Das Thema „Suchterkrankungen“ ist für Kinder- und Jugendärzte kein alltägliches. Und doch kann sich im pädiatrischen Alltag jederzeit die Konfrontation damit ergeben – sowohl im niedergelassenen Bereich als auch im Krankenhaus. Deshalb sollte ein gewisses Grundwissen über Suchterkrankungen zum Repertoire der Pädiatrie gehören, auch um im Rahmen der Jugendlichen-Untersuchungen mögliche Hinweise auf „Sucht“ richtig einordnen zu können, ggf. Hilfestellung geben zu können, und schließlich auch, um präventiv zu wirken. Die Thematik ist auch deshalb aktuell, weil in den letzten Jahren zahlreiche neue Substanzen den Markt „überschwemmen“ und es selbst Insidern schwer fällt, die Übersicht zu behalten. Es ist daher nicht Absicht dieses Themenheftes, auf die Vielzahl von Substanzen detailliert einzugehen. In diesem Themenheft werden vielmehr verschiedene Aspekte von Suchterkrankungen bei Jugendlichen beleuchtet, in der Hoffnung, die Leserschaft für diese Problematik zu sensibilisieren und – soweit in diesem Rahmen möglich – zu qualifizieren.

T. Trabi aus Graz und C. Müller aus Wien beschreiben in ihrem Beitrag aktuelle Entwicklungen des europäischen Drogenmarktes. Sie nennen Prävalenzzahlen für den Konsum von Cannabis, Alkohol und Nikotin und stellen Vergleiche mit den USA an. Sie verweisen darauf, dass das Konsumverhalten Jugendlicher sich wesentlich von jenem der Erwachsenen unterscheidet. Bedenklich erscheint der auch in Europa beobachtete rasante Anstieg der „neuen psychoaktiven Substanzen“ (NPS); im Jahr 2016 waren in der EU 620 derartige Substanzen erfasst. Pro Woche kommt etwa eine neue Substanz hinzu. Die Beschaffung erfolgt vielfach über den Internethandel (teilweise über das Darknet), die Bezahlung oft mit Kryptowährungen. Der Umsatz mit Suchtmitteln ist insgesamt enorm, und der europäische „Endkundenmarkt“ wird auf 24 Mrd. € pro Jahr geschätzt. Die Autoren beschreiben in ihrem Beitrag die verschiedenen Substanzklassen, deren (gewünschte) Wirkung, Nebenwirkungen und ihr Risikopotenzial. Im Unterschied zu Erwachsenen werden Opioide von Jugendlichen eher selten konsumiert, allerdings sind diese für einen Großteil der Todesfälle im Jugendalter verantwortlich. Die Autoren verweisen darauf, dass nur ein kleiner Teil der drogenkonsumierenden Jugendlichen professionelle Hilfe braucht; insbesondere beim Konsum von Alkohol, Cannabis und NPS ist der Verlauf oft „unproblematisch“. Als „problematisch“ wird der Konsum dann eingestuft, wenn verschiedene Lebensbereiche eingeschränkt sind (direkte oder indirekte Gesundheitsgefährdung, Ausbildung, Delinquenz u. a.). Die in solchen Fällen angezeigte Behandlung beruht grundsätzlich auf der Basis von Freiwilligkeit und muss mehrdimensional und multiprofessionell erfolgen. Als „Erfolgsparameter“ gilt dabei heute nicht mehr die Rückfall-, sondern die Halterate (Anteil der Patienten, die in Behandlung gehalten werden können).

C. Müller und T. Trabi aus Wien bzw. Graz behandeln in einem weiteren Beitrag das „österreichische Modell“ der Opiatsubstitution bei Minderjährigen. Sie gehen zunächst auf verschiedene Risikofaktoren ein, die zur Entwicklung einer Drogenabhängigkeit bzw. Sucht beitragen. In weiterer Folge nennen sie Faktoren, die für Diagnostik und Prognose wesentlich sind (u. a. Substanzanamnese, Konsumanamnese, Vorhandensein von Resilienzfaktoren). Schließlich beschreiben sie die Opioidsubstitution als „komplexe Behandlungsstrategie“. Die Autoren nennen die Voraussetzungen für eine solche Therapie und deren Zielsetzung sowie potenzielle Zielgruppen und verweisen auf die Bedeutung begleitender Hilfesysteme. Programme und Strategien und die dabei eingesetzten Substanzen werden aufgeführt. Dabei bemerken die Autoren einen Paradigmenwechsel von der „bedarfsorientierten“ hin zur „bedürfnisorientierten“ Intervention, die die subjektiven Wünsche der Jugendlichen verstärkt berücksichtigt. In vielen Fällen könne nicht die Abstinenz primäres Behandlungsziel sein, sondern eine durch Substitution erzielbare stabile Situation. Diese dient letztlich dem „safer use“ und der Überlebenssicherung. Abschließend erwähnen die Autoren, dass Rückfallmanagement und Planung der Austrittsphase (die oft zu früh erfolgt) von Anfang an in die Therapieplanung einbezogen werden müssen.

Achtsam- und Wachsamkeit der Kinder- und Jugendärzte tragen zu Früherkennung und -intervention bei

O. Bilke-Hentsch aus Winterthur berichtet über die Risikofaktoren, Charakteristika und Behandlungsansätze der „Polytoxikomanie im Jugendalter“. Er betont, dass im Gegensatz zum Erwachsenenalter die Polytoxikomanie im Jugendalter eher selten und meist im Kontext schwerer psychiatrischer (v. a. Trauma) und ggf. somatischer Störungsbilder vorkommt. Bei der Entwicklung spielen biologische, psychologische und soziale Faktoren eine Rolle. Der Autor erwähnt, dass mit Ausnahme der Halluzinogene alle Substanzen zu einer Aktivierung des mesolimbischen Belohnungssystems führen, die Konsumation mehrerer Substanzen könne dabei additiv wirken. „Novelty seeking“, „sensation seeking“, Ergänzung in der sedierenden Wirkung (z. B. Alkohol, Benzodiazepine und Opiate), Behandlung von Nebenwirkungen (z. B. Behandlung der kokainbedingten Unruhe mit Heroin) und „Ersatz“ bei Nichtverfügbarkeit der sonst konsumierten Droge sind weitere Gründe für ein polyvalentes Konsummuster bzw. eine Polytoxikomanie. Diese kann insbesondere auch durch das oft fehlende Risikobewusstsein Jugendlicher vital bedrohlich werden. Für die (Früh‑)Erkennung des Problems sind Eltern selten eine verlässliche Informationsquelle, weil der Konsum meist vor den Eltern sorgfältig verborgen wird, und diese oft ihren Kindern auch (schon) zu „fern“ sind. Andere Quellen (Partner, Freunde, Lehrer, Hausärzte, Trainer etc.) sind daher einzubeziehen. Für adäquate Diagnostik und Therapie ist schließlich eine Zusammenarbeit von Niedergelassenen, (Sucht‑)Experten und Suchtberatungsstellen unumgänglich. Ziel jeglicher Therapie ist ein „qualifizierter Entzug“ durch sozial- und familientherapeutische Maßnahmen, Behandlung psychiatrischer Primärstörungen, beständige Motivationsarbeit („motivational interviewing“) und Lebensweltorientierung (u. a. Planung der Freizeitaktivitäten). Regelmäßiges Drugmonitoring (v. a. durch Urinkontrollen) ist Bestandteil des qualifizierten Entzugs, wobei die Konsequenzen positiver Ergebnisse vorab festgelegt werden müssen. Der Autor betont, dass die Behandler über regionale Konsummuster Bescheid wissen müssen, den Therapieprozess mit viel Empathie begleiten sollen und „Achtsamkeit und Wachsamkeit“ Bedingungen für Früherkennung und Frühintervention sind.

C. Popow aus Wien schreibt schließlich über Computerspielsucht/„internet gaming disorders“ (IGD). Diese „Erkrankung der Neuzeit“ ist mittlerweile auch in der ICD-11-Klassifikation erfasst und wird dort mit „6C51“ codiert. Der Autor weist in der Einleitung darauf hin, dass Spielen integraler Bestandteil unseres Lebens ist. Zur „Erkrankung“ wird Computerspielen dann, wenn es lebensbestimmend wird, schwere negative physische und/oder psychische bzw. soziale Konsequenzen bedingt und zur Vernachlässigung von Selbstfürsorge, Schule, Arbeit und sozialen Aktivitäten führt. Die IGD-Prävalenz beträgt in Industriestaaten 1–5 %; (relativ) erhöht ist die Prävalenz unter Jungen und in Ostasien. Eine IGD wird dann diagnostiziert, wenn es im Rahmen der Spielsucht zu Kontrollverlust und Priorisierung gegenüber anderen Aktivitäten kommt und dieser Zustand über mindestens 12 Monate besteht. Je nach Ausprägung/Schweregrad werden 5 Typen von „Spielsüchtigen“ unterschieden. Aus der IGD resultieren u. a. psychosoziale und psychiatrische Folgeerscheinungen, Probleme mit dem Zeitmanagement und Tag-Nacht-Umkehr, manchmal auch körperliche Beschwerden und Suizidalität. Der Autor nennt Möglichkeiten der Prävention und Therapie und erwähnt dabei u. a. Psychoedukation, Zugangsbeschränkungen, soziales Kompetenztraining und das Angebot alternativer Aktivitäten (z. B. Sport und soziales Engagement) bis hin „Bootcamps“. Er konzediert aber auch, dass diese Maßnahmen großteils nicht systematisch evaluiert sind und prospektive kontrollierte Studien weitestgehend fehlen. Eben solche werden vom Autor in seinem Schlussstatement pro futuro gefordert.

Ich hoffe, dass dieses Themenheft dazu beiträgt, Kinder- und Jugendärzte in ihrer Kompetenz zu stärken, wenn es darum geht, Drogenkonsum und „Sucht“ bei Jugendlichen frühzeitig wahrzunehmen, einer adäquaten Therapie zuzuführen bzw., soweit als möglich, durch rechtzeitige Prävention zu verhindern.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Lektüre – wie immer freuen wir uns über jegliche Form der Rückmeldung.

Prof. Dr. R. Kerbl