FormalPara Infobox 1 Kommission für Infektionskrankheiten und Impffragen der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ)

Prof. Dr. G.Ch. Korenke (Oldenburg, federführend), Prof. Dr. U. Heininger (Basel, Kommissionssprecher), Prof. Dr. H.-I. Huppertz (Bremen), Dr. M. Kinet (Rendsburg), Dr. Renate Klein (Saarbrücken), Prof. Dr. A. Müller (Bonn)

Impfungen sind heutzutage in der Regel gut verträglich. Viele Impfungen werden im ersten Lebensjahr durchgeführt, also dem Alter, in dem sich – unabhängig von einer vorausgegangenen Impfung – bereits viele neurologische Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters manifestieren. Epilepsien zeigen im ersten Lebensjahr die höchste Inzidenz des Kindes- und Jugendalters [5]. Prä- oder peripartal erworbene infantile Zerebralparesen werden oft erst ab dem 2. Lebenshalbjahr, nach Durchführung der ersten Impfungen, erkannt [17]. Daher besteht häufig ein zeitlicher Zusammenhang zwischen einer Impfung und dem Auftreten neurologischer Symptome. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und einer daraus resultierenden neurologischen Erkrankung ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Eine exakte und zeitnahe Dokumentation ist für eine Abklärung und spätere Bewertung jedoch von großer Bedeutung [12].

Die vorliegende Stellungnahme, die unsere Stellungnahme aus dem Jahr 2005 aktualisiert, geht zunächst auf bekannte neurologische Symptome nach Impfungen und die plausiblen zeitlichen Zusammenhänge ein. Im zweiten Teil werden mögliche Zusammenhänge zwischen neurologischen Symptomen und Impfungen beschrieben. Der dritte Teil führt exemplarisch einige eindeutig widerlegte Zusammenhänge auf. Der abschließende vierte Teil gibt konkrete Handlungsempfehlungen zum praktischen Vorgehen bei Auftreten ungewöhnlicher neurologischer Symptome in zeitlichem Zusammenhang mit Impfungen und macht Vorschläge zur weiteren differenzialdiagnostischen Abklärung.

Bekannte neurologische Symptome nach Impfungen

Neurologische Symptome nach einer Impfung sind sehr viel seltener als im Rahmen der entsprechenden Infektion [16].

Fieberkrämpfe.

Voraussetzung für einen kausalen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten der neurologischen Symptomatik ist ein plausibler zeitlicher Zusammenhang. Fieber tritt nach Impfung mit Totimpfstoffen üblicherweise in den ersten 48 h bzw. nach der Impfung mit Lebendimpfstoffen (z. B. Masern-Mumps-Röteln [MMR], Varizellen) aufgrund der erforderlichen Vermehrung der Impfviren nach 5 bis 14 Tagen auf [22]. Impfungen verursachen keine Epilepsie [28], jedoch muss betont werden, dass im Rahmen von mit Impfungen assoziiertem Fieber bei entsprechender genetischer Disposition Fieberkrämpfe auftreten können. Bei gehäuft auftretenden Fieberkrämpfen sollte an das Vorliegen eines Dravet-Syndroms gedacht werden, dessen Ursache Mutationen im Natriumkanalgen SCN1A sind. Eine retrospektive Analyse von Berkovic et al. [2] konnte nachweisen, dass bei 11 von 14 Patienten mit der Diagnose einer vermeintlichen „chronischen post-vaccinalen epileptischen Enzephalopathie“ die Symptomatik nicht durch die Impfung, sondern durch das Dravet-Syndrom verursacht wurde. Eine Untersuchung von 40 Patienten mit Dravet-Syndrom und nachgewiesener SCN1A-Mutation zeigte keinen Einfluss der Diphtherie-Pertussis-Tetanus(DPT)-Impfung auf den weiteren klinischen Verlauf der Krankheit [14].

Hypoton-hyporesponsive Episoden.

Die kollapsähnlichen Reaktionen bei Säuglingen und Kleinkindern sind durch plötzliches Auftreten einer erniedrigten Muskelspannung (hypoton), reduzierte Ansprechbarkeit und Reaktion auf Reize (hyporesponsiv) sowie bläuliche Hautfärbung oder Blässe charakterisiert. Die mittlere Zeit zwischen Impfung und Auftreten der Symptomatik beträgt 3–4 h (Zeitspanne: wenige Minuten bis 48 h), die Dauer beträgt zwischen 6 und 30 min (bis zu einigen Tagen; [29]). Hypoton-hyporesponsive Episoden (HHE) wurden nach Verabreichung zahlreicher Impfstoffe, am häufigsten nach den früher verwendeten Pertussisganzkeim-Kombinationsimpfstoffen, beschrieben. Langzeitschäden bei den betroffenen Patienten wurden nicht beobachtet; die Ätiologie der HHE ist bisher nicht geklärt.

Vakzineassoziierte paralytische Poliomyelitis.

Das vereinzelte Auftreten vakzineassoziierter paralytischer Poliomyelitis nach oraler Polio-Lebendimpfung führte zum Wechsel hin zum intramuskulär zu verabreichendem Polio-Totimpfstoff und damit zur Eliminierung der vakzineassoziierten paralytischen Poliomyelitis in Deutschland [1].

Mögliche Zusammenhänge zwischen Impfungen und neurologischen Symptomen

Hinweise auf einen kausalen Zusammenhang zwischen einer Impfung und dem nachfolgenden Auftreten einer neurologischen Erkrankung finden sich nur vereinzelt. In Finnland wurde 2010 ein Anstieg der Inzidenz der Narkolepsie bei Kindern und Jugendlichen unter 17 Jahren im Vergleich zu den Vorjahren um das 17-Fache beobachtet und dem pandemischen Influenza-A-H1N1-Impfstoff Pandemrix® zugeschrieben [18]. Ähnliche Beobachtungen wurden in Norwegen [10], Schweden [24], England [15] und Frankreich [6] gemacht. Die Zusammenhänge sind bisher nicht vollständig verstanden [23, 27].

Nicht eindeutig sind die Daten für das Auftreten eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS) nach Influenzaimpfung. Eine US-amerikanische Metaanalyse beschrieb eine signifikante Zunahme der GBS-Inzidenz (Inzidenzfaktor 2,35, 95 %-Konfidenzintervall [95 %-KI] 1,42–4,01) nach monovalenter Influenza-A(H1N1)-Impfung [21]. Im Gegensatz hierzu wurde in einer multinationalen europäischen Studie für die Saison 2009 [20] und in einer US-amerikanischen Studie für die Saison 2012–2013 [11] jeweils keine Assoziation zwischen Influenzaimpfung und Auftreten eines GBS gefunden. Bei englischen Kindern und Jugendlichen bis 16 Jahre fand sich ebenso kein signifikant erhöhtes Risiko für das Auftreten eines GBS im Rahmen der pandemischen Influenza-Impfung 2009 [26].

Zusammenfassend gibt es entsprechend zurzeit keinen gesicherten Anhalt für das Auftreten chronischer neurologischer Erkrankungen infolge von in Deutschland allgemein empfohlenen Impfungen.

Eindeutig widerlegte Zusammenhänge zwischen Impfungen und neurologischen Erkrankungen

Der immer wieder diskutierte Verdacht, Impfungen könnten neurologische Erkrankungen wie Autismus verursachen (MMR-Impfung) oder Optikusneuritis bzw. multiple Sklerose auslösen (Hepatitis-B-Impfung), wurde durch klinische Studien zweifelsfrei widerlegt [7, 8, 13, 25].

Praktisches Vorgehen

Wenn in einem zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen ungewöhnliche, unter den Abschn. „Bekannte neurologische Symptome nach Impfungen“ und „Mögliche Zusammenhänge zwischen Impfungen und neurologischen Symptomen“ nichtgenannte neurologische Symptome auftreten, ist eine umfangreiche Abklärung notwendig, um einen kausalen Zusammenhang auszuschließen bzw. um von der Impfung unabhängige Erkrankungen nachzuweisen. Es ist durch eine ausführliche Anamnese und Diagnostik zu klären, welche Ursache der neurologischen Symptomatik zugrunde liegt, und ob Hinweise auf einen Zusammenhang mit der vorausgegangenen Impfung bestehen könnten. Hierfür sind die exakte und zeitnahe Dokumentation der Impfung und des klinischen Verlaufs sowie die Sicherung von Patientenproben notwendig.

Die Brighton Collaboration (http://www.brightoncollaboration.org) hat für zahlreiche im Zusammenhang mit Impfungen auftretende neurologische Symptome Falldefinitionen sowie Richtlinien zur Datenerhebung und Auswertung erarbeitet, so z. B. für zerebrale Anfälle [3], HHE [4] und Narkolepsie [19].

Treten bei einem Kind oder Jugendlichen nach einer Impfung neurologische Symptome auf, erfolgt die Erstdiagnostik in der Regel durch den impfenden Arzt oder die nächstgelegene Kinderklinik. Essenziell sind eine sehr sorgfältige Anamnese und gründliche Untersuchung des Patienten zum Zeitpunkt des Auftretens der neurologischen Symptomatik und im weiteren Verlauf.

Das im Folgenden beschriebene Vorgehen wird vorgeschlagen (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Vorgehensweise zur differenzialdiagnostischen Abklärung von neurologischen Symptomen bei Kindern und Jugendlichen, die in zeitlichem Zusammenhang mit Impfungen auftreten. cMRT zerebrale Magnetresonanztomographie, EEG Elektroenzephalographie, PCR „polymerase chain reaction“ (Polymerase-Kettenreaktion), ZNS Zentralnervensystem

Anamnese

Von besonderer Bedeutung ist eine exakte und ausführliche Dokumentation der Abläufe und des klinischen Zustands des Patienten in einem präzisen Zeitraster. Die Durchführung der Impfung ist einschließlich Chargen-Nummer des/der verabreichten Impfstoffs/Impfstoffe im Impfausweis zu dokumentieren. Die Anamnese ist insbesondere bezüglich Hinweisen auf neurologische Erkrankungen (z. B. zerebrale Anfälle), Stoffwechselkrankheiten und Hinweise auf gehäufte bzw. ungewöhnliche Infektionskrankheiten beim Patienten und der Familie zu erheben. Hier ist ein Stammbaum über 3 Generationen unter Einschluss totgeborener und verstorbener Familienmitglieder zu erstellen.

Untersuchung

Es ist eine ausführliche körperliche Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des neurologischen Status durchzuführen. Lassen sich bei der Untersuchung neurologische Symptome nachweisen, die in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung auftraten, sollte der Untersucher eine weiterführende Untersuchung durch einen Neuropädiater veranlassen.

Labordiagnostik

Für weiterführende Laboruntersuchungen (Tab. 1) sollten Blut, Urin, Stuhl und respiratorische Sekrete z. B. für virologische und metabolische Diagnostik asserviert und untersucht werden. Liquoruntersuchungen zum Nachweis entzündlicher und metabolischer Erkrankungen sollten großzügig durchgeführt werden. Die Liquordiagnostik sollte umfassen: Untersuchung von Zellzahl mit Differenzierung, Gesamteiweiß, Liquorzucker-Blutzucker-Quotient, Laktat, intrathekale Immunglobulinsynthese mit gleichzeitiger Serumbestimmung und Bezug auf die Schrankenfunkton (Reiber-Schema; www.horeiber/pdf/2.pdf), oligoklonales Immunoglobulin(Ig)G, bakteriologische Kulturen und virale Polymerase-Kettenreaktion(PCR)-Diagnostik, ggf. Autoantikörper (z. B. N‑Methyl-D-Aspartat[NMDA]-Rezeptor-Antikörper). Bei febrilen zerebralen Anfällen, auch im Säuglings- und Kleinkindalter, muss an das Vorliegen von Virusenzephalitiden gedacht werden. Zum Beispiel können Infektionen mit Parechoviren keine oder nur eine geringgradige Liquorpleozytose aufweisen und sind nur durch einen PCR-Nachweis in Liquor und/oder Stuhl/respiratorischen Sekreten zu diagnostizieren [9].

Nach Impfungen mit Lebendimpfstoffen sollte zusätzlich eine erregerspezifische Untersuchung des Liquors zur Unterscheidung zwischen Impf- und Wildtypvirus in Absprache mit dem jeweiligen nationalen Referenzzentrum des Robert Koch-Instituts (http://www.rki.de) veranlasst werden.

Besteht der klinische Verdacht auf das Vorliegen einer Stoffwechselerkrankung sollten bereits bei der Erstuntersuchung des Patienten Serum, Ethylendiamintetraessigsäure(EDTA)-Plasma, Trockenblutkarte, Urin und ggf. Liquor zur Stoffwechseldiagnostik gewonnen werden, da z. B. Organoacidurien und Fettsäureoxidationsstörungen am besten zum Zeitpunkt der klinischen Symptomatik nachweisbar sind. Intervalluntersuchungen können unauffällig sein.

Bei einer in zeitlichem Zusammenhang mit Impfungen auftretenden neurologischen Symptomatik sind Serum-, EDTA-Plasma-, Liquor- und Urinproben für evtl. spätere Untersuchungen bei −20 °C zu asservieren.

Apparative Diagnostik

Bei allen Patienten mit Bewusstseinsstörung ist die Ableitung eines EEG mit der Frage nach Hinweisen auf Enzephalitis, einen bioelektrischen Status oder postkonvulsive Veränderungen indiziert. In Abhängigkeit von der klinischen Symptomatik ist eine zerebrale bildgebende Untersuchung (Sonographie, MRT mit Diffusionswichtungen und Angiosequenz) durchzuführen. Bei V. a. eine Neuritis oder eine neuromuskuläre Erkrankung ist die Nervenleitgeschwindigkeit zu bestimmen.

Weiterführende Diagnostik

Bei persistierenden neurologischen Symptomen sollte eine erweiterte neuropädiatrische Abklärung durchgeführt werden. Bei Verdacht auf Störungen des auditiven, visuellen oder zentralen somatosensiblen Systems sollten evozierte Potenziale abgeleitet werden. Auch weiterführende molekulargenetische Untersuchungen sowie die Durchführung von Gewebsbiospien (z. B. Haut, Muskel, Leber) können notwendig sein. Mögliche Differenzialdiagnosen zugrunde liegender neurologischer Erkrankungen und die zur Abklärung durchzuführende Diagnostik fasst Tab. 1 zusammen. Eine exakte Diagnose ist die Voraussetzung für eine gezielte Behandlung und Prognosestellung.

Tab. 1 Auswahl sich in zeitlichem Zusammenhang mit Impfungen möglicherweise manifestierender neurologischer Erkrankungen und der durchzuführenden Diagnostik

Meldepflicht

Unabhängig vom Verdacht eines „Impfschadens“ müssen unerwünschte Arzneimittelwirkungen (einschließlich Impfstoffen) in Deutschland der Zulassungsbehörde (Paul-Ehrlich-Institut) direkt oder über das örtliche Gesundheitsamt und der Arzneimittelkommission der Ärzteschaft gemeldet werden. Für Impfungen regelt dies das Infektionsschutzgesetz, § 6: „der Verdacht einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung“ ist namentlich zu melden.

Meldebogen werden regelmäßig in Deutsches Ärzteblatt veröffentlicht bzw. sind im Internet abrufbar und können dort auch direkt online ausgefüllt werden (http://www.pei.de/DE/infos/fachkreise/meldeformulare-fach/meldeformulare-fach-inhalt.html bzw. www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/UAW-Meldung/index.html).