Für manche der älteren deutschen Pädiater mag die Entfernung des Namens Georg Bessau aus der Herausgeberseite der Monatsschrift Kinderheilkunde Footnote 1überraschend gekommen sein. Zu hell strahlte sein Name über viele Jahrzehnte. Seine feinsinnige Art und die Tatsache, dass er zu den wenigen Ordinarien der Kinderheilkunde in Deutschland gehörte, die nicht der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) angehörten, trugen dazu bei, ihn vielfach in ehrenvoller Erinnerung zu behalten. Die nachfolgenden Zitate zeigen jedoch in chronologischer Reihenfolge, wie sich unser Bild allmählich gewandelt hat, bis hin zu der oben genannten bitteren, aber notwendigen Entscheidung.

Prof. B. (1932)

„Als Nachfolger von Geheimrat Czerny übernimmt Prof. Bessau, bisher an der Universität Leipzig, die Leitung der Kinderklinik in der Charité. Die gestrige Antrittsvorlesung … vermittelte die Bekanntschaft mit einem hervorragenden Forscher, einer feingeistigen Persönlichkeit und einem warmherzigen Freunde der Kinderwelt... Mit bewegten Worten gedachte er seiner großen Vorgänger Henoch, Heubner und Czerny.“Footnote 2

Prof. Dr. med. Werner Catel (1944)

“… Die Forschungen Bessaus fanden im In- und Ausland viel ehrenvolle Anerkennung; keine erfreute ihn mehr als die vor Kurzem erfolgte Ernennung zum Ehrenmitglied des Robert Koch-Instituts … Möchte der Jubilar noch ungezählte Jahre in Gesundheit und mit derselben jugendlichen Frische am Werk sein, um neue Pläne zu verwirklichen und die reiche Ernte seines Lebenswerkes einzubringen.“Footnote 3

Prof. Dr. med. Hans Kleinschmidt (1948)

“… Bessau hat gezeigt, dass unser Fach voll interessanter Probleme steckt, und mehr noch, dass ihre Bearbeitung eine dringende Notwendigkeit ist. Es war nicht nur Erkenntnisdrang, der ihn immer wieder antrieb. Letzten Endes war es der Helferwille, der ihn beseelte … Verständlicherweise wurde er hier vielfach vor die schwierigsten Aufgaben gestellt, nicht selten handelte es sich um unheilbare Krankheiten. Es ist ihm offensichtlich ungeheuer schwer geworden, sich dieses Nichthelfenkönnen einzugestehen …“ Footnote 4

Prof. Dr. med. Friedrich Linneweh (1948)

„Wer das Glück hatte, sein Wirken und Denken zu erleben, war immer von seinem unermüdlichen Streben um die Fortschritte der Kinderheilkunde beeindruckt … Zu den Grundpfeilern seiner Arbeitsweise gehörten kausales Denken, schärfste Beobachtung sowohl am Krankenbett wie im Laboratorium und strenge Kritik der gewonnenen Ergebnisse …

Meilensteine seines fruchtbaren Wirkens sind die Tuberkulinstudien, die Coliendotoxinlehre der Intoxikation, die Lehre vom Schleimhautkatarrh, die Reisschleimbehandlung, die bifidusfördernde Nahrung und die Plasmatherapie.“Footnote 5

Dr. med. Renate Bessau (Tochter von G. Bessau, ca. 1974)

„Seine seelische Zartheit kannte wohl nur seine engste Umgebung, da er Güte und Mitleid manchmal hinter einer gewissen Strenge verbarg. Not und Kummer bei seinen Mitmenschen waren ihm unerträglich. Es gab daher keine Tages- oder Nachtzeit, zu der er nicht zu persönlichem Einsatz und Hilfe bereit gewesen wäre – insbesondere natürlich, wenn es sich um kranke Kinder handelte.“Footnote 6

Prof. Dr. med. Leonore Ballowitz (1989)

“… Zum Schluss sei noch Bessaus Kolleg erwähnt. Linneweh schrieb von seiner meisterhaften Beherrschung der Sprache und von Klarheit und Folgerichtigkeit seiner Gedanken. Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass es „didaktisch zu den besten Berlins gehörte“. Bessau wirkte während seiner Vorlesungen äußerst konzentriert … Besonders angesprochen hat es uns Studenten, dass er auch Gedanken zu seinen gerade anstehenden Forschungsvorhaben vermittelte, vor allem, wenn es um Fragen der Therapie ging, wie sie seinerzeit durch die Entdeckung der Sulfonamide aktuell waren.“Footnote 7

Dr. med. Thomas Lennert (1994)

„Alle, die mit ihm gearbeitet haben, bestätigen seine menschliche Gesinnung. Er ist nicht Mitglied der NSDAP, seine vornehme Art verbietet ihm antisemitische Ausfälle, wie sie etwa von Hofmeier und Catel bekannt sind. Und doch unterliegt er dem Zeitgeist auf eine den heutigen Betrachter erschreckende Art. 1935 wird er zum Vorsitzenden der wiedergegründeten Berliner Gesellschaft für Kinderheilkunde gewählt. In seiner Eröffnungsrede sagt er: ‚Nicht anknüpfend an das Alte, sondern in Würdigung der unbestrittenen Verdienste der vergangenen Zeit will die junge Gesellschaft ihre Arbeit aufnehmen, in deren Mittelpunkt das Kind steht. In der Systemzeit ist viel für das Kind getan worden, aber am Wesentlichen des Problems ging man vorbei, da man aus humanitären Gesichtspunkten für die Schwächeren sorgte. Erst der neue Staat hat uns die wesentlichen Richtlinien gegeben, indem die Hauptsorge sich dem gesunden Nachwuchs zuwandte.‘“Footnote 8

Dr. med. Thomas Lennert (1994)

„Auf einer Sitzung der Berliner Gesellschaft für Kinderheilkunde 1936 spricht sich Bessau dagegen aus, die angeborene Hüftluxation zum Anlass für eine Sterilisierung zu nehmen. Im gleichen Jahr aber versteigt er sich in einer Diskussion auf dem Kinderärztekongress in Würzburg, in der die sinkende Stillfreudigkeit der deutschen Frau beklagt wird, zu der kühnen These, so wie bei Versuchstieren allein die Einengung des Lebensraumes eine Verminderung der Fortpflanzungsfunktion bewirke, könne doch auch die Einengung des Lebensraumes des deutschen Volkes vielleicht den Rückgang des Stillens als einer speziellen Fortpflanzungsfunktion erklären.

In den vierziger Jahren gibt es eindeutig Kontakte zwischen Bessau und der „Kinderfachabteilung“ Berlin-Wiesengrund. So werden experimentelle Tuberkuloseimpfungen auf Veranlassung Bessaus an schwer zerebral geschädigten „Reichsausschusskindern“ vorgenommen. Die Untersuchungen waren belastend, führten aber nicht zum Tode der Kinder. Insofern dürften diese Vorgänge in der damaligen Pädiatrie allgemein akzeptiert worden sein.“Footnote 9

Dr. med. Andreas Reuland (2004)

„Georg Bessau war [1928] der Ansicht, dass sich das Calmette-Verfahren [der Tuberkuloseimpfung] noch im Versuchstadium befände.

‚Unser Verantwortungsgefühl könnte uns gegenwärtig nur tastende Versuche an Kindern gestatten, selbstverständlich nach Aufklärung der Eltern und mit ihrer Einwilligung. Infrage kämen zunächst von ernster Tuberkulosegefahr bedrohte Neugeborene.‘“Footnote 10

PD Dr. phil. Thomas Beddies (2008)

„Am 26. Mai 1939 wandte sich Bessau an die Charité-Direktion: ‚Es besteht das Gerücht, dass Henoch, dessen Büste vor unserer Klinik aufgestellt ist, nicht arisch gewesen ist. Etwas Genaues weiß ich nicht. Ich glaube, dass es gut wäre, wenn Sie offiziell durch das Rasseamt prüfen lassen, ob Henoch Jude gewesen ist. Unter diesen Umständen werden wir das Denkmal entfernen müssen.‘

Es ist festzustellen, dass die Forschungen Georg Bessaus zur Entwicklung einer gefahrlosen Tuberkuloseschutzimpfung aus abgetöteten Tuberkeln wissenschaftliche Relevanz besaßen und dass zu diesem Thema auch international breit geforscht wurde … Der entscheidende Punkt ist der Übergang von Tierversuchen zu Versuchen mit Kindern, die – als ‚lebensunwert‘ abqualifiziert – für die Experimente in Anspruch genommen wurden, und zwar ohne dass hierüber mit den Angehörigen ein Einverständnis hergestellt oder auch nur über Charakter und Risiko der Versuche informiert worden wäre …

Eine erste Gruppe von zehn Probanden [neun 10- bis 14-jährige Knaben und ein 3-jähriges Mädchen] … wurde im Juni und Juli 1942 in den Unterbauch oder Oberschenkel geimpft, 5 Kinder erneut am 10.09.1942. In der Folge traten schmerzhafte, schwer heilende Abszesse auf. Zwei Jungen starben im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung in der Nervenklinik. Die anderen Kinder wurden in Heime der Umgebung zurück- und häufig mehrfach weiterverlegt, bis sich ihre Spur verliert. Eine zweite Gruppe von 10 jüngeren Kindern wurde in der Zeit von November 1942 bis April 1943 geimpft. Diese Kinder waren mit einer Ausnahme erst 3 bis 4 Jahre alt … Sieben der Kinder starben in der Nervenklinik in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit den Impfungen … Bei dem schwerbehinderten Dieter Z. entwickelte sich infolge der Impfung eine enorme Eiteransammlung, an der [er] in den Monaten zwischen der Impfung und seinem Tod am 16.08.1943 fürchterlich gelitten haben muss. Bei dem knapp 80 cm großen und weniger als 8 kg schweren Kind wurde bei der Obduktion ein „röhrenförmiger Abszess des linken Oberschenkels“ festgestellt: ‚vom Kniegelenk bis in die Leistenbeuge reichend, mit stärkeren Granulationen des im Abszess freiliegenden Periostes; stärkste Auftreibung des 2500 ccm Eiter fassenden Abszesses.‘ …

Auffällig ist die hohe Zahl von Todesopfern in der 2. Versuchsreihe, der 8 von 10 Kindern zum Opfer fielen … Alle Kinder waren vom Reichsausschuss als nichtbildungs- und entwicklungsfähig begutachtet und als ‚lebensunwertes Leben‘ für die Versuche freigegeben worden.“Footnote 11

PD Dr. phil. Götz Aly (2013)

“[Bessau] meldete 1943 den schwerbehinderten, gut 2-jährigen Jungen Jürgen Plith mit ausgefülltem Fragebogen an das Gesundheitsamt Neukölln mit dem Fazit: ‚Ich halte Überführung in eine Anstalt für dringend erwünscht.‘ Die Sachbearbeiter verstanden Bessaus Brief so, wie er gemeint war, und notierten an den Rand ‚Reichsausschuss? Görden?‘ Doch sträubten sich die Eltern … Die Fürsorgerin des Bezirksamts versuchte, die Eltern zu überreden, ihr schwerbehindertes Kind nach Brandenburg-Görden einzuweisen. Dagegen riet die Kinderärztin Marie-Therese Lassen dringend von einem solchen Schritt ab – ‚aus christlichen Motiven’. Jürgen Plith starb 1952 auf natürliche Weise.“Footnote 12

Kommentar

Aus Bessaus Schriften und Vorträgen gewinnt man den Eindruck, dass er, auch wenn er nicht NSDAP-Mitglied wurde, allmählich dem Zeitgeist unterlag, so in seiner abstrusen These zur Fruchtbarkeit eines „Volkes ohne Raum“ und bei seiner Bevorzugung des gesunden Kindes gegenüber dem früher im Vordergrund der Pädiatrie stehenden kranken Kind. Die ehrfürchtige Erwähnung von Eduard Henoch in seiner Antrittsrede ließ aber nicht gerade auf antisemitische Tendenzen schließen. Die positiven Urteile seiner Zeitgenossen Catel, Kleinschmidt und Linneweh über Bessau muss man allerdings vor dem Hintergrund sehen, dass die Genannten zum Täterkreis der NS-Medizin zählten: Catel als Verantwortlicher für die „Kindereuthanasie“, Kleinschmidt als Verantwortlicher für die Fortsetzung der Tuberkuloseimpfungen nach Bessaus Tod und schon Ende 1933 als Herausgeber einer Denkschrift zur nationalsozialistischen GesundheitserziehungFootnote 13, und Linneweh, der nach eigenen Angaben von Bessau überwiegend zur Betreuung der Hitlerjugend eingesetzt worden war Footnote 14.

Im Jahr 1994 war noch der Stand des Wissens, dass Bessau zwar Tuberkulinexperimente an „Reichsausschusskindern“ ohne Einwilligung der Eltern vorgenommen hatte, diese aber keine tödlichen Folgen hatten. Insofern entsprachen sie der damals in der Pädiatrie auch vor 1933 verbreiteten laxen ethischen Einstellung.

Erst die sorgfältigen Recherchen von Thomas Beddies erbrachten dann die hohe Zahl an Todesopfern. Dass Bessaus Einstellung dazu durch das Dritte Reich verändert wurde, zeigt auch die Tatsache, dass er noch 1928 für eine mögliche Calmette-Impfung die Einwilligung der Eltern für selbstverständlich hielt.

Ohne Aufforderung oder Druck von oben ließ Bessau 1939 die Büste des vorher so verehrten Eduard Henoch vor der Kinderklinik entfernen. Damit hatte dieser als so feinsinnig, sensibel und gebildet beschriebene Mann sich endgültig dem Regime angedient.

Seine Verdienste als langjähriger Herausgeber der Monatsschrift Kinderheilkunde werden bleiben. Seine wachsende Verstrickung aber in die nationalsozialistische Gesundheitspolitik bis hin zu der Durchführung von Experimenten, die den Tod von behinderten Kindern bewusst in Kauf nahmen, gehört zu den Tatsachen, vor denen wir Nachwachsenden zu lange die Augen verschlossen haben.

Dr. med. Thomas Lennert

Ehemals Oberarzt an der Kinderklinik der FU (KAVH), Mitglied der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ).