Die klassische Trias Proteinurie, Ödeme und Nierenkrankheit, die in der Medizin der Neuzeit als nephrotisches Syndrom bezeichnet wird, wurde 1830 erstmals vom Engländer Richard Bright beschrieben. Mehr als 100 Jahre vorher, nämlich 1722, hatte der Basler Kinderarzt Theodor Zwinger bereits die klinische Beschreibung des nephrotischen Syndroms detailliert in seinem in Latein geschriebenen Buch „Paedojatreja practica“ aufgenommen und auch die Krankheit den Nieren als ursächlichem Organ zugeschrieben. Leider hatte er den Urin dieser Kinder nicht untersucht, sonst wäre allein ihm der Ruhm der Erstbeschreibung zugefallen. Aber wir haben ihm die Schöpfung des Begriffs „Pädiatrie“ zu verdanken. Im Verlauf der letzten 300 Jahre, insbesondere in den letzten 50 Jahren, haben sich die Kenntnisse über das nephrotische Syndrom rasant erweitert und uns mit einer Vielzahl von verschiedenen Ursachen konfrontiert. Insbesondere die Molekularbiologie war in der Lage, uns in der Ätiologie des nephrotischen Syndroms weiterzuhelfen. Sie hat uns teilweise überraschende Wendungen im Verständnis desselben beschert. Die Vielfalt der derzeitigen Kenntnisse des nephrotischen Syndroms einmal zusammenfassend darzustellen, soll die Aufgabe dieses Leitthemas sein.

Seit der Entdeckung des Gens für das glomeruläre Protein Podocin (NPHS2) und seiner autosomal-rezessiven Mutation im Jahre 2000 durch Boute et al. konnte eine neue Ära im Verständnis des nephrotischen Syndroms eingeläutet werden. Daraus erwuchs nicht nur die Erkenntnis, dass Patienten mit dieser Mutation auf Steroide nicht reagieren, sondern auch die, dass sie nach Nierentransplantation eine geringere Rekurrenzrate des nephrotischen Syndroms aufweisen. Diese und alle anderen molekularbiologischen Befunde beim nephrotischen Syndrom werden von S.F. Heringa und F. Hildebrandt vom Department of Pediatrics and of Human Genetics der University of Michigan, Ann Arbor, ausführlich beschrieben. Sie zeigen auf, dass bei einem Drittel der Kinder und Jugendlichen mit steroidresistentem nephrotischem Syndrom Mutationen in wenigen rezessiven Genen [NPHS1 (Nephrin), NPHS2, LAMB2 (Laminin β2), PLCE1 (Phospholipase C, ε1)] ursächlich verantwortlich sind. Damit kann eine prognostische Aussage über den zeitlichen Verlauf der Erkrankung sowie auch das Ansprechen der Therapie gemacht werden.

Mit Entdeckung von NPHS2 begann eine neue Ära im Verständnis des nephrotischen Syndroms

I. Franke vom Zentrum für Kinderheilkunde des Universitätsklinikums Bonn geht auf die häufigste Form des idiopathischen nephrotischen Syndroms (INS) ein: das steroidsensible nephrotische Syndrom (SSNS). 85% der Patienten mit INS sind primär sensibel auf Steroide. Jedoch erleiden 80% dieser Betroffenen ein oder mehrere Rezidive, sodass sich eine Steroidabhängigkeit entwickelt. Für diese Fälle gibt der Autor detaillierte und übersichtliche Therapieschemata im Sinne eines Stufenschemas mit alternativen Standardmedikamenten zu den Steroiden an, z. B. Levamisol, Cyclophosphamid, Ciclosporin und Mycophenolatmofetil.

Sehr viel schwieriger ist die Situation beim steroidresistenten nephrotischen Syndrom (SRNS). J.H.H. Ehrich , M. Schiffer und L. Pape von der Medizinischen Hochschule Hannover fassen den derzeitigen Kenntnisstand zu seiner Therapie zusammen. Nach anfänglicher Steroidstandardtherapie eines nephrotischen Syndroms muss die Steroidresistenz geklärt werden. Liegt ein SRNS vor, muss eine Nierenbiopsie den pathohistologischen Typ klären. Zusätzlich müssen molekulargenetische, immunologische, infektiologische, metabolische und hämatologische Untersuchungen durchgeführt werden. Erst dann kann eine Therapieentscheidung gefällt werden.

Welche Möglichkeiten haben wir, wenn alle oben beschriebenen Therapiemöglichkeiten nicht wirksam sind? Dann bleiben nur noch die Biologika als Alternative. J. Dötsch von der Kinder- und Jugendklinik des Universitätsklinikum Erlangen, D.E. Müller-Wiefel und M.J. Kemper vom Universitätsklinikum Hamburg gehen auf die derzeit verfügbaren Biologika beim SRNS ausführlich ein. Viel versprechende Ergebnisse zeigte der Anti-CD20-Antikörper Rituximab. Da es sich um einen nicht vollständig humanisierten Antikörper, ähnlich wie beim Infliximab, handelt, sind die Nebenwirkungen allergischer Art. An der klinischen Erprobung humanisierter Antikörper wie Ofatumumab oder Ocrelizumab, die bereits in der Rheumatologie eingesetzt werden, wird intensiv gearbeitet. Auch könnte der Einsatz von Anti-CD22-Antikörpern (Epratuzumab) wirksam sein, weil die Gefahr für opportunistische Infektionen geringer ist. Zwar bleiben noch viele Fragen offen, aber in Zukunft könnten diese Therapeutika eine echte Option darstellen.

Humanisierte Antikörper könnten künftig eine echte Therapieoption darstellen

Der flämische Arzt Cornelius Roelans aus Mechlen hatte 1484 in seinem Buch „Liber de aegritutinibus infantium“ bereits das klinische Bild des schweren Ödems beschrieben, jedoch die Nieren als Ursache nicht erkannt. Er hatte bereits eine Therapie angegeben, die folgendermaßen lautete.

„Das Kind könnte geheilt werden durch dieses Mittel: nimm die Spitzen von Holunder und Zwergholunder. Koche beides in Weißwein und packe das Kind damit ein in heiße Wickel. Das wird es heilen.“

Unter dem Gesichtspunkt „nihil nocere“ könnte dieses Rezept gut als Placebo bei der Behandlung des nephrotischen Syndroms dienen.

M.J. Lentze