Ich erinnere mich gut an die Situation, als ich vor ca. 10 Jahren im Rahmen einer Stationsvisite den Studierenden einen Patienten mit Kabuki-Syndrom vorstellte. Zu meiner großen Verwunderung hatte einer der Studierenden innerhalb einer Minute sämtliche Symptome dieses Syndroms parat und sagte sie lückenlos auf. Der Kollege war einer der ersten Smartphone-Benutzer und hatte ganz einfach das Syndrom „gegoogelt“. Derartiges ist heute keine Ausnahme mehr, sondern (auch) im pädiatrischen Alltag die Regel …

Moderne Medien und insbesondere das Internet haben den Alltag in der Pädiatrie verändert

Als ich im Jahr 2016 im Rahmen einer Schriftleitersitzung den Titel Cyberpädiatrie für ein Themenheft der Monatsschrift Kinderheilkunde vorschlug, hatte ich selbst noch keine konkrete Vorstellung über die Konzeption eines solchen Themenschwerpunkts. Es war meine ursprüngliche Idee abzubilden, wie moderne Medien und insbesondere das Internet den Alltag (auch) in der Pädiatrie verändert haben. Diese Veränderungen betreffen unsere eigene Arbeitsweise, die Art der Kommunikation (sowohl intraprofessionell als auch mit Patienten und Eltern), Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie, aber auch das Erkrankungsspektrum unserer Patienten, insbesondere der Jugendlichen. Interessanterweise findet man die Bezeichnung „Cyberpädiatrie“ bisher in Google nicht, auch das englische Analogon „cyber pediatrics“ ist bisher kaum gebräuchlich. Daraus ergab sich für dieses Themenheft eine gewisse gestalterische Freiheit – ich hoffe, dass diese im Sinne unserer Leserinnen und Leser genutzt wurde …

R. Kerbl aus Leoben gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die „Möglichkeiten des Netzes“ im beruflichen Alltag, insbesondere Diagnostik und Therapie betreffend. Beginnend mit sehr „einfachen“ und allgemein verwendeten Websites wie Google und Wikipedia werden ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Informationsplattformen dargestellt, die in der täglichen Arbeit hilfreich sein können. So kann z. B. die Suche in PubMed die Diagnostik schwieriger und komplexer „Fälle“ sehr unterstützen, gleichzeitig aber auch „auf Knopfdruck“ neueste Therapieoptionen und -ergebnisse in komprimierter Form verfügbar machen. Insbesondere bei der Suche nach den „Seltenen Erkrankungen“ (von denen es etwa 8000 gibt) sind u. a. die Datenbanken Orphanet und OMIM hilfreich. Der Umgang mit diesen Datenbanken erfordert allerdings ausreichende Englischkenntnisse und etwas Übung in der Erstellung von Suchstrategien. Insgesamt bestimmt die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie längst auch den pädiatrischen Alltag. Die Vorbereitung auf ein Gespräch mit Eltern, die Suche nach Bildmaterial, die Berechnung eines BMI(Body-Mass-Index)-Werts, die Abfrage von Normalwerten oder die Übersetzung eines Textes in eine Fremdsprache sind einige Anwendungsbeispiele, die in dem Beitrag angeführt und mit der Angabe von Internet-Links zum „Ausprobieren“ angeboten werden. Viele dieser Anwendungen sind kostenfrei, andere kostenpflichtig. Der Autor beschließt seinen Beitrag mit einem Ausblick dazu, welche zusätzlichen Applikationen zukünftig denkbar sind. Er warnt aber auch davor, Internetquellen unkritisch zu verwenden, das individuelle analytische und differenzialdiagnostische Denken sollte jedenfalls dadurch nicht ersetzt werden.

J. Ehrich et al. haben in einer deutsch-schweizerisch-französischen Gemeinschaftspublikation mit „Wikipädiatrie“ ebenfalls einen neuen Terminus geprägt. Da „wiki“ für „schnell“ steht, meinen die Autoren damit die Möglichkeiten des Internets für die Erhebung, Sammlung, Archivierung und Verarbeitung pädiatrischer (Forschungs‑)Daten. Die Autoren präsentieren eine Liste der im Bereich „e-health“ verwendeten Begriffe; für viele davon gibt es (noch) keine deutsche Entsprechung. Es wird in dieser Arbeit aber auch betont, dass Datensammlung, -verarbeitung und -publikation nicht zum Selbstzweck werden dürfen, sondern immer der Nutzen für die untersuchte Patientengruppe (die Kinder und Jugendlichen) im Vordergrund stehen muss. Als technisches „Tool“ für derartige Erhebungen wird u. a. SurveyMonkey genannt, mit dessen Hilfe z. B. Umfragen unter Kinder- und Jugendärzten leicht möglich sind. Sowohl Art, Zielgruppe, Umfang als auch Inhalt derartiger Umfragen müssen allerdings sorgfältig geplant werden; vor überbordendem Einsatz ohne klare Zielsetzung wird gewarnt. Als „gutes Beispiel“ führen die Autoren das französische Netzwerk Association Clinique et Thérapeutique Infantile du Val de Marne (ACTIV) an, das durch Vernetzung mit anderen Surveillance-Systemen u. a. eine gute Datenbasis für Pneumokokkenerkrankungen bieten kann. Die Autoren betonen die Wichtigkeit der breiten Informationsweitergabe, aber auch der aktiven Teilnahme. Diese sollte nicht nur alle Ebenen der Pädiatrie (von der Primärversorgung bis zur universitären Spitzenmedizin) einbeziehen, sondern ebenso andere Professionen (z. B Mikrobiologen) sowie (nach adäquater Aufbereitung) Kinder, Jugendliche und deren Eltern. Dabei soll nie das eigentliche Ziel der besseren Versorgung aus den Augen verloren werden.

C. Popow et al. aus Wien widmen ihren Beitrag dem „Cybermobbing/Cyberbullying“. Es handelt sich um eine „neue Erkrankung“, die erst durch die Entwicklung der (sog.) sozialen Medien überhaupt möglich wurde. Dabei werden moderne Kommunikationsmedien eingesetzt, um andere zu verletzen, zu demütigen oder einzuschüchtern. Besorgniserregend ist die Angabe, dass etwa ein Viertel aller Jugendlichen von Cyberbullying betroffen ist. Die Autoren beschreiben verschiedene Formen des Cyberbullying und nennen im Zusammenhang damit 5 unterschiedliche Gruppen: Angreifer, Opfer, Angegriffene, die zu Angreifern werden, Unterstützer, schweigende Beobachter. Jungen sind eher Angreifer, Mädchen eher Opfer (insbesondere bei der Verwendung von Fotos und Videoclips). Persönliche (z. B. Schulschwierigkeiten, Übergewicht) und sozial bedingte Risikokonstellationen (z. B. Armut, erlebte Kindesmisshandlung) tragen wesentlich dazu bei, ob und wie Jugendliche von Cyberbullying betroffen sind. Die Symptome sind vielfältig und können sich sowohl als internalisierende (Angststörungen, Depressionen u. a.) als auch externalisierende Störungen (Aggressivität, Kriminalität u. a.) manifestieren. Insbesondere durch Suizidalität kann Cyberbullying auch lebensbedrohend sein. Die Autoren betonen die Bedeutung des Bewusstseins um die Existenz und Häufigkeit des Cyberbullying und fordern eine adäquate Diagnostik und Therapie. Für Letztere existieren durchaus erfolgreiche Programme, die aber bisher mangels Ressourcen nicht ausreichend zur Anwendung kommen. Es wird abschließend festgehalten, dass bezüglich der Prävention durchaus noch Handlungsbedarf besteht.

Im vierten Beitrag berichten M. Lang und S.W. Eber aus Augsburg bzw. München über „Telemedizin in der pädiatrischen Praxis“. In ihrem Beitrag beschreiben sie die Vernetzung von Allgemeinpädiatern und spezialisierten Fachpädiatern durch PädExpert®. Dieses digitale Netzwerk erlaubt dem allgemein tätigen Pädiater eine spezifische Anfrage zu einer bestimmten Thematik wie Asthma oder Bluterkrankungen. Auch Elektrokardiogramme (EKG) können auf diesem Weg übermittelt und „zweitbefundet“ werden. Die Autoren demonstrieren den Nutzen einer derartigen Vernetzung an 2 Beispielen (zystische Fibrose, Vitamin-B12-Mangel). Sie führen aus, dass sich durch ein derartiges System nicht nur die Zeit bis zur Diagnose entscheidend verkürzt, sondern auch Fehldiagnosen vermieden werden und letztlich ein ökonomischer Vorteil daraus resultiert. Als zweite praxisorientierte Anwendung beschreiben die Autoren die App „Mein Kinder- und Jugendarzt“, die in Deutschland bundesweit in etwa 800 Kinder- und Jugendarztpraxen zur Anwendung kommt. Damit werden verschiedene Formen der Kommunikation zwischen Arzt und Patienten bzw. deren Eltern ermöglicht (Terminplanung, Therapie- und Verlaufskontrollen, „push notifications“, Dokumentation von Langzeitverläufen etc.). Schließlich verweisen die Autoren noch auf die Möglichkeit des „virtuellen Hausbesuchs“. Über die App PädHome® kann mit dem behandelnden Arzt dafür ein Termin vereinbart werden, zu dem sich dann Patient/Eltern und Arzt „im Netz treffen“, um z. B. das weitere Vorgehen zu besprechen. Die Autoren sehen in dieser technischen Möglichkeit einen wesentlichen Vorteil zur Steigerung der Patienten-Compliance.

Ich hoffe, dass wir mit dem Themenheft Cyberpädiatrie nicht nur Fragen aufwerfen, sondern auch einige Antworten geben, wie moderne Medien und insbesondere das Internet zum Nutzen der Kinder- und Jugendärzte, v. a. aber auch der Kinder und Jugendlichen als von uns zu versorgende Patientengruppe eingesetzt werden können.

Es ist faktisch unmöglich, sich der rasanten Entwicklung der „Cyberpädiatrie“ zu verschließen. Daher müssen wir uns dieser Herausforderung stellen, das Angebot annehmen und unseren Teil dazu beitragen, dass möglichst viel davon in einem „seriösen Rahmen“ bleibt.

Ergänzungen, Kommentare, Leserbriefe und dergleichen zu diesem Themenheft sind im Sinne der interkollegialen Kommunikation und der fachlichen Diskussion sehr herzlich willkommen.

Viel Spaß bei der Lektüre wünscht

Ihr Reinhold Kerbl