Die „schwere chronische Neutropenie (SCN)“ beschreibt eine Gruppe unterschiedlicher, oft vererbter Erkrankungen der Blutbildung, die durch einen Mangel an neutrophilen Granulozyten im Blut mit absoluten Werten von weniger als 0,5 ⋅ 109/l charakterisiert ist [5, 23, 26]. Ursachen einer schweren Neutropenie können einerseits ein Defekt in der Proliferation und Differenzierung der neutrophilen Granulozytenvorstufen im Knochenmark, andererseits eine Zerstörung der gebildeten Granulozyten im Blut sein. Bei Erkrankungen, die mit einem Defekt in der Differenzierung der Granulozytenvorstufen einhergehen, wie z. B. bei CN, zeigt das Knochenmark meist einen Ausreifungsarrest auf der Stufe der Promyelozyten [23, 28]. Die Zahlen der eosinophilen Granulozyten und der Monozyten sind meist erhöht. Die Erythro- und Megakaryo‑/Thrombozytopoese sowie die Lymphopoese verlaufen normal. Geht die Erkrankung mit der Zerstörung der gebildeten Granulozyten einher, wie z. B. bei AIN [3], findet sich im Knochenmark eine normale Ausreifung bis zu den stabkernigen neutrophilen Granulozyten. Patienten mit CN leiden schon in den ersten Lebensjahren an häufigen teilweise schweren bakteriellen Infektionen, v. a. des Mundbereichs (Abb. 1), der Ohren, der Haut, der oberen Luftwege, der Lungen sowie seltener an Abszessen der Leber und Nieren [26, 28].
Die Verfügbarkeit des Wachstumsfaktors Granulozyten-koloniestimulierender Faktor (G-CSF; Filgrastim/Lenograstim) für die Behandlung der Patienten seit 1987 [24] hat die Infektionshäufigkeit signifikant reduziert und damit die Lebensqualität und die Langzeitprognose der Betroffenen entscheidend verbessert. Während vor 1987 die Mehrzahl der Patienten an bakteriellen Komplikationen verstarb [10], ist heute die Lebenserwartung in der Mehrzahl der Patienten normal [23]. Durch die signifikante Verbesserung der Lebenserwartung hat ein Großteil der Patienten bereits das Erwachsenenalter erreicht und in Einzelfällen auch mit eigener Familienplanung begonnen. Einem „normalen“ Leben des Patienten und seiner Familie steht bei gutem Therapieansprechen, guter Therapieeinstellung und dem verantwortungsbewussten Umgang mit der Erkrankung kaum etwas im Wege. So sind z. B. Auslandsaufenthalte, etwa im Rahmen einer Urlaubsreise, nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt und bei vernünftiger Planung jeder Zeit möglich.
Angeborene Formen der SCN gehören zu den seltenen Erkrankungen mit einer Häufigkeit von ca. 2 bis 4 Patienten auf 1 Mio. Einwohner [23]. Aufgrund der geringen Inzidenz der einzelnen Erkrankungen sind die heutigen Erkenntnisse zu Pathophysiologie und klinischem Verlauf v. a. dem Aufbau eines internationalen Erkrankungsregisters für Neutropenie zu verdanken [5]. Seit 1994 sammelt das „Severe Chronic Neutropenia International Registry“ (SCNIR; Kodirektoren: Dr. David Dale und Dr. Karl Welte) mit Sitzen in der University of Washington, Seattle, USA, sowie der Medizinischen Hochschule Hannover und dem Universitätsklinikum Tübingen weltweit Longitudinaldaten von inzwischen mehr als 3000 Patienten mit angeborenen und erworbenen SCN. Erfasst werden Erkrankungsverlauf, sekundäre Erkrankungen, Therapieansprechen und Nebenwirkungen der Therapie (www.scnir.de).
Im Zuge der Lebensverlängerung unter einer Langzeittherapie mit dem hämatopoetischen Wachstumsfaktor G‑CSF demaskierte sich allerdings auch das erhöhte Risiko einer malignen Transformation, eines Übergangs in ein myelodysplastisches Syndrom (MDS) oder eine akute myeloische Leukämie (AML; [23]).
Seit 1994 sammelt SCNIR weltweit Longitudinaldaten von inzwischen mehr als 3000 SCN-Patienten
Moderne molekularbiologische Techniken wie die Sequenzierung der Gene, die für die Entstehung der Neutropenie verantwortlich sind, und die Grundlagenforschung haben in den letzten Jahren neue Einblicke in die Mechanismen der Erkrankungsentstehung und malignen Transformation ermöglicht. Die Identifikation von Indexfamilien innerhalb des SCNIR führte zur Aufdeckung neuer genetischer Defekte [6, 7, 12, 13]. Die enge Kooperation zwischen Patienten, klinischen Experten und Wissenschaftlern im SCNIR-Netzwerk ermöglicht die gezielte Suche nach charakteristischen klinischen Merkmalen und Besonderheiten in den genetischen Untergruppen (Genotyp-Phänotyp-Analyse).