mich Mathematikaufgaben lösen zu lassen, was dezidiert ein aussichtsloses Unterfangen war, so gelähmt war ich durch den Gefängniston, der dort herrschte. Menschen in weißen Kitteln haben Tests mit mir gemacht, mit der Stoppuhr in der Hand ließen sie mich Rauten und Vierecke auseinandersortieren, sie prüften, wie rasch ich bestimmte Buchstaben in einem Text ausfindig machen kann, führten Protokolle darüber, wie ich die Tiere eines Bauernhofes auf einem Brett in Beziehung stelle. Ich wusste genau: Wie auch immer ich die Figuren setze, welche Geschichte auch immer ich dazu erzähle, man wird, rein aus der Beobachtung meiner Handlungen, einen Schluss über meine psychische Beschaffenheit ziehen. Wozu sollte ich da mitspielen? Wozu das Ganze, wenn keiner mit mir spricht? Mir entging auch nicht die Kränkung, die in den Versuchen lag, ausgerechnet durch Intelligenztestungen zu einer Diagnose meiner seelischen Probleme kommen zu wollen. Ich fühlte mich bei alledem wie ein Tier in einem Schaugehege, das unter kaltblütiger Beobachtung stand. Und ich habe mich gewehrt: durch Stummschalten und Nichtkooperation, was mir unter diesen Umständen erst einmal als das einzig richtige Verhalten erschien.

Wir sind jeden Tag für zwei, drei Stunden in die Schule im Keller geschickt worden. Unterrichtet hat v. a. Dr. Brinskele, ein-, zweimal waren auch noch andere Lehrer da, an die ich mich nur dunkel erinnern kann. Man hatte mir meine Schulsachen vom Gymnasium geschickt, aber in der Klinikschule wurden ganz andere Dinge unterrichtet. Das bedeutete, ich war nicht auf demselben Stand wie die anderen. Ich konnte daher dem Stoff nicht folgen, was meine Vereinsamung noch verstärkte. Niemanden schienen diese einfachsten Dinge zu interessieren.

Kurz nach der Kasernierung in diesen Ganztagesalbtraum spürte ich mich bei vollem Bewusstsein in eine seelische Umnachtung fallen, die ausweglos und unauflöslich schien. Meine Gedanken kreisten nur mehr um die Fragen: Was mache ich jetzt? Wie komme ich hier wieder raus? Wie kann ich erklären, dass das alles ein Irrtum ist, und dass ich wieder nach Hause möchte? Meinen Eltern konnte ich das alles nicht mitteilen. Ich konnte zwar Briefe schreiben, aber man hatte mir gesagt: Die werden geöffnet und dann an meine Eltern übergeben. Die Briefe, die von außen kamen, wurden mir bereits geöffnet überreicht. Ich dachte mir also, es hat überhaupt keinen Sinn, einen Brief zu schreiben, weil ich ja nichts anderes als „bitte holt mich hier raus“ schreiben könnte. Und mein Kinderkopf wusste, dass ich das nicht schreiben kann, das werden sie meinen Eltern nicht geben. Vielleicht hätten sie es ihnen sogar gegeben, aber damals meinte ich zu wissen, dass es sinnlos war. So dachte mein 11-jähriges Nick-Knatterton-Detektivhirn.

Einmal habe ich gefragt: Wie viel kostet das hier? Und man hat mir gesagt: „2000 Schilling am Tag“. Da habe ich zu weinen begonnen und gesagt: „Ich möchte nicht, dass das meine Eltern bezahlen müssen.“ So hohe Kosten waren für mich unfassbar. Ich habe die Tage meines Aufenthalts mit den täglichen Kosten multipliziert und gedacht: Ich stürze meine Eltern ins Unglück, ich bin verantwortlich für ihren Ruin. Ich habe mich so geschämt.

Das Beschämen hatte durchaus System: Es spiegelt sich auch in der Krankengeschichte von damals, die mir vorliegt. Dieser Beschreibung mangelt jegliche Empathie. Alles an mir wurde da kategorisiert. „Körperlich neuropathischer Habitus, psychisch bei zumindest gut durchschnittlicher Intelligenz, sicher ein sehr sensibles, überdifferenziertes Kind, hat aber gelernt, mit schwächlichen Affektausbrüchen sich den Leistungen zu entziehen bzw. die Familie damit zu tyrannisieren.“, so steht es wörtlich in meiner Klinikakte. Haltloses Heimweh und verzweifeltes Weinen wurden als Strategie „entlarvt“; Sensibilität wurde beleidigt und entwertet.

Und immer wieder im Wochenprogramm: Außenmessungen meiner Verstandesleistung, ähnlich wie bei einem Auto; hier wird der Luftdruck gemessen und da der Ölstand und da die Bremskraft. Rein ins Zimmer, Stoppuhr, Fragebogen, raus aus dem Zimmer. Keine Gespräche, keine echten Fragen. Auf meine flehenden Bitten keine Auskunft darüber, was sie mit mir vorhaben, wie die Zukunft ausschaut, was sie glauben, was mir fehlt. Nichts davon.

Bemerkt habe ich, dass sich Asperger immer wieder mit dem Oberarzt Kuszen ausgetauscht hat, am Gang, in aller Kürze. Und Kuszen hat dann mit mir öfter Mathematikaufgaben gemacht und mich dabei wie ein ungeduldiger Nachhilfelehrer angeherrscht: „Konzentrier dich!“ Wie bei Der Schüler Gerber. Und noch einmal: „Konzentrier dich! Was ist los?“

„Law and order“

Ja, was war da los? Das also sollte die moderne und neueste Heilanstalt für Kinder sein, der Ort der Wahl für Kinder mit seelischen Belastungen, vielerorts ehrfürchtig genannt, in einer angeblich aufgeklärten Gesellschaft in den 1970er-Jahren: die heilpädagogische Abteilung in Wien, in einem nagelneuen Gebäude mit erbsenminzgrüner Zimmerfarbe, die noch heute Übelkeit bei mir auslöst, wenn ich sie irgendwo wahrnehme.

Jede meiner Regungen wurde roboterhaft entseelt gegen mich verwendet

Doch wo war ich eigentlich? Ich war, um präzise zu sein, in einer versperrten Kinderaufbewahrungsstätte, in der ich zu essen bekommen habe, und manchmal ist von außen jemand gekommen, der das Kind, also mich, durch die Lupe betrachtet hat, als wäre ich ein Insekt. Dieses Gefühl, dass jede meiner Regungen penibel beobachtet, protokolliert und roboterhaft entseelt gegen mich verwendet wird, ist ein Albtraum, der mich bis heute verfolgt.

Ich gehe davon aus, dass es tausende Betroffene gibt, die das so erlebt haben, sie alle sind heute in meinem Alter. Das muss Spuren hinterlassen haben, das prägt eine Gesellschaft, das ist keine Kleinigkeit.

Es gab nur eine Ausnahmeerscheinung in Sachen Menschlichkeit auf dieser Station: Schwester Renate. Sie hat mich, sobald alle anderen weg waren, um halb zehn in der Nacht, wenn ich nicht schlafen konnte und vor Weinen kaum noch Luft bekam – und das war jede Nacht – zu sich in die Schwesternloge genommen. Sie war der einzige Mensch, der mir manchmal seinen Arm auf meine Schulter gelegt und Trost gespendet hat: „Sei nicht traurig, du kommst sicher bald wieder heim.“ Dann habe ich noch mehr geweint, weil ich spürte, wie einfach es doch wäre, zu einem Menschen freundlich zu sein, und weil das Einfache an diesem Ort niemand vermochte bis auf sie. Ich habe diese Schwester geliebt, sehnte mich nach ihrer seltenen Diensteinteilung auf meiner Station. Sie war ein Fels in der Brandung, sie hat gemerkt, dieser Junge ist völlig normal, und das hier tut ihm nicht gut, nein, niemandem kann das hier guttun.

Alle anderen Schwestern sprachen zu uns in einem robust-autoritären Erziehungsjargon, kaltherzig, schroff und gefühllos, wie ein Ensemble aus Einer flog übers Kuckucksnest. Es hatte Methode. Einmal wollte ich – ich habe ja fast nichts mehr gegessen – aber einmal, daran kann ich mich noch erinnern, hat mir ein Bratwürstel geschmeckt mit Kartoffelpüree, und da habe ich gefragt: „Darf ich noch ein Kartoffelpüree haben?“ Darauf hat die Schwester mit schneidender Stimme gesagt: „Nein! Wir sind hier nicht in einer Mastanstalt.“ Ich habe mir immer wieder gedacht: Das gibt es doch nicht, die müssten doch hier in irgendeiner Weise wissen, wie sie mit uns umgehen sollen, sich hinsetzen und mit uns reden. Haben die das nicht extra gelernt? Nichts davon. Kinder, besonders seelisch belastete Kinder, brauchen doch v. a. Zuwendung und Liebe, aber doch nicht Aufsichtspersonal, das nichts anderes tut, als Nahrung zu verteilen und in der Früh’ das Licht ein- und am Abend ausschalten.

Besonders arg war es, wenn ich in der Nacht aus Träumen von zu Hause erwacht bin und gemerkt habe, ich bin immer noch in der geschlossenen Klinik, allein, und nicht daheim. Um mich zu trösten, habe ich mir ein Paar Socken, die mir meine Mutter mit einem eingestickten „U“ versehen hatte, unter den Kopfpolster gesteckt. In Ermangelung von Besuchen war das für mich ein geheimes Zeichen: Ich habe noch eine Zugehörigkeit, es gibt mich noch für meine Mutter, sie ist bei mir. Aber das Personal hat das immer wieder entdeckt und darauf scharf reagiert: „Gib her die Socken! Wegen der Socken weinst du so, du störst die anderen Kinder, gib die Socken her.“ So war die Erziehung. Es waren Strafsanktionen für Kinder, die die Schwestern im geregelten Ablauf nicht stören sollten. Da herrschte Ordnung, Law and Order, eine alles maßregelnde Härte.

Wie schlecht ich auf diese Härte reagierte, kommt auch immer wieder im vorliegenden Bericht des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) vor, wörtlich: „In der Schulsituation versuchte er, sich bei uns mit Heimweh zu entziehen, wenn man Forderungen stellte. Er ist wie eine Mimose.“ Gemeint war: Den kriegen wir schon zugerichtet. Irgendwo im Bericht steht das Wort „Erziehung“ als Aufgabe der Klinik. Die meinten also wirklich, sie könnten mich auf diese Art „erziehen“ oder „hinkriegen“. Das Schreckliche stand für mich auch damals schon in meiner Wahrnehmung: Sie glauben, sie handeln richtig. Sie glauben, das ist es, was Kinder brauchen, um gesund zu werden. Man muss sie brechen, die Kinder und ihren Widerstand. Für mich stand die Welt Kopf, angesichts solcher Prämissen.

Beim Auftauchen Aspergers auf der Station verbreitete sich ein eisiger Lufthauch

Asperger habe ich insgesamt fünf- oder sechsmal gesehen. Er war ein hagerer Mensch mit kantigen schmalen Gesichtszügen, stets in weißem Kittel. Er war sozusagen der Spitzenmanager dieser Anstalt, der alles befehligte, der manchmal prüfend die Gänge abschritt, eine unheimliche „graue Eminenz“. Ich empfand sein Auftauchen immer wie einen eisigen Lufthauch. Am Gang hat er mir im Vorbeigehen oft den Kopf getätschelt, als ob ich ein Pinscher wäre, und „Na, Burschi?“ gefragt. Was hätte ich drauf antworten, welches Gespräch hätte sich daraus ergeben sollen? Ich habe „Ich möchte nach Hause“ geflüstert. Und er, ohne auf mich einzugehen: „Burschi … das wird schon wieder!“ Diese unempathisch kalte Art, dieses verharmlosende Belächeln und Betätscheln von oben, das steckt mir bis heute in den Knochen.

Einmal bin ich vormittags gerade wieder in die Schule im Keller gebracht worden. Da habe ich plötzlich am Gang, als Silhouette von draußen, im Gegenlicht, meine Mutter erkannt. Sie hatte vermutlich bei der Klinikleitung Schulsachen oder Kleider für mich abgeben sollen und war nun ausgerechnet in dem Moment in die Klinik gekommen, als ich gerade in den Keller geführt wurde. Ich habe sie als Schattenriss erkannt und gebrüllt: „Mutti, Mutti, hol mich hier raus, das stimmt hier alles nicht!!“ Sofort sind ein paar weißgewandete Pfleger auf mich zugestürzt und haben mich an allen Gliedmaßen, brüllend – meine Mutter war 20 oder 10 m entfernt – die Treppe hinunter in die Schule geschleift und dort die Tür zugesperrt. Ich weiß noch, wie meine Mutter erstarrt ist, wie eine Salzsäule, aber sie hat sich fügsam an das gehalten, was ihr die Klinik empfohlen hatte, nämlich: kein Kontakt zwischen Eltern und dem Kind. Sie ist geduckt davongegangen und war so schnell weg, wie sie mir „erschienen“ war.

Der Tagesablauf: Draußen war es noch finster, um halb sechs Uhr früh hieß es: „Aufstehen, Zähne putzen!“ Warum? Weil die Nachtschicht der Schwestern um sechs geendet hat. Frühstück gab’s erst zwischen halb acht und acht. Das bedeutete: Alle mussten sich nach dem Zähneputzen wieder für zwei Stunden ins Bett legen, das Licht wurde wieder abgedreht, bis das Frühstück kam. Das galt auch für die Kinder, die 3, 4 Jahre alt waren! Vielleicht werden Strafgefangene so schikanös behandelt, aber ich war kein Strafgefangener, ich war ein Kind, das ein seelisches Problem hatte, und dieses Problem wurde durch solche Drills täglich verschlimmert. Man hat versucht, mich im Umgang mental und seelisch zu brechen. So etwas wie eine Behandlung, psychotherapeutische Behandlung, das gab es nicht.

Der Nachmittag in der Klinik hat dann keine für mich erkennbare Struktur mehr gehabt. Wir waren in den Spielräumen, da gab es Spielzeug für Fünf- bis Achtjährige und Bücher für Kleinkinder, Bärli-Hupf, und so Sachen. Ich war 11 Jahre alt, in den Akten mit dem Vermerk „Intellektuell ist er wohl ganz begabt, aber er entzieht sich seinen Aufgaben“ bedacht. Ich weiß bis heute nicht, was „meine Aufgaben“ sein hätten sollen. Wäre es meine Aufgabe gewesen, meine Intelligenzkraft unter Beweis zu stellen oder gar meine Kooperationswilligkeit, während mich ein Arzt mit kaltem Blick und Stoppuhr vermisst?

Den Akten ist ein Foto von mir angefügt, das sieht sehr traurig aus. Im Protokoll steht wörtlich: „Die Beobachtung ergab: körperlich deutlich neuropathische facies. ‚große‘, weit aufgerissene Augen. (weite Lidspalten). Gegenüber dem Hirnschädel klein wirkendes Untergesicht. Eher zartes, kleines Gesicht. Schlaffe Mimik, intern und neurologisch ohne Befund. Noch keinerlei Pubertätszeichen, vegetative Labilität, leptosomer Körperbau. Die erste Zeit an der Station war er ständig weinerlich, raunzte, wollte nachhause gehen. Erst als er hörte, dass die Hauseinweihung – die Eltern haben sich ein Wochenendhaus gekauft – verschoben wurde, wurde er heiter und ruhig.“

Raunzen war die Umschreibung von: Ich habe den ganzen Tag geweint und mantraartig gesagt: Ich möchte nach Hause, meine Eltern sollen mich besuchen, ich möchte wenigstens mit ihnen telefonieren. Aber das alles war ja strengstens verboten. Und da habe ich mir gesagt: Ich muss jetzt ganz ruhig werden, ich muss mich ab jetzt unauffällig verhalten, ich muss so tun, als ob ich kooperieren würde, weil dann komme ich vielleicht raus, wegen guter Führung oder so etwas.

Das Ende des Aufenthalts

Das Ende des Aufenthalts kam so überraschend wie die Einweisung: Ich hörte nur, dass ich heute wieder abgeholt würde. Ich hatte vorher nichts verstanden, ich habe nachher nichts verstanden. Nichts machte Sinn. Niemand sprach mit mir, weder vor der Einweisung noch vor der Entlassung.

Weil ich bei den Intelligenztests, die in der Klinik mit mir gemacht wurden, völlig versagt hatte, riet man meinen Eltern, mich besser in eine Hauptschule zu geben. So wurde ich im November im Hauptschulzweig bei den Schulbrüdern eingeschult, dort bekam ich am Jahresende ein Vorzugszeugnis, und so bin ich im neuen Schuljahr wieder in mein altes Gymnasium gekommen. Dort bin ich dann allerdings mit einer Art renitenten Verhaltens, mit einem verstärkten Ich-lass-mir-von-niemandem-mehr-was-sagen auffällig geworden. Bis zur Matura hätte ich es mit Sicherheit in diesem Umfeld nicht geschafft. Mein Glück war, wegen meines Schauspieltalents mit 16 Jahren an die Universität für Musik und darstellende Kunst, ins Reinhardt-Seminar, aufgenommen worden zu sein, und so war ich auf die Matura nicht mehr angewiesen.

Ich bin, so betrachtet, noch einmal gut davongekommen, aber ich denke mir, viele, viele andere, mit denen wird es wohl bergab gegangen sein. Sie reden nicht darüber, sind zurückgezogen, glauben vielleicht bis heute, es sei ihnen recht geschehen. Oder sie sind beschämt bis heute, glauben nicht, dass man ihnen glauben wird, und finden den Mut nicht, von ihren Erlebnissen zu berichten.

Die 5 Wochen auf der Station bedeuteten den Sturz in einen unbeschreiblichen Abgrund

Ich selbst habe jahrzehntelang meine Erlebnisse unter Verschluss gehalten, habe mit niemandem darüber gesprochen, wie schlimm sie waren, diese 5 Wochen, die für mich den Sturz in einen unbeschreiblichen Abgrund bedeuteten.

Ich war ein Kind, das nicht in die Schule gehen wollte, weil es sich ungerecht behandelt fühlte. Ich wurde deshalb in eine geschlossene staatliche Anstalt gesteckt. Und meine Eltern haben dieses Vorgehen unterstützt. Mein Vater ist Jahrgang 1926, wurde also im Krieg als Sechszehnjähriger eingezogen. Obwohl er sich selbst eher als widerständig bezeichnet hätte, war er doch Kind seiner Zeit und im Unterwerfungsmechanismus gegenüber Obrigkeiten, Behörden, Professoren, Priestern und Ärzten aufgewachsen. „Geben wir es einem Experten“, das war damals State of the Art, ungeachtet, ob es sich um defekte Dinge handelte oder um Kinder.

Schlussbemerkungen

Auch wenn es nur eine, nur meine persönliche Geschichte ist, habe ich mich entschlossen, sie nun nach 45 Jahren zu veröffentlichen. Denn das, was mir in der heilpädagogischen Abteilung im AKH der Stadt Wien 1975 widerfahren ist, konnte nur im Schlepptau einer Erziehungsideologie funktionieren, die von Personen wie Hans Asperger propagiert und – unter allgemeiner Akklamation – in den von ihnen geleiteten Institutionen exerziert wurde.