Anamnese

Ein 9 Jahre alter Junge wurde nach akut ischämischem Schlaganfall aus einer peripheren Klinik auf die Pediatric Stroke Unit des Dr. von Haunerschen Kinderspitals verlegt. Drei Tage vor Aufnahme sei ihm während des Schwimmens „das linke Bein schwer geworden“. Dies habe für einige Minuten angehalten. Am Tag der Aufnahme kam es auf dem morgendlichen Schulweg zu einer Parese des linken Beines, woraufhin Passanten den Rettungsdienst verständigten und der Patient ins örtliche Klinikum gebracht wurde. Dort entwickelten sich während der Aufnahmeuntersuchung eine komplette linksseitige Hemiparese und zusätzlich eine Dysarthrie. Diese Symptome hielten ca. 1 min an.

Die Anamnese erbrachte keine relevanten Vorerkrankungen. Die Familienanamnese bezüglich thrombembolischer oder kardiovaskulärer Ereignisse war unauffällig. An Impfungen sei eine Grundimmunisierung erfolgt. Eine Masern‑/Mumps‑/Röteln- sowie Varizellenimpfung seien bislang nicht vorgenommen worden. Der Patient sei vor ca. 8 Monaten gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder an Varizellen erkrankt.

Diagnostik

Die initiale bildgebende cMRT zeigte einen akut ischämischen Infarkt im okzipitalen Teil des rechtsseitigen Putamens. Im EEG fand sich passend dazu eine rechtsseitige parietookzipitale Verlangsamung. Eine transkranielle Duplexsonographie ergab eine erhöhte Flussgeschwindigkeit in der rechtsseitigen A. cerebri media. In der MR-Angiographie stellte sich ein gering reduziertes Kaliber der rechten A. cerebri media (Abb. 1) dar. Eine Echokardiographie erbrachte einen Normalbefund, insbesondere keinen Hinweis auf eine Endokarditis oder ein offenes Foramen ovale. Im EKG wurden keine Herzrhythmusstörungen beobachtet. Laborresultate im Verlauf der ersten Tage zeigten keinen Hinweis auf eine Vaskulitis, eine metabolische Erkrankung und im weiteren Verlauf auch keine Hinweise auf eine Gerinnungsstörung. Eine serologische Untersuchung auf Borrelien verlief negativ.

Abb. 1
figure 1

Time-of-flight-MR-Angiographie. Leicht reduziertes Kaliber der rechtsseitigen A. cerebri media (Pfeil). (Mit freundl. Genehmigung, © Prof. Dr. A. Aschoff; alle Rechte vorbehalten)

Therapie und Verlauf

In der peripheren Klinik wurde initial eine thrombozytenaggregationshemmende Therapie mit Acetylsalicylsäure (ASS) begonnen, die nach 2 Tagen und Rücksprache mit den Kollegen der Hämostaseologie des Dr. von Haunerschen Kinderspitals zur Durchführung einer diagnostischen Lumbalpunktion auf Enoxaparin (täglich 1 mg/kgKG s.c.) umgestellt wurde. Zu weiterer Therapie und Diagnostik wurde der Patient 4 Tage nach Aufnahme in der peripheren Klinik in die hiesige Klinik überwiesen.

Bei Aufnahme wurden in der klinischen Untersuchung keine Auffälligkeiten festgestellt. Insbesondere die neurologische Untersuchung war blande. Aufgrund des klinischen Verlaufs und der auswärtig erstellten bildmorphologischen Befunde wurde zu diesem Zeitpunkt eine fokale Vaskulitis als die wahrscheinlichste Differenzialdiagnose erachtet sowie eine Stoßtherapie mit Methylprednisolon (täglich 20 mg/kgKG i.v.) über 3 Tage durch- und die Therapie mit Enoxaparin fortgeführt. In einer cMRT-Verlaufskontrolle nach 3 Tagen stellte sich ein frischer, klinisch stummer Infarkt im Bereich des rechtsseitigen Nucleus caudatus dar (Abb. 2). Bei weiterhin unklarer Ätiologie wurde die Therapie daraufhin um intravenöse Immunglobuline (IVIG; 2 g/kgKG über 3 Tage) ergänzt. Da der Patient in der zuverlegenden Klinik anfangs eine Thrombozytenaggregationshemmung mit ASS erhalten hatte, wurde, um ein mögliches Blutungsrisiko zu minimieren, eine diagnostische Lumbalpunktion erst nach 4 Tagen durchgeführt.

Abb. 2
figure 2

MRT-Aufnahmen. a Diffusionsgewichtete Sequenz: erhöhte Signalintensität im Bereich des Corpus nuclei caudati und z. T. des Caput nuclei caudati der rechten Seite; b Volumetric-isotropic-turbo-spin-echo-acquisition-Sequenz: netzartige Kontrastmittelaufnahme entlang kleiner Perforatoren. (Mit freundl. Genehmigung, © Dr. B. Kammer; alle Rechte vorbehalten)

In der Nacht danach entwickelte der Patient erneut eine komplette Hemiparese, einschließlich fazialer Parese, mit über mehrere Stunden fluktuierender Symptomatik. Im notfallmäßig durchgeführten cMRT zeigten sich eine weitere frische Ischämie im Bereich des bereits in der initialen bildgebenden Untersuchung betroffenen hinteren Teils des rechtsseitigen Putamens sowie eine frische Hämorrhagisierung im Bereich des subakuten Infarkts im rechtsseitigen Caput nuclei caudati (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Diffusionsgewichtete Sequenz im MRT. Frische Ischämie im Bereich des okzipitalen Teils des rechtsseitigen Putamens (dort bereits vorbestehender Defekt). (Mit freundl. Genehmigung, © Dr. B. Kammer, alle Rechte vorbehalten)

Wie lautet Ihre Diagnose?

Am Morgen danach erhielten die behandelnden Ärzte das positive Ergebnis der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) zum Varizella-Zoster-Virus-Nachweis (FilmArray® Meningitis/Encephalitis Panel; Fa. Biomérieux, Nürtingen) im Liquor. Daraufhin wurde eine antivirale i.v.-Therapie mit Aciclovir (täglich 3‑mal 15 mg/kgKG) begonnen. Zwei Tage später wurde der Befund mitgeteilt, dass ein erhöhter Antikörper-Index für VZV- IgG im Liquor und somit eine intrathekale VZV-IgG-Synthese nachweisbar waren. Die neurologische Symptomatik bildete sich innerhalb der beiden folgenden Tage fast vollständig zurück.

Diskussion

Varizella-Zoster-Virus

Das Varizella-Zoster-Virus (VZV) ist ein Virus aus der Gruppe der α-Herpesviridae, wie HSV-1 und 2 (Herpes-simplex-Virus). Der Mensch ist der einzige Wirt des Virus, weshalb es experimentell schwierig zu untersuchen ist. Das Genom besteht aus Doppelstrang-DNA. Als Primärinfektion verursacht das Virus Windpocken; bei Reaktivierung kommt es zu einem Herpes zoster. Das Virus tritt über lymphatisches Gewebe im Nasen-Rachen-Raum in den Körper ein und wird dort von T‑Zellen aufgenommen. Anschließend gelangt es über eine T‑Zell-Virämie zur Haut; hier kommt es nach einer Inkubationszeit von durchschnittlich 14 Tagen zum typischen Windpockenexanthem. Daraufhin wird das Virus über einen retrograden Transport entlang der sensorischen Nervenendigungen in der Haut zu Spinalganglien und Hirnnervenganglien geschleust und tritt in ein Stadium der Latenz ein. Bei nachlassender T‑Zell-Immunität im Alter oder bei Immunsuppression kann eine Reaktivierung stattfinden und das Virus per anterogradem Transport entlang der sensorischen Nervenfasern zur Haut transportiert werden. Dort verursacht es dann das typische dermatombezogene Herpes-zoster-Exanthem [1].

Varizella-Zoster-Virus-Vaskulopathie

Ätiologie

Parainfektiöse Arteriopathien spielen in der Ätiologie des Schlaganfalls im Kindesalter eine wichtige Rolle. Die Postvarizellenvaskulopathie stellt die bekannteste Entität dar [2, 3]. Aufgrund von immunhistologischen Untersuchungen wird von einer durch den VZV bedingten Inflammationsreaktion der Gefäßwand mit Einwanderung von Entzündungszellen und konsekutiver Intimaproliferation ausgegangen. Diese Schwellung der Gefäßwand führt zur Verengung oder zum Verschluss der betroffenen Gefäße, wodurch die entsprechende neurologische Symptomatik ausgelöst wird [4].

Epidemiologie

Seit Einführung der Varizellenimpfung im Jahr 2004 in Deutschland ist die Varizelleninzidenz deutlich zurückgegangen. Im Jahr 2016 gab es laut Robert Koch-Institut in ganz Deutschland ca. 25.000 Varizellenfälle. Neurologische Komplikationen, die zu Hospitalisierungen führten, kamen laut einer deutschen Studie vor Einführung der Varizellenimpfung in ca. 0,05 % der Fälle vor. Zu den häufigsten neurologischen Komplikationen der akuten Windpockeninfektion zählte die Varizellenzerebellitis, gefolgt von der Enzephalitis [5]. Zur Inzidenz der VZV-Vaskulopathie, die erst mit einer zeitlichen Latenz von Wochen bis mehreren Monaten nach der Windpockenerkrankung auftreten kann, gibt es sehr unterschiedliche Häufigkeitsangaben. In einer prospektiven Studie war das Risiko für einen akut ischämischen Infarkt im Kindesalter nach Windpockeninfektion um das Dreifache erhöht [6]. In einer retrospektiven Analyse ergab sich bei 44 % von 79 Kindern mit unilateraler zerebraler Arteriopathie eine positive Anamnese für eine Windpockenerkrankung in den letzten 12 Monaten [7].

Intervall zwischen Exanthem und Beginn der neurologischen Symptomatik

Das durchschnittliche Intervall zwischen Exanthem und Beginn der neurologischen Symptomatik beträgt in verschiedenen Studien zwischen ca. 3 und 5 Monate [6, 8]. Klinisch kann der beschriebene fluktuierende, „stotternde“, Beginn der Symptomatik ein Hinweis auf eine fokale zerebrale Arteriopathie sein.

Diagnostik

Essenzielle Teile der Diagnostik sind die bildgebende cMRT, einschließlich MR-Angiographie, sowie suffiziente Darstellung der Gefäßwände („vessel wall imaging“). Charakteristischerweise zeigt sich bildmorphologisch eine fokale zerebrale Arteriopathie. Die meist einseitig auftretende Arteriopathie betrifft die distale A. carotis interna und die proximale A. cerebri media. Ischämien im Bereich der Basalganglien, wie sie auch bei dem vorgestellten Patienten auftraten, sind daher typisch [6, 9, 10]. Die beschriebene Hämorrhagisierung bleibt ätiologisch unklar. Sie ist kein klassischer Befund einer Postvarizellenarteriopathie und als Komplikation der therapeutischen Gabe von Enoxaparin eher untypisch, wenn auch nicht vollständig ausgeschlossen.

Diagnose: Varizella-Zoster-Virus-Vaskulopathie

Eine positive Anamnese für eine Varizelleninfektion in den letzten 12 Monaten (hier 8 Monate) sollte differenzialdiagnostisch, insbesondere bei Fehlen anderer Risikofaktoren, früh an eine varizellenassoziierte Arteriopathie denken lassen. Dementsprechend sollte eine diagnostische Lumbalpunktion so früh wie möglich erfolgen. In der bislang größten Fallserie von 30 Patienten, die neben 6 pädiatrischen Patienten auch Schlaganfälle nach Herpes-zoster-Manifestation im Erwachsenenalter einschloss, lieferte eine VZV-DNA-PCR im Liquor nur bei 30 % der Patienten positive Ergebnisse; dagegen wurde bei 93 % eine intrathekale VZV-IgG-Synthese nachgewiesen [6]. In einer anderen Fallstudie gelang ebenfalls der Antikörpernachweis häufiger als der direkte Virusnachweis per PCR [10]. Daher schließt ein negativer VZV-PCR-Befund die Diagnose nicht aus.

Diagnostische Lumbalpunktion

Über Blutungskomplikation (spinale Hämatome) bei Lumbalpunktion unter therapeutischer Antikoagulation im Kindesalter wurden bislang keine Daten oder Erfahrungswerte veröffentlicht. In einer retrospektiven Studie bei Erwachsenen zeigte sich unter ASS-Therapie kein erhöhtes Blutungsrisiko bei Epidural- bzw. Spinalanästhesie [11]. Da spinale Hämatome eine seltene, aber gefürchtete Komplikation sind, muss das Nutzen-Risiko-Verhältnis im Einzelfall beurteilt werden. Eine Lumbalpunktion zur Diagnosesicherung hätte rückblickend trotz initialer ASS-Therapie bei dem vorgestellten Patienten frühzeitiger angestrebt werden sollen. Bei entsprechenden bildmorphologischen Befunden sollte die Lumbalpunktion vor dem Start einer Therapie erfolgen.

Therapie

Zur Therapie der VZV-Vaskulopathie gibt es bislang keine ausreichende Evidenz. Neben einer Antikoagulation bzw. antithrombotischen und einer antiviralen Therapie, bei entsprechendem Erregernachweis, mit Aciclovir wird der zusätzliche Nutzen einer Steroidtherapie diskutiert. Zum jetzigen Zeitpunkt fehlen dazu noch große Studien; eine retrospektive Datenerhebung erbrachte allerdings Hinweise auf einen geringen Zusatznutzen einer zusätzlichen Steroidtherapie bei Kindern mit transienter zerebraler Arteriopathie [10]. Der vorgestellte Patient wurde für insgesamt 14 Tage mit Aciclovir i.v. behandelt. Wegen der bereits erfolgten Methylprednisolonstoßtherapie wurde auf eine zusätzliche Steroidgabe verzichtetet. Für die bei dem vorgestellten Patienten zwischenzeitlich durchgeführte IVIG-Therapie gibt es keine Evidenz; ihr Einsatz war eher dem progressiven klinischen Verlauf und der zu dem Zeitpunkt noch unklaren Ätiologie geschuldet.

Therapie-Outcome

Klinisch nahm die Erkrankung des Jungen einen sehr erfreulichen Verlauf, und 10 Monate nach dem Erstereignis waren die neurologischen Untersuchungsbefunde bis auf eine sehr diskrete beinbetonte Hemiparese unauffällig. In der cMRT-Verlaufskontrolle 3 und 8 Wochen nach Beginn der Symptomatik zeigten sich keine weiteren neuen Ischämien. Eine weitere bildgebende Kontrolle 12 Monate nach dem Erstereignis zeigte einen stabilen Befund der diskreten postischämischen Veränderungen ohne Nachweis zwischenzeitlich aufgetretener neuer Ischämien.

Fazit für die Praxis

  • Bei kindlichem/juvenilem Schlaganfall sollte immer eine gezielte Anamnese bezüglich Windpocken/Herpes zoster erhoben werden.

  • Die Latenz zwischen Exanthem und Beginn der neurologischen Symptome beträgt im Durchschnitt ca. 3 bis 5 Monate (aber auch längere Latenzzeiten bis zu 12 Monaten sind beschrieben).

  • Zur Diagnosesicherung sollte neben einer bildgebenden cMRT und einer MR-Angiographie eine frühzeitige Lumbalpunktion erfolgen. Ein negativer VZV-PCR-Befund im Liquor schließt die Diagnose nicht aus. Zur Diagnosesicherung dient der Nachweis einer intrathekalen VZV-IgG-Synthese (Cave: auch keine 100 %ige Sensitivität).

  • In der bildgebenden Untersuchung können insbesondere eine Ischämie im Bereich der Basalganglien und/oder eine fokale Arteriopathie in der Gefäßdarstellung („vessel wall imaging“) wegweisend sein.

  • Bei hochgradigem klinischen Verdacht auf eine VZV-Vaskulopathie sollte eine frühzeitige Therapie mit Aciclovir erwogen werden.

  • Der Benefit einer zusätzlichen Steroidgabe wird momentan in klinischen Studien untersucht.