Anamnese

Ein 4 ½-jähriger Junge wurde mit anhaltendem Erbrechen, Durchfall seit 3 Tagen, Bauchschmerzen, deutlicher Verschlechterung des Allgemeinzustands und zunehmender Somnolenz notfallmäßig in unserer Klinik vorgestellt. Die ambulante antiemetische Therapie mit Dimenhydrinat und die orale Gabe von Glucose-Elektrolyt-Lösung hatten keine Besserung gebracht.

Frühere Vorgeschichte.

Ehemaliges Frühgeborenes von 30 + 2 Schwangerschaftswochen (SSW), Geburtsgewicht (GG) 1382 g, seinerzeit Atemnotsyndrom 3. Grades und resultierende milde bronchopulmonale Dysplasie. Bei neurologischen Nachkontrollen im Alter von 6 Monaten und 2 Jahren unauffälliger Befund. Der Patient wurde im Säuglingsalter nicht gegen Rotaviren geimpft.

Klinischer Befund

Der 4 ½ Jahre alte Patient befand sich bei Aufnahme in schwer reduziertem Allgemeinzustand mit blass-rosigem Hautkolorit, wirkte deutlich muskulär hypoton, sprach nicht und fixierte nicht. Es zeigten sich kein Meningismus, eine normale Pupillomotorik; die Muskeleigenreflexe waren seitengleich mittellebhaft auslösbar, ohne Nachweis pathologischer Reflexe. Die übrige pädiatrisch-interne Untersuchung war unauffällig. Der Blutdruck lag bei 118/74 mmHg, die Herzfrequenz (HF) bei 150/min bei einer Körperkerntemperatur von 39,8 °C.

Diagnostik und Verlauf

Es fanden sich laborchemisch eine deutliche Linksverschiebung, eine leichte Hyponatriämie mit 131 mmol/l, erhöhte Entzündungsparameter (C-reaktives Protein [CRP] 6,77 mg/dl, Prokalzitonin 2,41 ng/ml) und unauffällige Werte der klinischen Chemie (Blutzucker, Alanin-Aminotransferase [ALAT], Aspartat-Aminotransferase [ASAT], Kreatinkinase [CK], Lipase, Harnstoff). In der Blutgasanalyse zeigte sich eine respiratorisch kompensierte metabolische Acidose. Nach erneuter klinischer Evaluierung des Kindes 2 h später unter laufender Infusionstherapie mit Vollelektrolyt- und glucosehaltiger Lösung und Feststellung einer anhaltenden muskulären Hypotonie, fehlenden Fixierens, fehlender Reaktion auf Ansprache und einer Glasgow Coma Scale von 8 Punkten erfolgte eine Magnetresonanztomographie(MRT)-Untersuchung des Schädels. Hierbei zeigte sich eine flaue bandförmige Diffusionsstörung im Splenium des Balkens ohne Hirndruck oder Anhalt für eine Blutung (Abb. 1a,b). Bei hochgradigem Verdacht auf einen Balkeninfarkt und differentialdiagnostisch auf eine Thrombose des Sinus sagittalis inferior wurde der Patient nach Rücksprache mit der kooperierenden Universitätsklinik dorthin verlegt. Die dort durchgeführte Liquoruntersuchung (2 Lymphozyten/µl, Albumin 93,5 mg/l, Glucose 56,3 mg/dl, Lactat 1,31 mmol/l, keine Blut-Liquor-Schrankenfunktionsstörung) und Echokardiographie waren unauffällig; im Elektroenzephalogramm (EEG) zeigte sich eine verlangsamte Aktivität ohne fokale Pathologie (Abb. 2). Im Stuhl ließen sich Rotaviren nachweisen. Bei der Reevaluation der kranialen MRT wurde der Befund als reversible Läsion im Splenium des Balkens (MERS) im Rahmen der Gastroenteritis durch Rotaviren angesprochen. Nach deutlicher Besserung der Allgemeinzustands und Normalisierung der Laborparameter wurde der Patient 3 Tage später nach Hause entlassen. Die Wiedervorstellung erfolgte 4 Wochen später; der Junge befand sich in gutem Allgemeinzustand; die neurologische Untersuchung und das EEG (Abb. 3) waren unauffällig. Die MRT-Kontrolluntersuchung des Schädels zeigte eine vollständige Rückbildung der umschriebenen Diffusionsstörung median im hinteren Balkenknie (Abb. 1c,d). Für das Vorliegen einer arteriellen oder venösen Ischämie bzw. Kongestion bestand keine Anhalt mehr. Somit wurde die Diagnose MERS bestätigt.

Abb. 1
figure 1

Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels. Diffusionsstörung (Pfeil) im Splenium des Balkens in T2-Gewichtung (a) und in Diffusionswichtung (DWI) (b). Vollständige Rückbildung (Pfeil) der Diffusionsstörung in der kranialen MRT-Kontrolluntersuchung in T2-Gewichtung (c) und in DWI-Sequenz (d)

Abb. 2
figure 2

Verlangsamte Aktivität (Pfeil) im Elektroenzephalogramm am Aufnahmetag

Abb. 3
figure 3

Unauffällige Elektroenzephalographiekontrolle (Pfeil) 4 Wochen später

Diskussion

Milde Enzephalopathie mit reversiblen Veränderungen des Splenium

Die MERS ist ein klinisch-radiologisches Syndrom und wurde 2004 von Tada et al. beschrieben [1]. Die Enzephalopathie folgt meist ein bis 7 Tage nach Beginn von Prodromalsymptomen wie Fieber, Husten, Erbrechen oder Durchfall. Folgenden Kriterien sollten für die Diagnose erfüllt sein [2, 3]:

  • Beginn mit neuropsychiatrischen Symptomen, Sprach- und/oder Verhaltensstörung und Wesensveränderung innerhalb einer Woche nach dem Auftreten des Fiebers;

  • komplette Rückbildung der Symptome ohne Folgeerscheinungen spätestens innerhalb von 10 Tagen nach dem Beginn der neuropsychiatrischen Symptome;

  • „High-signal-intensity“-Läsion im Bereich des Splenium corporis callosi (SCC) im akuten Stadium [4]. Die T1- und T2-Signal-Veränderungen sind mild;

  • die Läsion kann auch das gesamte Corpus callosum und die weiße Substanz des Gehirns symmetrisch betreffen;

  • die Läsion bildet sich innerhalb einer Woche zurück, ohne residuale Signalveränderungen und ohne Atrophie.

Es wurden 2 MERS-Typen beschrieben; MERS Typ I, wenn es sich um einzelne hyperintense Läsionen des SCC handelt. Die Form ist meist infektionsgebunden, oder es besteht eine Assoziation mit langer Gabe antiepileptischer Medikamente [5]. Vom MERS Typ II wird gesprochen, wenn das ganze Corpus callosum betroffen ist und zusätzlich weitere Läsionen der weißen Substanz zu finden sind [5,6,7]; die MERS Typ II geht mit einer schlechteren Prognose einher. Davon abzugrenzen ist das ebenfalls teilweise als MERS abgekürzte „middle east respiratory syndrome“, das mit dem hier beschriebenen Krankheitsbild nicht im Zusammenhang steht.

Die genauen pathogenetischen Mechanismen sind noch unklar; es wird eher eine indirekte Reaktion vermutet; transiente intramyelinische Ödeme, interstitielle axonale Ödeme, eine entzündliche Infiltration durch ein pathogenausgelöstes myelinspezifisches Neurotoxin mit der Folge einer Diffusionsstörung, die Aktivierung des Immunsystems mit Beteiligung von Zytokinen, eine Hyponatriämie und oxidativer Stress gehören zu den möglichen Mechanismen [6, 8]. Eine MERS kann durch virale (Influenza‑, Adeno‑, Masern‑, Mumps‑, Varicella-zoster‑, Rota‑, Hepatitis-A-, Epstein-Barr- [EBV] und humanes Immundefizienzvirus [HIV] sind die häufigsten MERS-assoziierten Erreger) oder bakterielle Infektionen (Escherichia coli, Legionellen, Mykoplasmen, Pneumokokken, Klebsiellen), aber auch durch Medikamente (Antiepileptika), metabolische und Elektrolytstörungen, eine Asphyxie oder ein Trauma hervorgerufen werden [3, 8,9,10]. Die MRT ist die Diagnostik der Wahl, denn sie kann Läsionen des SCC aufdecken [10]. Sehr typisch für eine infektionsassoziierte MERS ist radiologisch das „boomerang sign“; eine größere, eher plump konfigurierte, unscharf begrenzte und komplett reversible Läsion, die durch das Splenium des Balkens in die angrenzenden Hemisphären reicht. Diese ist in der T1-Wichtung hypointens, hyperintens in der T2-Wichtung. Sie zeigt bei der Diffusionswichtung(DWI)-Sequenz/„Apparent-diffusion-coefficient“(ADC)-Karte eine Diffusionsrestriktion und im T1C+-Scan kein Kontrastmittel(KM)-Enhancement [5]. Differenzialdiagnostisch müssen viele Ursachen erworbener Läsionen des Balkens bedacht werden wie Infarkte, Tumoren (Lipom, Lymphom, Glioblastom), die multiple Sklerose, die Marchiafava-Bignami-Krankheit, ein Hydrozephalus, die traumaassoziierte diffuse axonale Verletzung, das posteriore reversible Enzephalopathiesyndrom (PRES), die akute immunglobulintherapieassoziierte Enzephalopathie, bei Therapie mit Antiepileptika, Alkoholmissbrauch, Malnutrition, Hypoglykämien, Hypo-, aber auch Hypernatriämien, die akute demyelinisierende Enzephalomyelitis (ADEM) und vererbte demyelinisierende Erkrankungen wie M. Krabbe oder die X‑chromosomale Adrenoleukodystrophie [2, 11]. Der klinische Verlauf und die Anamnese schließen bei den pädiatrischen Patienten viele dieser theoretischen Möglichkeiten aus.

Eine Therapie mit Kortison oder intravenösen Immunglobulinen (IVIG) wird bei MERS diskutiert, da es meist jedoch zur spontanen Regression kommt, haben die meisten Patienten keine Therapie benötigt [4], das Outcome ist deshalb generell exzellent. Ein einziger Fallbericht existiert, in dem das radiologische Phänomen MERS nicht reversibel gewesen sein soll [12].

Rotaviren

Rotaviren sind weltweit die häufigsten Erreger schwerer Gastroenteritiden bei Kindern <5 Jahren. Man unterscheidet 7 Serogruppen (A–G). Menschen werden primär durch Rotaviren der Gruppen A, B und C infiziert, Kinder am meisten durch Gruppe-A-Rotaviren (GARV; [13]). Eine Rotavirusinfektion kann bei 2–5 % der Patienten auch eine Zentralnervensystem(ZNS)-Manifestation zeigen wie z. B. Enzephalitis/Enzephalopathie, Fieberkrämpfe, Krampfanfälle, Meningoenzephalitis, Zerebellitis [2, 14, 15]. Salmi beschrieb bereits 1978 eine mögliche Beteiligung des ZNS im Rahmen einer Rotavirusinfektion [16]. Der direkte Nachweis von RV (Antigen, Ribonukleinsäure [RNA]) gelingt in den meisten MERS-Fällen nicht [2]; vereinzelte Fälle mit Nachweis sprechen von einem direkten Typ als Pathomechanismus [17]. Die Impfung gegen Rotaviren zeigte in einer Studie in den USA [18] ein um 18–21 % reduziertes Risiko für Krampfanfälle im ersten Jahr nach der Impfung, was auf eine untererkannte Rolle des Rotavirus als Erreger für neurologische Krankheitsbilder hinweist. Die meisten Serotypen, die in RV-assoziierten MERS-Fällen nachgewiesen werden konnten, sind in den zugelassenen Impfstoffen enthalten [17].

Hyponatriämie

Eine Hyponatriämie senkt den intrazellulären osmotischen Druck im Splenium des Balkens und hat eine Wassereinlagerung in das Hirngewebe zur Folge, also ein Hirnödem. Rotavirusassoziierte MERS-Fälle kommen jedoch auch ohne Hyponatriämie vor [6, 13]. Bei unserem Patienten könnte die milde Hyponatriämie theoretisch eine Rolle gespielt haben.

Konklusion

Unser Fall ist der erste beschriebene pädiatrische MERS-Fall in Deutschland. Die meisten pädiatrischen MERS-Fälle sind bisher in Asien beschrieben worden, auch bei Geschwisterkindern. Ein genetischer Einfluss kann damit angenommen werden [4, 19]. Es wird aufgrund unseres hier vorgestellten Falls empfohlen, die Diagnose bei jeder fieberhaften Infektion mit neurologischer Begleitsymptomatik zu bedenken.

Fazit für die Praxis

  • Die milde Enzephalopathie mit reversiblen Veränderungen des Splenium ist neu und weitestgehend unbekannt. Es ist eine radiologisch-klinische Diagnose. Die Interpretation der MERS-typischen Veränderungen im Balken kann sich schwierig gestalten und einen Balkeninfarkt suggerieren, wie dieser Fall eindrücklich zeigt.

  • Bei unklaren neurologischen Begleitsymptomen bei Infektionen ist eine weitere Abklärung, einschließlich MRT, erforderlich.