Der Wunsch, Krankheiten allein durch das bloße Betrachten, also mit dem Blick, zu erkennen, ist wahrscheinlich schon so alt wie das Interesse der Menschen an einer guten (medizinischen) Versorgung von Kranken. Das Konzept der Blickdiagnose findet sich in vielen Ausprägungen in der traditionellen Medizin oder in der Alternativmedizin wie beispielsweise bei Heilpraktikern und Naturheilkundlern oder im Schamanismus. Auch in der Schulmedizin sprechen wir immer wieder gerne von der Blickdiagnose. Die Suche in Literaturdatenbanken enthüllt zahllose Publikationen, die sich mit „Blickdiagnosen für die verschiedensten Erkrankungen“ befassen. Aber gibt es sie wirklich, die Blickdiagnose? Eine Frage, die sich auch einer unserer Leitthemen-Autoren dieser Ausgabe der Monatsschrift Kinderheilkunde, Thorsten Marquardt, als Spezialist für seltene Stoffwechselkrankheiten jeden Tag aufs Neue stellt.

Zweifellos wird ein pädiatrischer Infektiologe feststellen, dass die Varicella-zoster-Infektion immer schon zuverlässig durch den charakteristischen Hautbefund erkannt werden kann. Oder eine Fazialisparese – wobei diese Blickdiagnose zunächst ja nur ein Symptom, aber noch lange nicht die Ursache der Erkrankung und damit auch noch nicht den therapeutischen Zugang beschreibt. Schwieriger ist es wohl, ein „typisches“ Masernexanthem (das ja eigentlich schon gar nicht mehr vorkommen dürfte) rein visuell von anderen viralen Exanthemen oder einem Kawasaki-Syndrom zu unterscheiden. Gerne sprechen Pädiater auch bei der Purpura Schoenlein-Henoch, der Immunthrombozytopenie oder der Purpura fulminans von Blickdiagnosen, wobei auch hier die Blickdiagnose oft ohne Kenntnis der Ursache bleibt.

Unter Blickdiagnose verstehen wir umgangssprachlich das Erkennen einer Gesundheitsstörung oder einer pathologischen Veränderung allein durch die einfache Betrachtung (Inspektion) des Patienten. Dabei beschränkt sich die Blickdiagnostik aber eben nicht nur auf die ausschließliche Evaluation der Haut des Patienten. In der Vorbereitung dieses Leitthemas habe ich mit Peter Höger (Hamburg) über Blickdiagnosen in der pädiatrischen Dermatologie diskutiert. Empört hat der ausgewiesene pädiatrische Dermatologe Höger den Gedanken von sich gewiesen, dass die Dermatologie eine Disziplin der Blickdiagosen sei. Mit Recht, wie ich zugeben musste. Wir haben mehr Sinne als nur die Augen! So können wir die Beschaffenheit der Haut und den Gewebeturgor fühlen oder den Geruch der Haut oder der Atemluft wahrnehmen. Bei der klinischen Untersuchung beziehen wir die Gesamtheit unserer Wahrnehmungen wie Körperhaltung, Hautkolorit, Muskeltonus, Vigilanz, Atemmuster, Geruch etc. ein und verbinden diese Beobachtungen mit unseren Erfahrungen von unzähligen anderen Patienten.

Blickdiagnose ist also viel mehr als die bloße schnelle Assoziation eines Symptoms mit einer Diagnose. In eine Blickdiagnose fließen die Wahrnehmungen all unserer Sinne und v. a. auch unsere klinische Erfahrung ein.

Der diagnostische Prozess beginnt in dem Augenblick, in dem wir dem Patienten gegenübertreten und einen ersten, eben nicht nur visuellen Eindruck gewinnen. Der erste Eindruck formt den Rahmen für den gesamten diagnostischen Untersuchungsvorgang. Der „klinische Blick“ des Arztes ist darauf trainiert, Zeichen und Hinweise zu erfassen, die auf angeborene, konstitutionelle oder erworbene Störungen des Gesundheitszustands des Patienten hinweisen – und dies eben nicht nur mit den Augen. In meiner eigenen pädiatrischen Ausbildung habe ich das in eindrucksvoller Weise erfahren dürfen. Unserem Lehrer Jürgen Spranger, einem brillanten klinischen Diagnostiker, entging auch nicht das kleinste Detail eines Patienten. In bemerkenswerter Weise fügte er eine Vielzahl oft unscheinbarer Symptome und Merkmale zu einem Bild zusammen, das, verbunden mit seiner großen klinischen Erfahrung, dann auch häufig zur Diagnose führte.

Blickdiagnose beschreibt daher tatsächlich die Fähigkeit, den Patienten in seiner Gesamtheit mit all unseren Sinnen zu erfassen – und je besser wir dies lernen und trainieren, umso besser wird uns die Diagnosefindung gelingen. Gelegentlich erfüllt mich daher auch die aktuelle Diskussion um Telemedizin mit Sorge. Ohne Frage soll und muss moderne Medizin die Früchte des Fortschritts auch auf dem Gebiet der Informationstechnologie zum Wohle unserer Patienten nutzen. Informationsaustausch wird beschleunigt, medizinische Datenbanken und Auswertesysteme helfen, die ungeheure Menge an Informationen in unserem klinischen Alltag zu sortieren, zu ordnen und einer sinnvollen Beurteilung zuzuführen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sich drängende Probleme der medizinischen Versorgungssituation, wie der Ärztemangel in ländlichen Regionen, tatsächlich allein durch Telemedizin befriedigend lösen lassen. Auch zukünftig muss die klinische Diagnose unter Einsatz all unserer Sinne möglich sein und darf nicht durch den telemedizinischen Zugang auf eine rein visuelle Blickdiagnose reduziert werden.

Das Leitthema dieser Monatsschrift Kinderheilkunde widmet sich dem Themenkomplex „Blickdiagnosen in der Pädiatrie“ auch unter dem Aspekt der ganzheitlichen Betrachtung des Patienten. Der Beitrag von Stephan Gehring und Daniel Schreiner berichtet über Blickdiagnosen aus dem Bereich der allgemeinen Pädiatrie. Thorsten Marquardt befasst sich mit Blickdiagnosen bei seltenen und sehr seltenen Erkrankungen und zeigt, dass auf Grundlage einer soliden klinischen Erfahrung die gute Beobachtung die Diagnosefindung auch bei seltenen Erkrankungen erleichtern kann. Christian Hoffmann und Gundula Staatz erläutern typische Blickdiagnosen aus dem Arbeitsalltag der Kinderradiologie. Oliver Muensterer und Tatjana König schließlich berichten über Blickdiagnosen in unserer Partnerdisziplin – der Kinder- und Jugendchirurgie.

Die Leitthemenbeiträge dieser Monatsschrift können nicht die vielfältigen Aspekte einer gelungenen klinischen Untersuchung erschöpfend darstellen. Ich würde mich aber freuen, wenn unsere Beiträge für Sie anregend und lehrreich sind und vielleicht auch helfen, den ganzheitlichen „klinischen Blick“ zu schärfen.

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Prof. Dr. F. Zepp