Erstmals im Februar des vergangenen Jahres stellten wir Ihnen Erkenntnisse aus der Versorgungsforschung als Leitthema einer Ausgabe der Monatsschrift Kinderheilkunde vor. Mit diesem Ansatz wollen wir einem Forschungssektor, dessen Bedeutung für die Einführung medizinischer Innovationen und moderner Versorgungskonzepte in den Praxisalltag unbestritten ist, mehr Gewicht verleihen und auch ein deutlich wahrnehmbares Signal für mehr öffentliche Förderung setzen.

In meiner Einführung zum ersten Themenheft dieser Reihe führte ich aus:

„Bei Versorgungsforschung geht es aber um die Frage, was tatsächlich beim Patienten ankommt …“,

ein Sachverhalt, dessen Bedeutung für unsere kinderärztliche Tätigkeit mit jedem Tag wächst. Wann immer wir heute von evidenzbasierter Medizin sprechen, meinen wir in der Regel kontrollierte klinische Studien, idealerweise mit einem randomisiert-kontrollierten (RCT) Ansatz. Dabei müssen Untersuchungspopulationen und Rahmenbedingungen der Studie möglichst exakt definiert, über den Beobachtungszeitraum stabil gestaltet und Störgrößen eliminiert werden, um die zu Studienbeginn formulierte/n Fragestellung/en bestmöglich beantworten zu können. Wenn alles gelingt, können wir aus solchen Studien tatsächlich neue Erkenntnisse für unser Handeln ableiten. Dies bedeutet allerdings nicht selbstverständlich, dass wir jedes Studienergebnis am Patienten im Praxisalltag eins zu eins nachvollziehen können. Das hat einen einfachen, aber für die Interpretation der Ergebnisse kontrollierter Studien maßgeblichen Grund: Das wirkliche Leben folgt nicht immer den Ein- und Ausschlusskriterien einer klinischen Studie. So kann das Kleinkind eben doch 3 Tage vor unserer geplanten Intervention einen hochfieberhaften Infekt durchlebt, eine Impfung oder ein Antibiotikum erhalten oder Kontakt mit einem anderen erkrankten Kind gehabt haben. Viele Umstände, die kontrollierte Studien ausschließen, gehören einfach zu den Unabwägbarkeiten des normalen Lebens. Entscheidend für unser Handeln ist es aber, ob die Erkenntnisse aus einer kontrollierten Studie im klinischen Alltag bestehen. Genau an dieser Stelle greift das Konzept der Versorgungsforschung.

Versorgungsforschung prüft, ob mit medizinischen Interventionen in einer normalen Lebenssituation tatsächlich das aufgrund der kontrollierten Studie erwartete Ergebnis erreicht werden kann. Mehr noch: Versorgungsforschung erlaubt es auch zu überprüfen, ob gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Struktur unseres Gesundheitssystems, Finanzierungssysteme oder staatliche Surveillancesysteme u.v.m. geeignet sind, unsere Erwartungen an die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Gesundheitserhaltung, -wiederherstellung und -vorsorge zu erfüllen. Das Kernelement der Versorgungsforschung ist also letztlich die Untersuchung unter Alltagsbedingungen. Es ist hohe Zeit, dass Ärzte/-innen, aber auch die etablierte medizinische Forschung und besonders die Forschungsförderinstitutionen in unserem Land sich dieser für unsere Patienten entscheidenden Fragestellung zuwenden, nämlich, was tatsächlich beim Patienten ankommt.

In der Ihnen vorliegenden Ausgabe der Monatsschrift Kinderheilkunde präsentieren wir unter dieser Perspektive vier, wie wir denken, für die pädiatrische Grundversorgung relevante Themen.

Kinder mit schweren chronischen Erkrankungen, wie angeborenen Herzfehlern, sollen in ihrer Lebensumwelt bestmöglich integriert werden. Dazu gehört auch die Teilhabe an alterstypischen Aktivitäten wie beispielsweise Sport in Schule oder Freizeit. Die hohe Bedeutung von Sport für die psychosoziale Entwicklung von Kindern ist gut belegt. Trotzdem gestaltet sich die Teilnahme von Kindern mit angeborenen Herzfehlern oft schwierig, nicht zuletzt weil Umfeld und Betreuungspersonen die individuelle Belastbarkeit schlecht einschätzen können. In dem Beitrag Sporttauglichkeit bei Kindern mit angeborenen Herzfehlern beschreiben Schickendantz et al. die aktuelle Situation und geben praktische Hinweise für die begleitende kinderärztliche Betreuung dieser Patientengruppe. Der Beitrag enthält zudem wichtige Hinweise zu Hilfsangeboten der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie.

Offene Fragen bestehen auch noch in hochstandardisierten Versorgungssegmenten

Obwohl die Langzeitbetreuung von Kindern mit Diabetes mellitus Typ 1 heute durch gut etablierte Therapieleitlinien und umfassende qualitätssichernde Maßnahmen einen hohen Standard erreicht hat, sind Vorgehen und Konzepte bei Diabeteserstmanifestation in den einzelnen pädiatrisch-diabetologischen Zentren heterogen und folgen häufig hausinternen Richtlinien. Tatsächlich existieren hierzu weder national noch international verbindliche Leitlinien, sofern bei Manifestation nicht eine Ketoazidose vorliegt. Steul et al. berichten in ihrem Beitrag über die Ergebnisse einer Erhebung zu dem bevorzugten Vorgehen bei Therapiebeginn. Insgesamt wurden 212 Diabeteszentren adressiert, von denen letztlich 45 auswertbar zu der Erhebung beitrugen. Die Untersuchung illustriert, dass auch in einem hochstandardisierten Versorgungssegment wie der pädiatrischen Diabetestherapie durchaus offene Fragen bestehen, die mit den Werkzeugen der Versorgungsforschung evaluiert werden können.

Der 3. Beitrag von Wild befasst sich mit der Bewertung der Impfpraxis bezüglich HPV-Impfstoffen (HPV: humanes Papillomavirus) in den Jahren 2006–2011 anhand von Arzneiverordnungsdaten der privaten Krankenversicherung (PKV). Die Darstellung zeigt, dass im untersuchten Versorgungssektor (PKV) im Zeitraum von 2007–2010 die HPV-Impfraten dramatisch einbrachen. Erstmals im Jahr 2011 ist wieder ein leichter Anstieg der Durchimpfungsrate feststellbar. Diese Untersuchung ist ein gutes Beispiel dafür, dass es mit den Mitteln der Versorgungsforschung möglich wird, auch äußere, gesellschaftliche Einflüsse, wie die öffentliche Kontroverse um die HPV-Impfung, auf Gesundheitsversorgungsleistungen zu analysieren.

Die Bedeutung von zunehmenden Infektionsrisiken durch multiresistente Keime und durch nosokomiale Übertragung von Infektionserregern ist in der stationären Versorgung von Patienten allgegenwärtig. In zunehmender Frequenz werden die daraus resultierenden Probleme für die Organisation eines Krankenhauses auch in der Laienpresse diskutiert. Es liegt in der Verantwortung öffentlicher Gesundheitsbehörden, diese Risiken durch entsprechende Empfehlungen und Vorgaben zu begleiten, mit dem Ziel, die Gefährdungen für Patienten zu minimieren. Nicht selten stößt die Umsetzung solcher Empfehlungen und Verordnungen im Krankenhaus allerdings an strukturelle und personelle Grenzen. Härtel untersuchte anhand einer fragebogengestützten Erhebung in 47 Perinatalzentren die Umsetzbarkeit der von der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention am Robert Koch-Institut entwickelten Empfehlungen zur Prävention nosokomialer Infektionen bei neonatologischen Intensivpflegepatienten mit einem Geburtsgewicht <1500 g. Der Autor zeigt, dass die Empfehlungen zum patientenbezogenen mikrobiologischen Monitoring in nahezu allen Behandlungszentren realisiert werden. Die Auswertung unterstreicht aber auch, dass theoretisch erforderliche, durchaus wünschenswerte Vorgaben immer wieder aufgrund baulicher Voraussetzungen und personeller Ausstattung nur teilweise umgesetzt werden können. Untersuchungen wie diese sind hilfreich, um in der gesundheitspolitischen Diskussion eben nicht nur Forderungen nach Qualitätsverbesserungen zu beraten, sondern auch den Blick für eine hinreichende Finanzierung von Versorgungsstrukturen zu schärfen.

Verehrte Leserinnen und Leser, ich würde mich freuen, wenn es uns mit dem vorliegenden Themenheft auch in diesem Jahr gelingt, Ihr Interesse für das wichtige Feld der Versorgungsforschung zu sensibilisieren. Besonders aber würde ich mich über Rückmeldungen zu unserem Konzept freuen – welche Themen der Versorgungsforschung interessieren Sie besonders, wo und wie können/sollen wir die Darstellung des Themas verbessern und weiterentwickeln?

Prof. Dr. F. Zepp