Jenner hat das moderne Impfwesen aufgrund der Beobachtung von Milchmägden entwickelt [31].
Im Jahr 1796, 75 Jahre, nachdem Lady Mary Wortley Montagu und Charles Maitland die Inokulation mit echten Pockenviren in England bekannt gemacht hatten, führte der Landarzt Edward Jenner ein Experiment durch, das schließlich zur Ausrottung der Pocken und einer neuen Ära des Impfwesens führen sollte. Am 14. Mai 1796 impfte Jenner einen 8-jährigen Knaben mit dem Sekret aus einer Kuhpockenpustel. Sechs Wochen später führte er die für die damalige Zeit übliche Variolation, d. h. die Inokulation mit Material von einem an echten Pocken (Variola major) Erkrankten durch, ohne dass der Junge daraufhin eine Impfreaktion zeigte. Mit seinem Experiment hatte Jenner bewiesen, dass mithilfe der Kuhpocken eine Immunität gegenüber Pocken erzeugt werden konnte.
Wie aber kam Edward Jenner auf die Idee zu diesem, die moderne Medizin grundlegend verändernden Versuch? Die Medizingeschichte konzentriert sich in dieser Frage meist auf die vermeintliche Rolle von Milchmägden. Von deren offensichtlich trotz häufiger Pockenausbrüche erhaltenen Schönheit soll Jenner die Vorteile der Kuhpockenimpfung abgeleitet haben. Die Milchmägde-Erzählung ist allerdings ein Mythos, erfunden von John Baron, Jenners Freund und erstem Biografen. Jenner selbst hat nie behauptet, die Bedeutung von Kuhpocken für die Impfung entdeckt zu haben, noch hat er hinterlassen, wie er zum ersten Mal auf die Idee kam. Jenner wurde zu Lebzeiten allerdings von vielen Ärzten, die seiner Methode nicht vertrauten, heftig kritisiert, u. a. auch, weil die Kuhpockenimpfung im Unterschied zur Variolation keine dauerhafte Immunität hinterließ. Baron erfand den Milchmägdemythos, wohl um dieser Kritik entgegenzuwirken.
Schon im Jahr 1768 fiel John Fewster, einem Landchirurgen, und seinem Kollegen, Mr. Grove, auf, dass eine große Anzahl von Patienten nicht erfolgreich mit Pockensekret inokuliert werden konnten. Die Ursache des Impfversagens wurde schließlich durch den Fall eines Farmers geklärt, der mehrere Male ineffektiv inokuliert worden war. Der Farmer versicherte, dass er noch nie an Pocken, wohl aber an Kuhpocken erkrankt gewesen sei. Fewster nahm diesen Hinweis auf und erkannte, dass die Mehrzahl der Menschen, die nicht auf eine Variolation reagierten, zuvor an Kuhpocken erkrankt waren. Der Arzt berichtete diese Beobachtung daraufhin in seiner medizinischen Gesellschaft, einer Vereinigung, der auch Jenner angehörte. Viele Jahre später bestätigte ein Freund von Jenner, dass dieser selbst einmal erwähnte, er habe 1768 zum ersten Mal von Kuhpocken gehört.
Um 1769 war Jenner in London als Hauschirurg für den berühmten experimentellen Chirurgen John Hunter im St. George’s Hospital tätig. Es ist belegt, dass er den Kuhpockeneffekt mit Hunter diskutiert hat. Ob Jenner aber tatsächlich bei dem Abendessen anwesend war, an dem Fewster seine Beobachtung der medizinischen Gesellschaft berichtete, ist nicht bekannt. Es ist wahrscheinlicher, dass Jenner von Fewsters Beobachtungen über seinen Chef Hunter erfahren hat.
Auf Basis einer Beobachtung initiierte Jenner eine der bedeutendsten Innovationen der Medizingeschichte
In medizinischen Kreisen wird gelegentlich diskutiert, dass Jenners Impfversuch nach heutigen Standards als unethisch eingestuft werden würde. Tatsächlich handelte Jenner jedoch für die damalige Zeit in akzeptabler Weise und gab James Phipps, dem Sohn eines armen Arbeiters, Schutz vor einer gefürchteten, nicht selten tödlich verlaufenden Krankheit. Ein Kind, das noch keine Pocken überstanden oder eine Variolation erhalten hatte, war zu Jenners Zeiten für keine Anstellung vermittelbar, weil niemand einen Jungen übernehmen wollte, der möglicherweise Pocken in den Haushalt einschleppen konnte. Die nicht ungefährliche Variolation mit echtem Pockensekret war demnach Standard, um einem Kind Schutz zu geben. Jenner hatte aufgrund zahlreicher Berichte über Patienten, die sich nach einer Kuhpockeninfektion als resistent gegenüber Pocken erwiesen hatten, guten Grund anzunehmen, dass die Impfung mit Kuhpocken funktionieren könnte. Mit seinem Versuch überprüfte er letztlich formal, ob die aktive Übertragung von Kuhpocken ebenso wie eine natürliche Kuhpockeninfektion Schutz gegen natürliche Pocken vermittelte. Nach Impfung mit Kuhpocken wurde Phipps, wie damals üblich, mit echten Pocken inokuliert. Hätte die Kuhpockenimpfung versagt, wäre der Junge durch die anschließende Variolation ebenfalls geschützt gewesen. Da die Inokulation zur damaligen Zeit ein akzeptiertes, in England weit verbreitetes Verfahren war, kann das Vorgehen Jenners auch aus heutiger Sicht nicht grundsätzlich als ethisch bedenklich angesehen werden, auch wenn heute ein solcher Versuch natürlich anderen Regularien und Standards unterliegen würde.
Das Narrativ, das Jenner nach Beobachtung von Milchmägden die Kuhpockenimpfung entwickelt hat, ist wohl ein Mythos. Schon 30 Jahre vor seinem entscheidenden Impfexperiment war unter Medizinern bekannt, dass Menschen nach einer Infektion mit Kuhpocken gegenüber Pocken gefeit waren. Der entscheidende Beitrag und Verdienst Jenners liegen allerdings darin, dass er auf Basis dieser Beobachtung die richtigen Schlüsse gezogen und damit eine der bedeutendsten Innovationen der Medizingeschichte initiiert hatte.